Familien- und Gleichstellungspolitik der Großen Koalition auf dem feministischen Prüfstand

Rezension von Maria Wersig

Diana Auth, Eva Buchholz, Stefanie Janczyk (Hg.):

Selektive Emanzipation.

Analysen zur Gleichstellungs- und Familienpolitik.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2010.

254 Seiten, ISBN 978-3-86649-254-7, € 26,90

Abstract: Im vorliegenden Sammelband wird die Gleichstellungs- und Familienpolitik der Großen Koalition aus feministisch-politikwissenschaftlichen Perspektiven analysiert. Die Beiträge geben einen Überblick über wichtige politische Entwicklungslinien der letzten Jahre und bieten kritische Perspektiven auf der Grundlage unterschiedlicher methodischer und theoretischer Zugänge. Im Zentrum stehen die Auswirkungen politischer Reformen auf unterschiedliche Gruppen von Frauen und Männern sowie Analysen der Bedeutung der Geschlechterverhältnisse im Zusammenwirken mit anderen Diskriminierungskategorien in politischen Prozessen. Ergänzt werden die Auseinandersetzungen mit dem deutschen Status quo durch drei Beiträge, welche europäische Entwicklungen in ihre Überlegungen einbeziehen.

Feministische Analyse gleichstellungs- und familienpolitischer Entwicklungen

Die von der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD in der Bundesrepublik zwischen 2005 und 2009 durchgeführten Reformen auf dem Gebiet der Familienpolitik wurden von vielen Seiten als Paradigmenwechsel bezeichnet, welchem auch gleichstellungspolitisch große Bedeutung beigemessen wird. Dies gilt vor allem für die Einführung des Elterngeldes und die Investitionen in Kinderbetreuung für Kinder unter drei Jahren. In dem Sammelband Selektive Emanzipation. Analysen zur Gleichstellungs- und Familienpolitik werden diese aktuellen familien- und gleichstellungspolitischen Entwicklungen in der Bundesrepublik aus feministisch-politikwissenschaftlicher Perspektive kritisch beleuchtet. Ergänzt werden die Analysen des Status quo in Deutschland durch drei Beiträge, die europäische Entwicklungen einbeziehen.

Stillstand in der Gleichstellungspolitik

Die Beiträge des ersten Abschnitts des Bandes sind gleichstellungspolitischen Entwicklungslinien in der Regierungszeit der Großen Koalition gewidmet. Im Gegensatz zur Familienpolitik war die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik kein politischer Schwerpunkt der Arbeit der Regierung aus CDU/CSU und SPD. Das konservativ geführte Bundesfrauenministerium trat kaum als solches in Erscheinung, und auch die neu gegründete Antidiskriminierungsstelle des Bundes stand stark in der Kritik. Julia Lepperhoff zieht in ihrem Beitrag die Bilanz, dass die Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitik ein Dasein „im Schatten“ der Familienpolitik fristete. Die Verkürzung gleichstellungspolitischer Fragen auf Fragen der Familienpolitik auf der einen Seite und die die Antidiskriminierungspolitik auf der anderen Seite kennzeichnende Annahme, dass Geschlecht lediglich eine Diskriminierungskategorie unter anderen sei, prägten die Politik der Großen Koalition.

In ihrem in englischer Sprache verfassten Text widmet sich Doris Urbanek wichtigen gleichstellungspolitischen Debatten der 16. Legislaturperiode (über das Antidiskriminierungsgesetz, das Ehegattensplitting, über Ehegattennachzug und Zwangsverheiratungen) unter dem Blickwinkel der Intersektionalität. Den fortbestehenden Ausschluss von Frauen aus existenz- und teilhabesichernden „Normalarbeitsverhältnissen“ zeigt Claudia Bogedan in ihrem Beitrag über Geschlechtergerechtigkeit in der Arbeitsmarktpolitik. Sie weist nach, dass die Ziele der Erwerbsintegration von Frauen und Müttern, welche von der aktuellen Familienpolitik (mit) verfolgt wurden, eher quantitativer als qualitativer Natur waren und dass gerade Frauen weiterhin in prekäre, nicht-existenzsichernde Arbeit gedrängt werden. Hier schließe sich der Kreis zwischen den eher als selektive Emanzipation für privilegierte Frauen zu kritisierenden familienpolitischen Leistungen und der durch Minijobs, Arbeitslosigkeit und nicht-existenzsichernde Teilzeitarbeit gekennzeichneten arbeitsmarktpolitischen Realität.

