Im Kino auf der Spur eines anderen Körperverständnisses

Rezension von Sebastian Scheele, Fabian Tietke

Sarah Dellmann:

Widerspenstige Körper.

Körper, Kino, Sprache und Subversion in Tod Brownings FREAKS und Filmen mit Lon Chaney.

Marburg: Schüren Verlag 2009.

119 Seiten, ISBN 978-3-89472-686-7, € 16,90

Abstract: Im vorliegenden Band werden Filme des in den 1920er und 1930er Jahren sehr erfolgreichen Regisseurs Tod Browning analysiert, insbesondere sein heute bekanntestes Werk Freaks. Mithilfe historischer Kontextualisierungen und eines filmwissenschaftlichen Instrumentariums untersucht Dellmann die These, dass sich in diesem Werk Spuren eines heute verloren gegangenen Körperverständnisses finden lassen – vor allem andere Repräsentationen von Behinderung und behinderten männlichen Körpern.

Freaks war bei seinem Erscheinen 1932 eine finanzielle Katastrophe, die – zu Brownings Überraschung – das Ende seiner Karriere als Regisseur in Hollywood einleitete. Der Film wurde nicht nur wie damals üblich vom Hays Office, der US-amerikanischen Filmregulierungsstelle (1922–1945), zensiert, sondern auch vom Publikum bekämpft und gemieden (vgl. S. 36). Nach einer verwickelten Geschichte umgeschnittener Fassungen und der Wiederentdeckung des Films im Kontext der Gegenkulturen ab den 1960er Jahren ist er heute neben Dracula das bekannteste Werk Brownings und wird beispielsweise von David Lynch als Vorbild genannt. Schon allein diese außergewöhnliche Rezeptionsgeschichte macht eine Analyse des Films reizvoll. Dellmann eröffnet sie in ihrer Arbeit mit einer „Einstiegslektüre“ (S. 9) in die Filme und in die bislang geführten Debatten. Sie stellt sich die Frage: Was macht diesen Film so beunruhigend und herausfordernd für das Publikum? In ihm wie auch in anderen Filmen des Regisseurs, in denen er mit dem Schauspieler Lon Chaney zusammenarbeitete, lassen sich – so Dellmann – „Erzählungen und Bildstrategien ausmachen, in denen Normalität kein Bezugspunkt mehr ist.“ (S. 10). In diesen Filmen werde ein „andere[r] Körper […] sicht- und damit denkbar, vielleicht begehrbar und in der Konfrontation mit den Bildern auch für ein heutiges Kinopublikum erfahrbar.“ (S. 100) Der Autorin geht es um die Rekonstruktion eines Körperverständnisses, das historisch verloren gegangen ist. Die nicht-hierarchischen Repräsentationen von außergewöhnlichen Körpern sowie vielfältigen Formen von Sexualität (vgl. S. 51) können ihrer Ansicht nach heutige Vorstellungen von Behinderung sowie von Geschlecht in Frage stellen.

Die Tradition der „Freak Shows“

Der Film spielt auf einem Jahrmarkt und kreist um die Themen Liebe, Verrat und Rache; die Konflikte zwischen den Darsteller/-innen brechen während einer Hochzeitsfeier offen aus. Dellmann beschreibt die Plots von Freaks sowie die der anderen fünf untersuchten Filme, gelungen wird dies von zahlreichen Filmstills illustriert. Dabei stellt sie heraus, wie sowohl Inhalt, Akteur/-innen als auch das Medium Kino selbst auf der Struktur des Jahrmarkts aufbauen (vgl. S. 29). Teil des Jahrmarkts waren damals „Freak Shows“, in denen sich Menschen mit außergewöhnlichen Körpern inszenierten, wobei es jedoch mehr um den Effekt als um Authentizität gegangen sei (vgl. S. 21). Die „Freak Shows“ waren in den 1910er/1920er Jahren auf dem Höhepunkt ihrer Popularität angelangt (vgl. S. 21) und stellten somit ein dem zeitgenössischen Publikum des Films vertrautes Phänomen dar. Den historischen Kontext bildete – so Dellmann – die Tatsache, dass nach dem Ersten Weltkrieg aufgrund der zahlreichen verletzten Soldaten körperliche Behinderungen verstärkt in Hollywood-Filmen thematisiert wurden. Allerdings hätten die Plots kein Leben mit Behinderungen vorgesehen – nur die Optionen der Heilung oder des Todes (vgl. S. 91). Während das Setting von Freaks also einerseits in der Tradition des ableist gaze eines nichtbehinderten Publikums auf Darsteller/-innen mit Behinderungen steht, bricht der Film andererseits auf verschiedenen Ebenen mit diesen Traditionen.

