Nazi-Zeit, Geschlecht und Sexualität: Für die Aufnahme psychoanalytischer Perspektiven

Rezension von Heinz-Jürgen Voß

Sebastian Winter:

Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung ‚Das Schwarze Korps‘.

Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie.

Gießen: Psychosozial-Verlag 2013.

441 Seiten, ISBN 978-3-8379-2289-9, € 49,90

Abstract: Sebastian Winter unternimmt in seiner Studie den Versuch, geschichtswissenschaftliche und psychoanalytisch-sozialpsychologische Perspektiven für die Auseinandersetzung mit den Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen der Nazi-Zeit produktiv zusammenzuführen. Dafür gibt er beachtenswerte Anregungen, die weitere Forschungsarbeiten inspirieren sollten. Die ertragreiche Lektüre wird allerdings dadurch erschwert, dass der bisherige geschichtswissenschaftliche Forschungsstand sehr knapp und zuweilen erst spät – noch am Ende des Buches – vorgestellt wird.

Der Bielefelder Sozialpsychologe und Soziologe Sebastian Winter bietet in seiner Publikation Geschlechter- und Sexualitätsentwürfe in der SS-Zeitung Das Schwarze Korps: Eine psychoanalytisch-sozialpsychologische Studie, die zugleich seine verteidigte Dissertationsschrift darstellt, zahlreiche beachtenswerte und gründlich erarbeitete Perspektiven für das Verständnis der Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen im Nationalsozialismus an. Seiner Untersuchung legte der Autor die SS-Zeitschrift Das Schwarze Korps: Zeitung der Schutzstaffeln der NSDAP zu Grunde, die er im zweiten Teil der Untersuchung diskursanalytisch und auf Basis eines weitreichenden geschichtswissenschaftlichen Verständnisses auswertet. Die Auswahl der Quelle folgte der Notwendigkeit der Beschränkung auf eine auswertbare Fülle von Material und orientierte sich an der weiten Verbreitung der Zeitschrift – 1939: 1.080.000 Exemplare (S. 142) – und ihres ‚sinnstiftenden‘ und großen Einflusses in der NS- Zeit: „Das Hausblatt der Elite-, Vorbild- und Terrororganisation SS verstand sich als Leitorgan der nationalsozialistischen Weltanschauungsproduktion, weshalb sich in ihm besonders ausführliche und ausgearbeitete programmatische Positionsbestimmungen finden.“ (S. 26) Vor dem Hintergrund der weitreichenden Bedeutung der Zeitschrift sei es ein Desiderat, dass sich die Geschichtswissenschaft bisher „überraschend wenig“ mit der Zeitschrift beschäftigt habe (S. 142).

Psychoanalytisch orientierte Geschichtswissenschaft

Der sinnstiftende Charakter der Zeitschrift interessiert Winter aber auch auf andere Weise: Er hält eine rein diskursanalytische Betrachtung – etwa von Schriften – für ein Verständnis der Anziehungskraft bzw. Wirkungsmacht von Vorstellungen für unzureichend. Vielmehr müsse auch die Rückkopplung zum Individuum verstanden werden. Auf welche Weise wirkte Das Schwarze Korps sinnstiftend, konnte also an Vorstellungen von Menschen anknüpfen und diese überzeugen? Hier schlägt der Autor eine psychoanalytische Fundierung geschichtswissenschaftlicher Ausarbeitungen vor. Gerade bei den Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen in der NS-Zeit seien nicht nur Inhalte, Positionen oder Theorien bedeutsam, vielmehr entfalteten sie ihre Wirkung über Emotion, Glauben und Fühlen. Auch Das Schwarze Korps musste die Rezipienten ‚ködern‘. Winter verdeutlicht dies mit einem Zitat des Germanisten Mario Zeck: „Es geht um die Mobilisierung und Bestätigung der Rezipienten […], um das Erwecken von Freude und Begeisterung“, es müssten „Hass“, „Dankbarkeit“, „Stolz“, „Trauer“, „Zorn“, „Häme“, „Ekel und Abscheu“ geweckt werden (Zeck, nach: S. 17), damit Menschen sich angesprochen fühlten und Inhalte annehmen würden.