Gleichstellungspolitische Ziele als Teil von familienpolitischen Reformen

Mit dem Thema „Familienpolitik als Gleichstellungspolitik?“ beschäftigen sich die Beiträge des zweiten Abschnitts des Bandes. C. Katharina Spieß bietet einen Überblick über die in der Regierungszeit der Großen Koalition viel analysierten Familienleistungen in Deutschland. Hanne Martinek analysiert in ihrem Beitrag die Einführung des Elterngeldes in Deutschland und wirft unter Verwendung des Konzepts der Lebensrisiken die Frage auf, für welche Gruppen von Frauen durch das Elterngeld Verbesserungen ihrer Existenzsicherung erreicht werden konnten. Martinek zeigt, dass insgesamt ein Wandel zur Ermöglichung finanzieller Unabhängigkeit nach der Geburt eines Kindes für betreuende Elternteile festzustellen ist. Trotzdem profitieren nicht alle Frauen davon – ausschlaggebend ist vielmehr der erreichte Grad der Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt.

Auch die Unterhaltsrechtsreform firmierte unter dem Schlagwort der eigenständigen Existenzsicherung von Frauen und sollte neue Möglichkeiten bieten, den Unterhalt zu begrenzen sowie die Unterhaltssicherung von Kindern vor die von Erwachsenen zu stellen. In ihrem Beitrag fragt Lisa Haller, wer von der Reform des Unterhaltsrechts profitiert hat und welche Veränderungen für die Geschlechterverhältnisse sich aus der Änderung des Gesetzes ergeben. Haller setzt das Sicherungssystem Unterhalt in Bezug zu anderen Elementen sozialer Sicherung und kritisiert, dass die neuen Regelungen kaum in die Arbeitsteilung während der Ehe hineinwirken können, weil hier die Rahmenbedingungen für das Ernährermodell fortbestehen. Nach dem Scheitern der Ehe sei dann die schnelle Arbeitsmarktintegration und die Entlastung der Unterhaltsschuldner das Ziel. Dabei bleibe die Politik die Antwort schuldig, wie reproduktive Arbeit in Zukunft abgesichert werden könne.

Jörg Nowak zeigt unter Bezugnahme auf mediale Debatten und aktuelle Sachbücher, aber auch auf wissenschaftliche Literatur, dass in der familienpolitischen Debatte linke feministische Ansätze fehlen, und kritisiert, dass liberale und konservative Feminismen den aktuellen familienpolitischen Diskurs dominieren. Diese Familienpolitik, so Nowak, führe lediglich zu einer klassenspezifischen Überwindung des − seiner Auffassung nach „im Prinzip geschlechtsneutralen“ − Ernährermodells. Diese These wäre es wert gewesen, durch einen Blick auf die Steuerungsformen aktueller Familienpolitik und durch empirische Erkenntnisse über ihre Auswirkungen belegt zu werden.

Europäische Bezüge und Entwicklungen

Der dritte Teil des Bandes soll die Analysen der Debatte in Deutschland um europäische Bezüge erweitern. Bei der Lektüre der drei Beiträge des Abschnittes fällt allerdings auf, dass zwei genügend bundesdeutsche Bezüge aufweisen, um auch ohne diese Überschrift ihren Platz im Sammelband zu finden. Lediglich der Beitrag von Dorottya Szikra beleuchtet familienpolitische Entwicklungen in anderen europäischen Ländern und lenkt den Blick auf familienpolitische Leitbilder und Entwicklungen in Polen und Ungarn. Insgesamt erscheint der Anspruch der Herausgeberinnen, auch europäische Bezüge in die Bilanz des familienpolitischen Wirkens der Großen Koalition mit einzubeziehen, etwas zu hoch gegriffen.

