Zögernd voran… Zu den Perspektiven gewerkschaftlicher Aktivitäten in der Sexindustrie

Rezension von Wiebke Dierkes

Emilija Mitrović, Dorothea Müller (Hg.):

Sexarbeit – ein Beruf mit Interessensvertretung?

Working in the sex industry – Jobs with representation of interests?

Marburg: BdWi-Verlag 2009.

171 Seiten, ISBN 978-3-939864-08-0, € 12,00

Abstract: Der Band versammelt in internationaler Perspektive die sich teils diametral entgegenstehenden Positionen zur Sexarbeit im Allgemeinen sowie zur Frage der gewerkschaftlichen Interessenvertretung im Besonderen und lässt die Brisanz der Diskussion sowohl im feministischen als auch im arbeits(markt)politischen Diskurs erkennen. Leider bleibt die Debatte in einem grundsätzlichen Für und Wider verhaftet und vernachlässigt die Diskussion und Evaluation konkreter Bemühungen gewerkschaftlicher Organisierungsstrategien in der Sexindustrie. Zu Wort kommen fast ausschließlich Vertreterinnen von Gewerkschaften oder Organisationen, die Sexabeiter/-innen unterstützen. Nur zwei Beiträge stammen von Sexarbeiterinnen selbst.

Interessenvertretung von Prostituierten – eine Aufgabe der Gewerkschaften?

Die vorliegende Publikation dokumentiert die Beiträge der Internationalen Konferenz „European trade unions in debate with sexworkers“, die die Gewerkschaft ver.di und die Hans Böckler Stiftung 2006 in Berlin ausgerichtet haben.

Im Tagungsband wird versucht, die Spannbreite an Positionen in der grundsätzlichen Debatte um Arbeitsrechte und gewerkschaftliche Interessenvertretung für Sexarbeiter/-innen in Europa abzubilden. Aufgrund der Polarität der Meinungen gelingt dies, wobei viele der Beiträge die Ebene von sehr allgemein gehaltenen Erklärungen nicht verlassen. Die Auseinandersetzung konzentriert sich auf die Diskussion zwischen europäischen Gewerkschaftsvertreter/-innen. Kontroversen zwischen verschiedenen Organisationen von Sexarbeiter/-innen rund um die Themen Gewerkschaft und Arbeitsrecht werden nicht aufgegriffen, ebensowenig die Rolle von Kommunalverwaltungen, Arbeitgeber/-innen und Medien im Feld der Sexindustrie.

Im ersten Teil der Publikation finden sich mit den Beiträgen von Heide Pfarr (Hans Böckler Stiftung) und Dorothea Müller (ver.di, FB 13) Einführungsreden der Veranstalter/-innen. Während für Pfarr die Frage nach der Notwendigkeit einer gewerkschaftlichen Interessenvertretung noch zur Disposition steht, sieht Müller im 2002 verabschiedeten Prostitutionsgesetz einen klaren Arbeitsauftrag an die Gewerkschaften. Beide betonen die internationale Dimension der Sexarbeit. Die von Pfarr angesprochene Problematik von (migrantischer) Sexarbeit als Folge eines vor allem für Frauen begrenzten Zugangs zum legalen Migrationsprozess und legalen Arbeitsmarkt wird leider weder in ihrem Beitrag noch an anderer Stelle genauer analysiert.

Karl-Hermann Tjaden vom BdWi skizziert in seinem Beitrag die Debatten über Prostitution, die in der Arbeiterbewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts geführt wurden. Die aus sozialwissenschaftlicher Perspektive rekonstruierte Differenz der Positionen von Engels und Bebel auf der einen und Zetkin und Kollontai auf der anderen Seite ermöglicht es, die bis heute hitzigen Debatten in einem historischen Kontext zu sehen. Wichtig ist Tjadens Artikel darüber hinaus, weil er auf die desolate Forschungslage hinweist und Forschungslücken benennt.

Arbeit oder Gewalt? Sexarbeit in der europäischen Union

Diesen einleitenden Texten folgt ein Überblickstext von Emilija Mitrović und Agnieszka Zimowska zu den verschiedenen gesetzlichen Regelungen zur Sexarbeit in acht europäischen Nationen, wobei die Analyse auf Westeuropa konzentriert ist, Polen wird als einziges osteuropäisches Land angefügt. Mit Spanien ist nur ein Land dabei, das an einer EU-Außengrenze liegt und mit Migration aus dem globalen Süden in besonderer Weise konfrontiert ist. Die Auswahl der Länder erscheint willkürlich − die Spannbreite der Gesetzgebungen wird aber gut deutlich.