Diese Dynamik reizt Winter, und er stellt im ersten Kapitel ausführlich psychoanalytisch orientierte Theorien vor, die einen Zugang zu dieser Perspektive mit Fokus auf den Hitlerfaschismus ermöglichten – Ansätze von Sigmund Freud, Zygmunt Baumann, Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sowie von Klaus Theweleit und Margarete Mitscherlich. Den Ansätzen gemeinsam sei, dass sie die „psychodynamische Bewältigung sehr basaler Konflikterlebnisse“ von Menschen über die „Kombination der Abwehrmechanismen der Spaltung, der Projektion und der Verschiebung“ (S. 135) erklärten. Das bedeutet, dass die eigene Wahrnehmung eines Menschen, beispielsweise Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen nicht zu entsprechen (nicht entsprechen zu können), aus der Selbstwahrnehmung exkludiert wird. Das eigene ‚Defizit‘ werde in der Nazi-Zeit durch die ‚mehrheitsdeutsche‘ Bevölkerung insbesondere antisemitisch verhandelt – Juden würden wahlweise als „weibisch-lüstern“ oder „patriarchal“ (ebd.) konstruiert. Sie seien für Ambiguität und postulierte gesellschaftliche und individuelle Unzulänglichkeiten verantwortlich gemacht worden.

Kein einfaches Bild der Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen im NS

Die bisher existierenden geschichtswissenschaftlichen Perspektiven auf die Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen der NS-Zeit erwiesen sich für Winter als zu einfach. Weder der Perspektive, den Nationalsozialismus als „Extremform des Patriarchats“ (S. 9 f.), noch derjenigen, ihn als eine „Verwischung der Geschlechtergrenzen“ (ebd.) anzusehen, sei zuzustimmen, vielmehr zeigten sich die Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen bei der Analyse der Zeitschrift als sehr heterogen, gingen Vorstellungen „‚disziplinierter‘ Erotik“ (S. 14) und teilweiser Bejahung sexuellen Vergnügens zusammen, würde gleichzeitig einige sexuelle Vergnügen als problematisch beschrieben und ‚als jüdisch‘ abgelehnt. Schließlich zeigten sich auch Veränderungen im zeitlichen Verlauf der Herausgabe der Zeitschrift. So sei etwa die Berufstätigkeit von Frauen, die kriegsbedingt stieg, keineswegs nur als Zustand während des Krieges beschrieben, sondern auch als darüber hinausgehend anzustrebender Zustand klassifiziert worden. Winter zitiert aus dem Schwarzen Korps: „Der Einsatz der fraulichen Kräfte im Berufsleben wird daher immer mehr gefördert werden müssen, aber selbstverständlich unter Bedingungen, die die Gesundheit der Frau im Hinblick auf die Mutterschaft und Familienaufgaben nicht gefährden“ (nach: S. 207).

Winter arbeitet facettenreich in neun Unterkapiteln heraus, wie sich das im Schwarzen Korps zeigende nationalsozialistische Verständnis von Geschlecht und Sexualität zwar „misogyn-männerbündischer“ und „völkisch-frauenbewegter“ Positionen bediente, sich aber nicht darauf beschränkte, sondern daraus etwas Neues entwickelte. Bereits die Anlage der Zeitschrift, in der in der Regel ausschließlich Männer schrieben, weise auf eine klare Verteilung von gesellschaftlichen Aufgaben zwischen den Geschlechtern in der nationalsozialistischen Ideologie hin (S. 191 ff.). Die Aufgaben der Frauen wurden in ‚Mutterschaft‘, ‚Häuslichkeit‘ und ‚Familienbetreuung‘ gesehen – allerdings konnte diese begrenzte Sphäre auch geöffnet werden, sei etwa Berufstätigkeit thematisiert worden. Jungen und Männer sollten in bündischen Strukturen ‚gestählt‘ werden, gleichwohl sollten diese Männerbünde nicht zu eng werden, um gerade in der Pubertät – aber auch anschließend – nicht die ‚Abkehr der Jungen und Männer von den Mädchen und Frauen‘ zu bewirken. Winter hält fest, dass „im Gegensatz zum Antifeminismus die ‚Misogynie kein wesentlicher Bestandteil der NS-Weltanschauung‘ war“ (S. 250) und auch in der Ehe die Frau nicht „Dienerin des Mannes“ sein sollte. Damit unterstreicht der Autor die seit den 1990er Jahren aufgekommene Perspektive, dass Frauen nicht pauschal als Opfer des NS betrachtet werden könnten, sondern dass sie meist Täterinnen und Nutznießerinnen im NS waren, genau wie die meisten deutschen Männer Täter waren.