Der Beitrag von Sigrid Leitner unterzieht den (De-)Familialismus von konservativen Wohlfahrtsstaaten und die darin zu findenden Geschlechtsspezifika einer profunden Analyse. Leitner kritisiert den Familialismus-Begriff von Esping-Andersen, welcher wenig zum Verhältnis struktureller Rahmenbedingungen und ihrer Ergebnisse aussagen könne. Leitner plädiert für einen Begriff von Familialismus, welcher die Wirkungen sozialpolitischer Maßnahmen in das Zentrum der Analyse stellt, und wendet diesen am Beispiel der Altenpflege an. Die Frage ist dabei, welche Maßnahmen geeignet sind, die Familie von der primären Verantwortung für die Pflege zu entlasten oder welche zwar Unterstützung gewähren, aber ein vorwiegend familiales Pflegearrangement im Ergebnis stützen. Wohlfahrtsstaaten können demnach in eine idealtypische Matrix von vier Varianten des Familialismus eingeteilt werden: Expliziter, impliziter, optionaler und (De-)Familialismus. In einem zweiten Analyseschritt fragt Leitner nach den geschlechtsspezifischen Auswirkungen dieser Varianten wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen und damit nach den durch staatliche Maßnahmen eröffneten Entscheidungsmöglichkeiten der für Sorgearbeit zuständigen Frauen. Impliziter Familialismus, so Leitner, reproduziert durch staatliches Nicht-Handeln den Status Quo der Geschlechterverhältnisse. Auch der optionale Familialismus verzichtet auf ein Leitbild der eigenständigen Lebensführung, gleichberechtigten Aufteilung der Familienarbeit und Übergänge zwischen Erwerbs- und Pflegearbeit, enthält aber genügend (de-)familialisierende Maßnahmen, um bereits strukturelle Rahmenbedingungen für die Aufnahme einer Erwerbsarbeit bereitzustellen. Für Deutschland zeichnet sich ein Übergang vom expliziten zum optionalen Familialismus ab. Trotz der Reformen auf dem Gebiet der Altenpflege und Kinderbetreuung, so das Fazit, ändere sich allerdings wenig an den zugrundeliegenden Geschlechterleitbildern.

Fazit

Der Band führt Beiträge verschiedener methodischer und theoretischer Provenienz in kritischer feministisch-politikwissenschaftlicher Perspektive zusammen und enthält wichtige Antworten auf die aufgeworfenen Fragen zum Spannungsfeld von Familien- und Gleichstellungspolitik. Auch wenn einige Aspekte wie beispielsweise die geschlechterpolitischen Implikationen der Debatte um das Thema Kinderarmut oder auch ideologische Spannungsfelder im Regierungshandeln der Großen Koalition (Stichwort Betreuungsgeld) unbeleuchtet bleiben, im Ergebnis glänzen die Beiträge durch das Benennen von Widersprüchen, Zusammenhängen und Auswirkungen politischer Entscheidungen auf unterschiedliche Gruppen von Frauen und Männern. Sie zeigen, dass feministische Politikwissenschaft gerade auch die Intersektionen von gesellschaftlichen Diskriminierungsmechanismen in den Blick nimmt. Die Beiträge bieten viele Denkanstöße, wie gleichstellungspolitische Ziele in zusammenhängenden Politikbereichen verfolgt werden müssten, um Geschlechtergerechtigkeit voranzubringen. Das bereits titelgebende Fazit lautet, dass die bloße Fokussierung auf „Erwerbsanreize“ für Frauen zu kurz greift und sogar benachteiligende Wirkungen haben kann. Die Frage, wie ein solcher Anspruch politisch durchzusetzen ist, wird in einigen Beiträgen allerdings erst im Fazit aufgriffen. Denn wo sind die Akteur/-innen, welche eine „starke gleichstellungspolitische Stimme jenseits traditionellen Regierungshandelns“ (Lepperhoff, S. 41) bilden? Deshalb sind dem Werk auch unter denjenigen, welche sich politisch für Gleichstellung und/oder Familien einsetzen, viele Leser/-innen zu wünschen.

URN urn:nbn:de:0114-qn112107

Dipl. Jur. Maria Wersig

Freie Universität Berlin

Doktorandin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin; Arbeitsschwerpunkte: Recht der Geschlechterverhältnisse; Familienpolitik; Gleichstellungspolitik

Homepage: http://www.rechtundgeschlecht.de

E-Mail: mariawersig@googlemail.com

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