Auch hinsichtlich der Lage der Organisierung von Sexarbeiter/innen liefert der Beitrag einen guten Überblick. Gewerkschaften für Sexarbeiter/-innen gibt es hiernach in der Bundesrepublik, Großbritannien und den Niederlanden, also den Ländern mit den progressivsten juristischen Rahmenbedingungen, wohingegen es in den beiden Ländern mit der restriktivsten Gesetzgebung keine gewerkschaftliche Unterstützung oder Projekte mit arbeitsmarktpolitischer Ausrichtung für Sexarbeiter/-innen gibt: nämlich in Norwegen und Schweden.

Hand in Hand mit Menschenhändlern? Zum Zusammenhang von Sexarbeit und Menschenhandel

Mit dem Beitrag der frauenpolitischen Sprecherin des Bundes deutscher Kriminalbeamten, Heike Rudat, folgt sicher einer der interessantesten Artikel des Bandes, der aus einer Perspektive, die nicht gerade im Verdacht steht, Lobbyarbeit für die Sexindustrie zu leisten, den schwerwiegendsten Einwand gegen eine Legalisierung von Sexarbeit zurückweist: Rudat entkräftet − aus einer durchaus selbstkritischen polizeilichen Perspektive – die Behauptung, eine Legalisierung der Sexarbeit befördere den Menschen- bzw. Frauenhandel. Sie begründet dies damit, dass „Täter in diesem Deliktbereich häufig Orte nutzen, die von der Polizei nicht offen zu erkennen und zu kontrollieren“ (S. 79) seien, und plädiert dafür, die Tatgelegenheitsstrukturen zu minimieren. Sie betrachtet daher die Einführung des ProstG und die damit verbundene Legalisierung der Sexarbeit „als eine Chance bei der Bekämpfung des Frauenhandels durch das Sichtbarmachen eines bisher im Graubereich agierenden Wirtschaftsbereiches“ (S. 79).

Leider weist keine andere Autorin des Buches die Forderung Rudats zurück, nach der legal als Prostituierte arbeitende Personen ihre illegalisierten Kolleg/-innen − oder wie Rudat sie nennt: die „schwarzen Schafe“ − anschwärzen sollen (S. 78).

Derartige Strategien fördern bei unveränderter Gesetzeslage – nach der Menschen ohne Aufenthaltsstatus unabhängig von ihrer Situation die Abschiebung droht − lediglich die Bereitschaft zur Denunziation, und sie forcieren die Entsolidarisierung von Arbeiter/-innen in der Sexindustrie, was nicht im Interesse gewerkschaftlicher Aktivität liegen kann.

Zwischen Paternalismus und Empowerment – unterschiedliche Antworten europäischer Gewerkschaften

Diesen eher allgemein gehaltenen Artikeln folgen im dritten Teil des Buches Statements von Gewerkschafterinnen oder Sexarbeiterinnen aus Österreich, Frankreich, Schweden, Norwegen und Großbritannien, in denen die Situation in den jeweiligen Ländern vertiefend dargestellt wird. Leider wiederholt sich hier zu großen Teilen das, was bereits aus Mitrovićs Überblickstext bekannt ist. Neue Erkenntnisse bringen nur einige Beiträge, z. B. der aus Großbritannien sowie der aus Frankreich, in dem die französische Situation als ein aufreibender Abwehrkampf gegen abolitionistische Gesetze beschrieben wird, und der Bericht aus Norwegen, in dem die Autorin die Position der norwegischen Gewerkschaft bekräftigt, nach der Prostitution Gewalt gegen Frauen sei. Die norwegische Gewerkschaft weigert sich fast trotzig, die Sexbranche als funktionierenden Wirtschaftssektor anzuerkennen, analog dazu wird Prostitution als Beruf nicht anerkannt und gleichermaßen die Verbindung zur Diskussion über Arbeitsrechte der sich prostituierenden Personen zurückgewiesen. Prostituierte werden in dieser paternalistischen Sicht ausschließlich als Frauen und Opfer betrachtet.