Ein ähnlich ambivalentes Verhältnis stellt der Autor auch für den Umgang im NS mit sexuellem Vergnügen und mit Nacktheit heraus. Hier seien von den Autoren des Schwarzen Korps einige Verhaltensweisen protegiert, andere abgelehnt wurden; man habe versucht, sich sowohl gegen vermeintliche ‚bürgerliche Prüderie‘ wie gegen ‚bürgerliche Lüsternheit‘ – oft und abwertender jedoch schrieben die Nazis Jüd-/innen diese Eigenschaft zu – abzugrenzen.

Widersprüche im NS bezüglich Homosexualität

Auch für die Debatten um Homosexualität in der NS-Zeit legt Winter wichtige weitere Materialien vor und belegt, dass Homosexuelle eben nicht vergleichbar zu Jüdinnen und Juden verfolgt wurden, wie es in den 1980er Jahren Teile der Schwulenbewegung im Kampf gegen den in der Bundesrepublik fortbestehenden §175 mit der These des ‚Homocaust‘ – begrifflich als analog zu Holocaust/Shoa – postulierten. Vielmehr arbeitet der Autor schon für die Zeit vor 1933 die teilweise Kollaboration von einigen homosexuellen Männern mit den Nazis heraus und erwähnt selbstverständlich auch, dass die These des ‚schwulen Nazis‘ genauso falsch ist. Er schreibt: „‚Den bizarren Höhepunkt des Kampfes um Anerkennung in [der Schwulen-Zeitschrift, Anm. HV] Der Eigene bildete seine Verurteilung der Weimarer Toleranz – eben jener Toleranz, aufgrund derer die Zeitschrift es zu solch einem Erfolg gebracht hatte. Der Eigene unterstützte die nationalistische Rechte‘ […]. Der Eigene konnte nach 1933 nicht weiter erscheinen. Sein Herausgeber Adolf Brand (1874–1945) war allerdings keinen weiteren Repressionen ausgesetzt“ (S. 219; Zitat im Zitat: Mosse 1985). Brand erlitt als bekennender Homosexueller offenbar in der Nazi-Zeit keine „Repressionen“.

Insofern ist auch hier die Vielschichtigkeit zu beachten: Homosexualität wurde in der Nazi-Zeit zwar als äußerst problematisch angesehen, etwa 50.000 Männer wurden wegen Homosexualität verurteilt, 6.000 wurden in Konzentrationslager verschleppt, zwei Drittel von ihnen wurden dort bestialisch ermordet. Gleichzeitig ist festzustellen, dass in der NS-Zeit das Ziel nicht die grundlegende Ermordung der homosexuellen Männer war, sondern „erzieherische Bemühungen“. Winter zitiert Das Schwarze Korps vom 4.3.1937: „Hält man sie [die homosexuellen Männer, Anm. HV] dann zu systematischer Arbeitsleistung an – was den meisten unter ihnen zum erstenmal in ihrem Dasein widerfährt –, schließt man sie von ‚normalen‘ Menschen unter strenger Bewachung ab, hindert man sie daran, anderen die selbstgefällige Rolle ihres Krankseins vorzuspielen, zwingt man sie, im Mitgenossen stets den Spiegel der eigenen Unmöglichkeit zu sehen, so tritt mit erstaunlicher Pünktlichkeit die Wandlung ein. Der ‚Kranke‘ wird gesund. Der ‚Anomale‘ erweist sich als durchaus normal. Er macht lediglich eine Entwicklungsphase durch, die durchzumachen er in der Jugend versäumt hat. Und übrig bleiben lediglich die zwei Prozent der wirklich Anormalen, die, ebenso wie sie draußen im Leben die Seuchenherde bildeten, nun zu Kristallisationspunkten des Ekels werden, der die Spreu vom immer noch brauchbaren Weizen scheidet“ (nach: S. 223). Als ursächlich für Homosexualität wurden dabei auch ‚Männerbünde‘ und der ‚Männerstaat‘ ausgemacht – der Nazi Heinrich Himmler schrieb in der SS-Zeitschrift: „Ich sehe in der gesamten Bewegung eine zu starke Vermännlichung und in dieser übertriebenen Vermännlichung das Saatbeet für die Homosexualität“ (nach: S. 219). Hingegen mussten für die Begründung der verbleibenden zwei Prozent wiederum Jüd-/innen als ‚Schuldige‘ herhalten und wurde insbesondere Magnus Hirschfeld und sein sexualreformerisches Wirken im Schwarzen Korps diskreditiert.

