Die Bildung von Männlichkeiten

Rezension von Julia Maria Zimmermann

Meike Sophia Baader, Johannes Bilstein, Toni Tholen (Hg.):

Erziehung, Bildung und Geschlecht.

Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies.

Wiesbaden: Springer VS 2012.

447 Seiten, ISBN 978-3-531-18552-1, € 44,95

Abstract: Die Männerforschung ist innerhalb der Gender Studies eine recht junge, aber in den letzten Jahren gleichwohl verstärkt ernstzunehmende Disziplin auch in Deutschland. Der vorliegende Sammelband gewährt einen Einblick in gegenwärtige Forschungen zu Männlichkeitskonstruktionen und -strategien in Bildung und Gesellschaft. Es wird aufgezeigt, wie vielfältig, kritisch und aktuell die Männerforschung jenseits von politischer Vereinnahmung ist. Gleichwohl wird auch ersichtlich, wie viel ‚Nachholbedarf‘ es noch in der deutschsprachigen Forschung gibt.

Die Männerforschung ist innerhalb der Gender Studies einer der jüngsten, aber auch einer der kritischsten Zweige. Kritischer als die Frauenforschung ist sie vor allem, weil patriarchale Gesellschaftsstrukturen nicht nur vor dem Hintergrund eines machtasymmetrischen Verhältnisses zwischen Männern und Frauen untersucht, sondern insbesondere auch die spezifischen Abgrenzungsmechanismen zwischen verschiedenen ‚Männlichkeiten‘ in den Blick genommen werden. Diese Doppelausrichtung geht auf die beiden zentralen Theoreme der Männerforschung zurück: In den späten 1980er-Jahren stellte Raewyn (Robert) Connell ihre (seine) Differenzierung von vier verschiedenen Männlichkeiten entlang eines intersektionalen Rasters von Geschlecht, Rasse, Klasse und sexueller Orientierung vor. Unabhängig davon beschrieb Pierre Bourdieu etwa zehn Jahre später die Herausbildung eines „männlichen Habitus“ als Medium patriarchaler Herrschaft nicht nur in Distinktionskämpfen gegenüber Frauen, sondern vor allem in den „ernsten Spielen des Wettbewerbs“ in homosozialen Räumen.

Ist die Männlichkeitsforschung insgesamt noch ein eher junges Feld, so gilt dies insbesondere für die deutschsprachige Forschungslandschaft. Nennenswerte Ansätze finden sich erst seit etwa zehn Jahren unter den Namen Michael Meuser, Sylka Scholz und Lothar Böhnisch.

Männerforschung in Deutschland

Gleichwohl erfährt die Männerforschung auch im deutschsprachigen Raum, nicht zuletzt initiiert durch die Debatten um das ‚Bildungsversagen‘ von Jungen, eine wachsende Zuwendung. Wenig verwunderlich sind es bislang vor allem die Erziehungswissenschaften, die sich den Themen annehmen, der Fokus auf Bildung und Erziehung ist in der deutschsprachigen Männerforschung unverkennbar.

So ist es nicht weiter erstaunlich, dass der Sammelband Erziehung, Bildung und Geschlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies, herausgegeben von Meike Sophia Baader, Johannes Bilstein und Toni Tholen, nicht nur den Verweis auf die pädagogische Ausrichtung gleich zweifach im Titel führt, sondern auch, dass von den 31 Autor_innen nur acht keine Erziehungswissenschaftler_innen sind. Der Band geht auf eine Konferenz zurück, die im Rahmen der Jahrestagung 2009 der Kommission „Pädagogische Anthropologie“ der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGE) unter Kooperation des im deutschsprachigen Raum zentralen „Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung“ (AIM-Gender) stattfand.