Subversion von Körperverständnissen

So verläuft der Plot auf eine Art, die die Handlungsfähigkeit der Community der „Freaks“ unterstreicht in Form ihrer brutalen Rache für brutale ableistische Entwürdigungen. Und auch die filmischen Mittel entsprechen nicht der normalisierenden Tradition, so wie beispielsweise die Kameraeinstellungen: „Größe wird in FREAKS von Anfang an als Relation, nicht als normativer Bezugspunkt beschrieben.“ (S. 42) Auch in Bezug auf Geschlecht bringe der Film Grenzen zum Schwinden; nicht zuletzt die „karnevalesken“ sexuellen Beziehungen voller Anspielungen und Möglichkeiten löse Identitäten auf (vgl. S. 49). Lon Chaneys Charaktere spielten zudem auf interessante Weise mit Männlichkeitsnormen: sei es, indem sie ein ohnmächtiges Scheitern daran darstellten, sei es, indem sie einen der „Freak Show“ entlehnten „anderen Modus, den Körper in der Welt zu leben“, (S. 90) präsentierten. Jedenfalls sei Lon Chaney in Hollywood bekannt geworden, ohne den Schönheitsnormen des Star-Systems zu genügen und ohne eine Projektionsfläche für männliche Allmachtsphantasien zu bieten. In der Beschreibung der durchaus ambivalent erscheinenden Filme konzentriert sich Dellmann auf diejenigen Aspekte, die für heutige emanzipatorische Lesarten fruchtbar zu machen sind.

Aber sind nicht ebenso Lesarten denkbar, die beispielsweise auf das Stereotyp „des rachsüchtigen, bösen Behinderten“ (Rebecca Maskos: Von Monstern zu HeldInnen. Der Wandel des Blicks auf die Subjektivität behinderter Menschen. In: initiative not a lovesong (Hg): Subjekt (in) der Berliner Republik. Berlin 2003, S. 158 f.) zurückgreifen? Oder kann das Happy End von Freaks auch im Sinne einer segregationistischen Moral verstanden werden, als die Warnung, nur innerhalb der Community Liebesbeziehungen einzugehen (vgl. S. 22)? Interessant wären auch die Produktionsbedingungen des Films: Sind Stimmen der Schauspieler/-innen überliefert, gerade derjenigen mit Behinderung? Inwiefern ist beispielsweise der Plot partizipativ umgearbeitet worden – oder verstand sich Browning als loyal zum Auftrag seiner Produktionsfirma, einen Horrorfilm „schrecklicher als Frankenstein“ zu drehen (S. 31, S. 33)? Die Analyse macht neugierig auf Quellen, die in diesen Fragen weiterhelfen könnten, die aber möglicherweise einfach nicht existieren.