Beunruhigendes Bild der Geschlechterdifferenz im NS

Winter zeigt umfassend für Das Schwarze Korps, wie die Geschlechter- und Sexualitätsbetrachtungen in ein Gesamtverständnis von ‚Volk‘ und ‚Staat‘ eingebunden waren und wie jede und jeder ‚Mehrheitsdeutsche‘ sich als Teil des Ganzen verstehen sollte. Bezüglich Geschlecht und Sexualität sei die stärkere Betonung von ‚weiblichen‘ und ‚männlichen Geschlechtscharakteren‘ bedeutsam gewesen, bei Auslöschung von ‚Verwischungen‘ bzw. eines ‚Dazwischen‘ (die als jüdisch markiert und diskreditiert wurden), allerdings bei durchaus vollzogener Aktualisierung von Geschlechtervorstellungen (etwa zum oben beschriebenen Berufsleben von Frauen).

In einem abschließenden dritten Kapitel verarbeitet Winter seine gewonnenen Erkenntnisse aus der Analyse der Zeitschrift für eine psychoanalytische Perspektive – hier schlägt er eine partielle Korrektur und Ergänzung der im ersten Kapitel vorgestellten Ansätze vor. Dabei folgt er Barbara Rendtorff in der Einschätzung, dass in den NS-Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen, verwoben mit Antisemitismus, nicht „Misogynie […] in erster Linie zu beobachten“ sei (S. 394), sondern dass vor allem die Geschlechterdifferenz an sich als beunruhigend wahrgenommen wurde. In diesem Sinne zielten die Verfasser des Schwarzen Korps auf die ‚Versöhnung‘ von ‚Männlichkeit‘ und ‚Weiblichkeit‘ im ‚Volk‘, während die Spannungen in Bezug auf Geschlecht und Begehren auf Jüd-/innen projiziert wurden. Grundlegend sei dabei auch ein Verständnis gewesen, dass bestimmte Verbote zu Verlangen und Erotik führten, hingegen ein ‚selbstverständlicher‘ Umgang mit dem jeweils eigenen Körper und ‚selbstverständliche‘ Nacktheit ihnen vorbeugten. Winter zitiert weiter Das Schwarze Korps: „[D]ie geschlechtlichen Vorgänge müssen der moralischen Bewertung entzogen werden und vollkommen unter eugenischer und rassenhygienischer Bewertung verstanden werden“ (nach: S. 402).