Dann überrascht der Sammelband doch mit einer recht breiten thematischen Vielfalt, der der Titel eigentlich nicht gerecht wird. Die 25 Artikel verteilen sich vielmehr relativ gleichmäßig auf vier inhaltliche Cluster: Geschichte der Männlichkeit, Bildung, Biographieforschung und Kultur der Geschlechterverhältnisse. In der inhaltlichen Auseinandersetzung bleiben allerdings die Ergebnisse der Geschichtswissenschaft etwas hinter denen der verhaltenswissenschaftlichen Forschung zurück, ein Indiz dafür, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit Männern und Männlichkeiten noch ein sehr junges Feld ist, das erst nach und nach von den Sozialwissenschaften ausgehend in den Geisteswissenschaften Fuß fasst.

Streiflichter aus der Männerforschung

Besonders instruktiv sind diejenigen Artikel, welche Ergebnisse kürzlich abgeschlossener oder laufender Forschungen vorstellen. Hier wird deutlich, welch ein lebendiges Feld die Jungen- und Männerforschung jenseits von politischen Gender Mainstreaming-Expertisen sein kann und welch kritisches Potential tatsächlich darin steckt. Besonders erwähnen möchte ich hier exemplarisch die Beiträge von Renate Kosuch/Michaela Kuhnhenne: „(Wie) empfehle ich meinen Studiengang? Positionierungen und Männlichkeitsinszenierungen von Akteuren beim Zukunftstag für Jungen“, Michael Herschelmann: „‚Typisch Mann, das wollte ich einfach nie sein‘ – Eine narrativ-biographische Studie zur Distanzierung von traditioneller Männlichkeit“ sowie Dorle Klinka: „‚Die Mädchen, die Jungen und ich‘ – Zur Problematik der Zweigeschlechtlichkeit“.

Kosuch und Kuhnhenne untersuchen in ihrem sehr instruktiven Beitrag anhand einer kleinen ad hoc-Fallstudie die Weise, wie der weiblich konnotierte Studiengang „Soziale Arbeit“ von männlichen Mentoren und Professoren für Jungen attraktiv gemacht wird. Sie stellen fest, dass die Strategie der ‚Experten‘ weniger darin liegt, das Fach an sich hervorzuheben bzw. eine Konnotation zwischen Sozialer Arbeit und Männlichkeit herzustellen, sondern dass das Hauptaugenmerk darauf gelegt wird, sich von dem sozialen (= ‚weiblichen‘) Inhalt des Fachs zu distanzieren, um stattdessen die möglichen Statuszugewinne, die (männliche) Sozialarbeiter erwarten können, hervorzuheben. Die Autorinnen gewähren damit einen Einblick in das doing masculinity der als reine ‚Care-Arbeit‘ feminisierten sozialen Berufe. Ein weiteres Ergebnis des Beitrags ist die Beobachtung, dass Männlichkeiten im Studium Sozialer Arbeit (und vermutlich darüber hinaus) auch über die Darstellung offensiver Maskulinität und Mysogynie entworfen werden, die scheinbar sehr traditionelle Geschlechterarrangements reproduziert, allerdings ‚im Zweifelsfall‘ durch ironische Brechung entschärft und so „modernisiert“ werden kann (vgl. S. 296). Hier könnten tiefergehende Untersuchungen spannende Ergebnisse zeitigen.

Michael Herschelmann stellt anhand narrativ-biographischer Interviews junge Männer vor, die sich nach eigener Aussage vom Prototyp traditioneller Männlichkeit distanzieren. Er zeigt auf, mit welchen Strategien die jungen Männer in kritischen Übergangsphasen Bilder traditioneller Männlichkeit aufbrechen, ablehnen oder neu bewerten. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung können, wie im Falle „Davids“ aufgezeigt wird, durchaus widersprüchlich sein, in dem Sinne, dass zwar traditionelle Männlichkeit theoretisch abgelehnt, unter individualistischen Vorzeichen aber wieder hergestellt wird (vgl. S. 352). Eine konsequente Abkehr von traditionellen Männlichkeitsvorstellungen, so der implizite Schluss, ist in der Regel eher in marginalisierten sozialen Kontexten möglich (vgl. der Fall „Aaron“, S. 357 ff.), in denen alternative Lebens- und Geschlechterarrangements die herrschende Norm stellen. Die Frage nach der Prävalenz und vor allem der Durchsetzbarkeit im Lebensverlauf vermag die Studien mit den 20-Jährigen leider noch nicht zu beantworten.