Zeitgenössische Rezeption(en)

Ebenfalls äußerst schwierig ist die Quellenlage zur Rezeption durch das Publikum in den verschiedenen Jahrzehnten und Kontexten, so dass Dellmann sich auf die filmwissenschaftliche Rezeption beschränken muss. Der kurze Verweis auf eigene „nicht-repräsentative Rückfragen in Filmdiskussionen“ und die dort geäußerten Identifikationen (S. 40 f.) ist spannend. Unter dem Blickwinkel der Filmgeschichtsschreibung hätte Dellmanns Arbeit gewinnen können, wenn sie Miriam Hansens Überlegungen zur zeitgenössischen Rezeption einbezogen hätte (vgl. Hansen, Miriam: Babel and Babylon. Spectatorship in American Silent Film. Cambridge, MA, London 1991). Hansen betont, ausgehend von der Wiederbelebung des Begriffs des vernacular modernism, die Bedeutung der Veränderung der Publikumshaltung von den 1910er zu den 1920er Jahren. Denn wenn die Verschiebung der Funktion des Kinos vom Jahrmarktvergnügen subalterner Klassen hin zur Etablierung als bürgerliches Unterhaltungsvergnügen zeitgleich vonstatten geht mit dem Verschwinden der „Freak Show“, die, wie Dellmann richtig darstellt, Ort der Selbstbehauptung und der Ausbeutung zugleich war (vgl. S. 25), wäre es aufschlussreich gewesen, diese Prozesse aufeinander zu beziehen.

Fazit

Die Studie wirft verschiedene Fragen auf, nicht zuletzt in Richtung Sprache: „Freaks“, „Menschen mit außergewöhnlichen Körpern“, „Monster“, „beeinträchtigt“ – Sprache kann Gewalt transportieren, und es ist eine fortdauernde Herausforderung, spezifische Ausgrenzungskategorien zu benennen ohne die Ausgrenzung sprachlich zu wiederholen. Nicht zuletzt aufgrund der geringen Verbreitung der Disability Studies im deutschsprachigen Raum gibt es bislang wenige verbreitete Referenzen, so dass einzelne sprachliche Lösungen jeweils aufs Neue abgewogen oder erfunden werden müssen. Dellmann entwickelt interessante Lösungen wie die Verwendung der Begriffe von „‚Menschen mit außergewöhnlichen Körpern‘ für die Zeit bis zum 20. Jahrhundert und ‚Menschen mit Behinderung‘ für die Zeit ab ca. 1900“ (S. 11). Besonders deutlich wird, wie nötig die Perspektive der Disability Studies auf Behinderung als analytische Kategorie ist – auch in den Filmwissenschaften, wie die in dieser Hinsicht extrem heterogenen Quellen zeigen, die Dellmann zitiert (vgl. z. B. Jean-Pierre Oudart, S. 47 f., versus Martin F. Norden, S. 91). Allzu oft wird in filmwissenschaftlichen Studien aus der Perspektive eines universalisierenden Publikums-Wirs gesprochen, ohne zu reflektieren, dass damit ausschließlich ein nicht-behindertes Publikum gemeint ist. So zieht sich quer durch die zitierten Quellen implizit die Frage, wie in Filmen und deren Rezeption Nichtbehinderung abgesichert wird. Dieser Frage expliziter nachzugehen , könnte Dellmanns Thesen über die subversive Kraft der von solchen „unheimlichen“ Filmen ausgelösten „Identitätskrisen“ (S. 29) ergänzen. Gerade bei einer an die Filmanalyse anknüpfenden Entwicklung von „Kriterien für eine nicht-diskriminierende Bildpolitik“ (S. 9) wäre es zentral zu fragen, was wen emotional berührt, wen empowert und wen entmündigt. Die Studie trägt in ihrer Ausrichtung auf gegenwärtige „Anknüpfungspunkte für emanzipatorische Praxen“ (S. 9) gerade zu solchen Debatten produktiv bei und verdeutlicht, dass die Analyse von Behinderung und Geschlecht nicht voneinander getrennt werden kann.

URN urn:nbn:de:0114-qn113079

Sebastian Scheele

Soziologe

Fabian Tietke

Filmwissenschaftler

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