Anders dagegen stellt die britische Autorin die Ambivalenzen der Thematik in den Mittelpunkt, bezieht ganz explizit Männer und Transgenderpersonen in ihre Vorstellung von Sexarbeiter/-innen mit ein. Sie verweist auf die in der Internationalen Erklärung der Menschenrechte niedergeschriebene Koalitionsfreiheit und betont abschließend, dass sich arbeitende Menschen am besten durch Selbstorganisierung in eigenen freien Gewerkschaften nachhaltig schützen können. Der norwegischen paternalistischen Sichtweise wird eine auf Selbstorganisierung und Empowerment zielende Strategie entgegengesetzt. Außerdem wird der Blick auf verschiedene Sparten der Sexbranche wie große Stripclubketten oder Telefonsexanbieter gelenkt. Ein positives Beispiel wie die Organisierung einer Stripclubkette, bei der ein Tarifvertrag durchgesetzt wurde, wird hier leider nur kurz beleuchtet. Eine Vertiefung wäre wünschenswert gewesen, um Anregungen für die hiesige gewerkschaftliche und betriebliche Praxis zu erhalten.

Auch die Gleichstellungsbeauftragte der europäischen Gewerkschaften bleibt in ihrem Statement sehr allgemein, mahnt jedoch an, dass bei allen Debatten vor allem die Ansichten und Erfahrungen derjenigen einzubeziehen seien, die in der Sexindustrie tätig sind oder waren. Eine Einsicht, die auch der vorliegenden Publikation gut getan hätte.

Fazit

Insgesamt gibt das Buch einen guten Einblick in die kontroverse Diskussion um Sexarbeit in der feministischen und arbeits(markt)politischen Debatte, geht allerdings argumentativ nicht über die bereits bekannten Auseinandersetzungen im Rahmen der Diskussion um die Einführung des ProstG im Jahr 2000 hinaus. Die im Band formulierten Positionen sind weitestgehend bekannt, in anderen Publikationen zur Genüge ausgetauscht worden und wirken erstarrt. Dem Buch fehlt es an ermunternden, aber auch zur Selbstkritik anregenden Beispielen aus der (gewerkschaftlichen) Praxis der letzten Jahre. Auch Überlegungen zur strategischen Mobilisierung, die durchaus von anderen schwer organisierbaren Arbeitsbereichen inspiriert sein könnten, fehlen: Wie schätzen beispielsweise gewerkschaftliche Organizer in ver.di die Situation ein? Ebenso fehlt ein selbstkritischer Blick in die Gewerkschaften hinein: Welchen Stellenwert haben Sexarbeiter/-innen für die vor Ort handelnden Gewerkschaftsfunktionär/-innen selbst? Ist die Sexindustrie eine Branche, deren Organisierung überhaupt erwünscht ist? Das Nicht-Thematisieren im Band lässt darauf schließen, dass diese interne Diskussion mit den handelnden Gewerkschaftssekretär/-innen bisher nicht erschöpfend geführt wurde.

Es fehlt weiterhin eine Analyse des Arbeitsfeldes Sexindustrie und seiner vielen unterschiedlichen Sparten und wenigstens der Versuch einer Beschreibung der Berufsrealität von Sexarbeiter/-innen. Es sei angemerkt, dass es für diesen Bereich leider zu wenige empirische Daten gibt, die eine genauere Analyse möglich machen würden.

Die von vielen Prostituierten formulierte Kritik am ProstG und den von ver.di ausgearbeiteten Musterarbeitsverträgen wird nicht aufgegriffen. Eine Diskussion darüber, das dieses Gesetz und die vorgeschlagenen vertraglichen Regelungen aus Sicht der Prostituierten unzulänglich sind, scheint jedoch unabdingbar, wenn eine gewerkschaftliche Strategie für die Organisierung der Sexindustrie ernsthaft erarbeitet werden soll. Spannend wäre auch gewesen, andere Akteur/-innen wie den Berufsverband sexueller Dienstleistungen als Vertreter der Arbeitgeberseite mit in die Gedankenspiele um Zukunftsperspektiven der Gewerkschaften in der Sexbranche einzubeziehen.

Trotz aller Kritik: Der vorliegende Band zeichnet sich dadurch aus, dass er immer wieder nachdrücklich auf die enge Verbindung der Situation von Sexarbeiter/-innen mit der europäischen Einwanderungspolitik und begrenzten legalen Zugängen zum europäischen Arbeitsmarkt gerade auch für Frauen aufmerksam macht, auch wenn diese Thematik leider nicht zufriedenstellend − weil nicht tiefergehend − bearbeitet wird.

URN urn:nbn:de:0114-qn111064

Wiebke Dierkes

Jugendbildungswerk Landkreis Gießen, Philipps Universität Marburg

Zentrum für Gender Studies und feministische Zukunftsforschung (Philipps Universität Marburg)

E-Mail: wiebkedierkes@web.de

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