Intersexualität – eine politische Stellungnahme aus medizinethischer Sicht

Rezension von Simone Emmert

Heinz-Jürgen Voß:

Intersexualität – Intersex.

Eine Intervention.

Münster: Unrast Verlag 2012.

78 Seiten, ISBN 978-3-89771-119-8, € 7,80

Abstract: Voß stellt in seinem kleinen Band die wichtigsten Ergebnisse der neueren Outcome-Studien zu den Behandlungsergebnissen an Intersexen vor. Dazu werden vorab die relevanten Begriffe sowie die medizinischen Behandlungsmethoden vorgestellt. Schließlich werden diese Ergebnisse aus medizinethischer Perspektive bewertet, und es wird die Forderung erhoben, Menschen aufgrund ihrer Verschiedenheit auch in der medizinischen Praxis anzuerkennen.

Zur Aktualität des Bandes

Am 23. Februar 2012 hat der von der Bundesregierung beauftragte Deutsche Ethikrat seine Stellungnahme zur Situation intersexer Menschen in Deutschland publiziert. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass intersexe Menschen unter den Folgen medizinischer Fehleingriffe und unter Diskriminierung in der Gesellschaft leiden, und ruft zu deren Schutz und zum Respekt ihrer Identität und ihrer Rechte auf.

Der Diplombiologe und promovierte Medizinethiker Voß nimmt dies zum Anlass, die Stellungnahme kritisch zu reflektieren und deren Schwachstellen aufzuzeigen. Er bemängelt, dass der Ethikrat noch immer an einer medikalisierenden Bezeichnung von Intersex als Krankheit festhält, und auch, dass das zentrale Anliegen der Intersex-Aktivisten_innen, chirurgische und hormonelle Eingriffe in früher Kindheit zu unterlassen, nicht in seine Empfehlungen aufgenommen wird. Im vorliegenden Band zeigt Voß auf, dass die Ergebnisse der ersten Outcome-Studien, in denen die medizinischen Behandlungen evaluiert wurden, die Unnötigkeit dieser Eingriffe belegen und dass diese den betroffenen Menschen mehr schaden als nützen. Dies hätte der Ethikrat in seiner Stellungnahme berücksichtigen sollen.

Zu Begriff und Geschichte der Intersexualität

Im ersten Kapitel des schmalen Bändchens erläutert Voß zunächst die Unterschiede der Bezeichnungen ‚Hermaphroditismus‘, ‚Intersexualität‘, ‚DSD‘ und ‚Intersex‘ (S. 9). Hermaphroditismus ist der geschichtlich älteste Begriff, der schon in der Antike verwendet und auch noch bis vor kurzem in der medizinischen Terminologie gebraucht wurde. Die Bezeichnung Intersex oder Intersexualität führt Voß auf Richard Goldschmidt zurück, der diesen Begriff in der Zeit 1915/16 prägte. Diese beiden Termini stellen eine Selbstbezeichnung intersexer Menschen dar und problematisieren zugleich die medizinische Behandlungspraxis. DSD ist die seit 2005 gebräuchliche englische Abkürzung für Disorders of Sex Development, was mit ‚Störungen der Geschlechtsentwicklung‘ übersetzt werden kann. Diese Bezeichnung wird jedoch von Intersexen als pathologisierend abgelehnt, wohingegen mit den Begriffen Intersex oder Intersexualität eine positive Selbst-Identifikation sowie politisches Debattieren möglich sei.

Sodann stellt der Autor das „medizinische Behandlungsprogramm“ (S. 12) dar. Seit den 1950er Jahren hat sich das von Money, Hampson und Hampson entwickelte Baltimorer Behandlungsprogramm weltweit durchgesetzt. Hiernach wurde empfohlen, geschlechtszuweisende chirurgische Eingriffe bis zum 18. Monat nach der Geburt durchzuführen, da entwicklungspsychologisch dem Kind somit ermöglicht werde, eine eindeutige Geschlechtsrolle – als Junge oder Mädchen – zu entwickeln. Gleichzeitig, so erläutert Voß, sollte mit einer eindeutigen Geschlechtszuweisung eine homosexuelle Veranlagung verhindert werden.

In Anbetracht der Kürze des Bandes geht der Autor relativ detailliert auf die Entstehung der „Intersex-Bewegung“ (S. 15) und ihre Forderungen seit den 1990er Jahren ein. Ihren Anfang fand sie in den USA, wo es zur Gründung der Intersex Society of North America (ISNA) durch Cheryl Chase gekommen ist. Bezogen auf Deutschland zitiert Voß ausführlich den im Jahr 2000 vom Intersex-Aktivist_in Michel Reiter gehaltenen Vortrag „Medizinische Intervention als Folter“ (S. 17), in dem die medizinischen Behandlungsmethoden deutlich angeprangert werden. Deutsche Intersex-Verbände erreichten schließlich durch die Veröffentlichung des sogenannten „Schattenberichts“ (S. 20), dass der UN-Ausschuss zur Überwachung des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau die deutsche Bundesregierung zu Massnahmen aufgerufen hat, um intersexe Menschen in der Ausübung und Wahrnehmung ihrer Menschenrechte zu schützen. In diesem Zusammenhang wurde im Jahr 2010 der Deutsche Ethikrat mit der Ausarbeitung einer Stellungnahme beauftragt, die dann 2012 veröffentlicht wurde. An zentralen Forderungen werden an dieser Stelle genannt, medizinisch nicht notwendige Eingriffe zu unterlassen und eine Behandlung am Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Personen auszurichten und nicht Eltern oder mit der Betreuung Beauftragte entscheiden zu lassen.