Dorle Klinka schließlich stellt Mika vor, eine intersexuelle Person mit Klinefelter-Syndrom (XXY-Chromosomensatz). Mika ist als Junge aufgewachsen, hat sich auch bis zur Pubertät als solcher identifiziert. Als er um seine Intersexualität erfuhr, fühlte er sich „anders“, nicht in ein zweigeschlechtliches Raster einzuordnen. Schließlich hat Mika eine Coping-Strategie entwickelt, nach der er sich weder als männlich, noch weiblich, sondern jenseits der Geschlechternormen positioniert und die es ihm erlaubt, sich fallweise ‚weiblich‘, ‚männlich‘ oder ‚neutral‘ zu kleiden und geben. Auf diese Weise kann er die Binarität der Geschlechternormen umgehen bzw. sich spielerisch zu ihr verhalten. Klinkas Aufsatz fügt sich mithin ein in die wachsende Zahl intersexueller Fallstudien und bereichert diese durch die ‚männliche‘ Sichtweise: ein wichtiger Beitrag angesichts des hohen Anteils weiblich sozialisierter Intersexueller.

Geschlechterforschung und Intersektionalität: noch immer wichtig.

Ein für die Männerforschung wesentliches, auch in vielen Artikeln dieses Bandes geäußertes Anliegen ist die von Raewyn Connell eingeführte Differenzierung in verschiedene Männlichkeiten. Gerade für die Bildungsforschung, so wird in verschiedenen Beiträgen deutlich (vgl. S. 255, S. 310), ist diese Annahme wichtig: Wenn von der Bildungsbenachteiligung von Jungen gesprochen wird, welche Jungen sind dann damit gemeint? Welche Formen von vorgelebter Männlichkeit sollen dem abhelfen? Welche männliche Sozialisation verträgt sich nicht mit dem ‚feminisierten‘ Unterricht? In diesem Sinne wird der Ansatz Connells zu Recht breit rezipiert. Die Annahme, es gebe lediglich eine Männlichkeit, wird von keinem_r der Autor_innen vertreten. Liegt jedoch die Stärke von Connells Ansatz in seiner Intersektionalität − der Abhängigkeit eines Musters von Männlichkeit (und seiner Bewertung im sozialen Raum) von Klassenstrukturen, ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung und anderen möglichen Faktoren −, so wird diese Stärke im vorliegenden Band leider aufgegeben. Die Autor_innen legen zwar an diversen Stellen dar, dass die Berücksichtigung von Klasse, Ethnie und sexueller Orientierung zu wesentlich differenzierteren Ergebnisses führt. Dieses Bewusstmachen bleibt im vorliegenden Rahmen aber mehr oder weniger Lippenbekenntnis.

Das Objekt der hier referierten Forschung bleibt der weiße, mittelständische (gymnasiale) und heterosexuelle Mann. Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Elisabeth Tuider (‚Fremde Männlichkeiten‘. Oder: When Masculinity meets Care), in dem die Bildungsstrategien von Vätern mit Migrationshintergrund und entsprechend spezifischer Kapitalausstattung untersucht werden. Gerade das völlige Fehlen eines Verweises auf homosexuelle Männlichkeit – wahrscheinlich die offenkundigste Herausforderung für eine gendersensible Pädagogik – halte ich für ein bedauerliches Manko. Eine Revision dieses Forschungs(miss)standes ist dringend notwendig.

Dessen ungeachtet bleibt das Fazit, dass es sich bei dem vorliegenden Band um einen instruktiven Einblick in die deutschsprachige Männerforschung handelt, der auf weitere Ergebnisse gespannt hoffen lässt.

Julia Maria Zimmermann, M.A.

Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Wissenssoziologie

E-Mail: julia.zimmermann@uni-jena.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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