Diskussion und Fazit

Sebastian Winter macht es den Lesenden nicht immer ganz leicht. Sind die einzelnen Teile und die Unterkapitel sehr klar, fundiert, nah an den Quellen, so erschwert deren Abfolge, bei der wichtige Grundlagen erst zum Abschluss gelegt werden, die Lektüre des Bandes. So erschließt es sich beispielsweise nicht, dass erst im Abschlusskapitel (S. 383 ff.) die Vorstellungen der bürgerlichen ‚Männerbünde‘ und der ‚Völkischen Frauenbewegung‘ in ihren Grundzügen erläutert werden, wo doch bereits zuvor die teils deutliche Abgrenzung in der Zeitschrift Das Schwarze Korps gegen diese Strömungen tragende Funktion in der Argumentationskette hatte. Günstig wäre überdies gewesen, der gründlichen Analyse der Ausführungen in der SS-Zeitschrift einen ausführlicheren – als dies in der Einleitung kurz geschieht – Überblick über den Forschungsstand zu Geschlecht und Sexualität im NS-Staat voranzustellen, auch wenn sich Winter – wie der Titel zeigt und er eingangs erläutert – auf die Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen explizit in der Zeitschrift Das Schwarze Korps beschränkt. Damit wäre eine bessere Einordnung der für die Zeitschrift dargestellten Vorstellungen möglich. So beschränkt sich der Autor darauf, die unterschiedlichen Sichtweisen in der Forschung nur knapp anzureißen. Mit einem solchen Überblick hätten zusätzlich zur theoretischen Analyse und der psychoanalytisch-sozialpsychologischen Einordnung auch die konkrete Verfolgung, insbesondere das Leid von im NS verfolgten Menschen, expliziter einbezogen werden können.

Seine Anregung zur Zusammenführung diskursanalytischer und psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektiven sollte aufgenommen und weiter verfolgt werden: Welche Rolle spielen ‚Überzeugungskraft‘ und emotionale Wirkung bei der Durchsetzung bestimmter Sichtweisen? Vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund und individuellen Erfahrungen wirken sie? Durch eine solche Perspektive könnte auch in geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen die Kopplung zwischen Schriften und der direkten – überzeugenden – Wirkung auf Menschen im Blick behalten werden. Andererseits greift eine solche Sichtweise die wissenschaftliche Orientierung an, Jahreszahlen von Ereignissen all zu wichtig zu nehmen: Die Wirkungen der erzieherischen Vorschläge und der Emotionalität des NS und explizit der Zeitschrift Das Schwarze Korps – hörten 1945 mit der Befreiung durch die Alliierten noch nicht einfach auf. Vielmehr musste die deutsche Bevölkerung von einer ‚mordenden Horde‘ zu einer demokratischen Ordnung erzogen werden. Das wurde vielfach versäumt, schon weil wichtige Positionen in der Bundesrepublik von NS-Eliten besetzt blieben. Entsprechend bietet sich ein kombinierter geschichtswissenschaftlicher und psychoanalytisch-sozialpsychologischer Blick für das NS-Verständnis von Geschlecht und Sexualität auch für die Jahrzehnte nach 1945 an. Also: Welche prägende Wirkung hatte etwa eine Schrift wie Kurt Seelmanns Kind, Sexualität und Erziehung: Zum Verständnis der sexuellen Entwicklung und des sexuellen Verhaltens von Kind und Jugendlichen, die 1942 erstmals erschien und noch 1973 in der 7. Auflage in München veröffentlicht werden konnte (auch wenn sich im Vorwort von 1973 das Buch nun nicht mehr an „HJ- und BDM-Führer“, sondern leicht abgeändert an „Jugendführer“ richtete)?

Winter ist mit seiner Studie eine beachtliche Zusammenschau verschiedener methodischer Ansätze in Bezug auf Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen im NS gelungen, die ein neues, ein mehrdimensionales methodisches Grundgerüst für weitere Forschungsfragen vorschlagen. Dem sollte Rechnung getragen werden. Auch inhaltlich – etwa bezüglich Homosexualität und der Berufstätigkeit von Frauen im NS – zeigt er mit seiner ausführlichen Auswertung der Zeitschrift Das Schwarze Korps den teilweise widersprüchlich erscheinenden Umgang im NS auf. Diese ‚Widersprüche‘ sollten weitere Forschungen mit Blick auf die Herrschaftsmechanismen in der bürgerlichen Gesellschaft anregen.

Dr. Heinz-Jürgen Voß

Dipl. Biol., Dr. phil., forscht und publiziert zu Themen der Biologie- und Medizingeschichte und -ethik

Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de

E-Mail: voss_heinz@yahoo.de

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