Dass die Medizin „tief in der Gesellschaft verankert“ ist und sich hieraus der „Zwang zu geschlechtlicher Eindeutigkeit“ (S. 23) ableitet, wird im zweiten Kapitel mit dem sich ausbreitenden Christentum und den strengen Regeln des kanonischen Rechts seit dem 13. Jahrhundert begründet. Die Verflechtung von Recht und Medizin wird mit dem Verweis von Gesetzesbegründungen seit dem 19. Jahrhundert auf den gegenwärtigen „Stand der medizinischen Wissenschaftlichkeit“ (S. 27) hervorgehoben. Der Autor arbeitet heraus, dass dieser hierbei von herrschenden Moralvorstellungen und einer binären Gesellschaftsstruktur beeinflusst wurde. Alle von der Norm abweichenden Verhaltensweisen und anatomischen Merkmale wurden seitdem medikalisiert und pathologisiert.

Zur medizinischen Behandlungspraxis

Im dritten Kapitel widmet sich Voß der „medizinischen Diagnostik“ (S. 29) und der „Zuweisung des Geschlechts“ (S. 31) und beschreibt verschiedene Eingriffsmöglichkeiten „zur Herstellung eindeutiger weiblicher Genitalien“ oder „männlicher Genitalien“ (S. 47, 49).

Anschließend stellt der Autor ausführlich die Ergebnisse der analysierten und zitierten Outcome-Studien hinsichtlich der medizinischen Eingriffe und ihrer Behandlungszufriedenheit dar. Er verweist hier detailliert auf die aus dem Jahr 2007 stammende deutsche Studie des „Netzwerks Störungen der Geschlechtsentwicklung/Intersexualität“ (S. 50), geht aber auch auf andere internationale Studien, wie zum Beispiel aus Australien, Indien oder Frankreich ein. Alle Studien berichten, so Voß, von post-operativen Komplikationen der behandelten Personen, und hinsichtlich des sogenannten Zufriedenheitswertes wurde eine deutlich geringere Lebensqualität sowie eine hohe Unzufriedenheit der betroffenen Menschen festgestellt.

Im vierten und letzten Kapitel diskutiert er die Studienergebnisse und die Forderungen der Intersex-Aktiven im Lichte einer sich hinsichtlich geschlechtlicher und sexueller Merkmale wandelnden und öffnenden Gesellschaft (S. 66). Anhand der Studienergebnisse ergebe sich, dass die bisherige Behandlungspraxis den hiernach behandelten Personen nicht genutzt, sondern vielmehr geschadet hat und daher nach dem medizinischen Grundsatz und Ethos nicht mehr durchgeführt werden dürfe. Ein Behandlungsprogramm sei nach Voß nur zu rechtfertigen, wenn ein Nutzen für die betroffenen Personen zu erwarten ist.

Hinsichtlich der institutionell-juristischen und gesellschaftlichen Entwicklung stellt der Autor fest, dass insgesamt ein Trend hin zur Anerkennung von Verschiedenheit und Vielfalt zu verzeichnen ist, der allmählich auch in den medizinischen Bereich vordringt. Dennoch gibt es in der Gesellschaft immer noch „Angst und Hass“ auf Menschen, die „anders“ sind (S. 70). Eine umfassende Anerkennung von Diversität in allen Bereichen, insbesondere des Medizinischen, hält Voß für sinnvoll, um intersexen Menschen zur vollen Anerkennung ihrer Identität und ihrer Rechte zu verhelfen.

Fazit

Die Intervention zu Intersexualität – Intersex erweist sich als ein kleines, aber feines Buch, das einen gelungenen Einstieg in die aktuelle politische Debatte gibt. Als besonders wertvoll lassen sich der Überblick und die Diskussion um die Ergebnisse der sogenannten Outcome-Studien ansehen; hieraus wird deutlich abgeleitet, dass geschlechtszuweisende chirurgische und/oder hormonelle Eingriffe intersexen Menschen eher schaden als nützen. Voß gibt damit eine der ersten wenigen publizierten kritischen Stellungnahmen aus wissenschaftlicher Aktivensicht ab.

Das Buch ist flüssig und leicht verständlich geschrieben und macht Lust, sich weiter in das noch immer sehr konfliktbeladene und emotionale Thema um den Kampf auf Selbstbestimmung sowie um Respekt, Toleranz und Anerkennung von Vielfalt und Verschiedenheit einzulesen.

Simone Emmert, LL.M.Eur.

Philipps-Universität Marburg

Doktorandin am Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung und Multiplikatorin für diversitätsbewusste Seminare

Homepage: http://www.simone-emmert.de

E-Mail: simone.emmert@gmx.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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