Wandel trotz Persistenz: Über theoretische und pragmatische Aspekte aktueller Männlichkeitskonstruktionen

Rezension von Katharina Pühl

Nina Bauer, Jens Luedtke (Hg.):

Die soziale Konstruktion von Männlichkeit.

Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2008.

290 Seiten, ISBN 978-3-86649-110-6, € 24,90

Abstract: Der Band versammelt neuere, vorwiegend empirisch basierte Beiträge aus der Geschlechterforschung der Soziologie. Im Fokus stehen die Konstruktionsprozesse hegemonialer Männlichkeiten im Kontext gesellschaftlicher Transformationsprozesse in Deutschland. Forschungsperspektiven für zukünftige wissenschaftliche Studien werden benannt, allen voran die Notwendigkeit, in einem stärkeren Maße eine intersektionale Perspektive einzunehmen, die die Diskurse der kritischen feministischen Genderforschung noch mehr als bisher für die Männerforschung produktiv machen könnte.

Als leitend für die Beiträge dieses Sammelbandes zur neueren deutschen soziologischen Männlichkeitsforschung formulieren die Herausgeber/-innen die Frage, welche Desiderate die deutschsprachige Debatte gegenüber den im anglo-amerikanischen Raum seit längerer Zeit und bereits sowohl empirisch wie theoretisch differenziert geführten Diskussionen in den Men’s Studies aufweist. Deutschland ist auch geographischer Bezugshorizont der überwiegend empirisch angelegten Analysen, mit einem deutlichen Schwergewicht auf westdeutsche Verhältnisse.

Konsequent gehen die Beiträge von der These der sozialen Konstruiertheit der Kategorie Geschlecht – und also auch von Männlichkeiten – aus. Nicht biologische Eigenschaften, sondern soziale und kulturelle Handlungsmuster bilden die hegemonialen Konstruktionen und damit Normen und dominante Praxen von Männlichkeiten aus. Drei Forschungshorizonte eröffnet der Band: Zunächst geht es um die Weiterentwicklung der Konstruktionsthese im Feld von Männlichkeitsforschung. Anschließend beleuchten empirische Untersuchungen den Wandel von Männlichkeiten im Zuge der Transformation der Erwerbsarbeit und des Verhältnisses von Beruf und Familie. Im dritten Abschnitt wird die Abgrenzung gegenüber „abweichenden“ Männlichkeiten unternommen.

Hegemonietheorie

Entsprechend steht auch – wie im Untertitel benannt – Raewyn Connells Theorem der hegemonialen Männlichkeiten als zentrale Analyseperspektive im Vordergrund. Seit den 1990er Jahren in der Diskussion, hat sich ihre These, dass Männlichkeiten plural zu denken sind und sich durch Dominanzverhältnisse gegenüber Frauen, aber vor allem auch gegenüber unterschiedlich konstruierten Männlichkeiten innerhalb der Genusgruppe Männer kennzeichnen lassen, als produktiver Ansatz konturiert. Das poststrukturalistische Unbehagen an allzu eindeutig auf vermeintlich klar abgegrenzte Identitäten setzenden Analysen der Geschlechterforschung bettete Connell in die hegemonietheoretische Fragestellung nach vergeschlechtlichten (männlichen) Subjektivierungsweisen in institutionellen, libidinösen und diskursiven Strukturen ein (dt. zuerst in Der gemachte Mann 1999). Diese Perspektive erlaubte eine differenzierende Ansprache der Dynamiken männlicher Positionierungsweisen, Rollendefinitionen und der mehr oder weniger bewussten performativen Handlungsweisen in alltäglichen, in institutionellen und in diskursiven Praxen gesellschaftlichen Handelns in Machtzusammenhängen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Connells Theorem in seiner analytischen Tiefenstruktur, die aus klassenbezogener Gesellschaftsanalyse gespeist ist, auch in der deutschen Rezeption entsprechend aufgenommen wird. Leitende These dieser Rezension ist, dass lediglich eine verflachte Variante ihres Konzepts hegemonialer Männlichkeiten durchgereicht wird.

Deutlich wird dies an der unentschieden-fragenden Benennung des dritten Abschnitts des Buches, der unter der Überschrift „‚abweichende‘ Männlichkeiten in Subgruppen?“ gefasst ist. Hier werden von der hegemonialen Geschlechternorm ausgeschlossene oder abgewertete Männlichkeitskonstruktionen bzw. Männerbilder in nicht hegemonialen sozialen Gruppen untersucht: Skins, Schwule und Lesben (!), Männer als Freier im Feld der Prostitution, Migranten und ihre Positionierung in der Mehrheitsgesellschaft sowie Gewaltbereitschaft bei Schülern. Gerne hätte man sich zu den im Einzelnen spannenden, empirisch redlichen und aufschlussreichen Beiträgen einordnende Bemerkungen der Herausgeber/-innen oder auch der Autor/-innen gewünscht, die dieses vielgestaltige Andere der hegemonialen Norm differenzierend würdigen. Den Charakter hegemonialer Machtverhältnisse macht ja nicht lediglich die Exklusion bestimmter Gruppen aus einer dominanten sozialen Norm aus, vielmehr geht es um die spezifische Einbindung ihrer antagonistischen Positionierung in ein hegemoniales Ganzes, das Widersprüche einhegen, machtförmig binden und strukturieren kann. Nur solange dies möglich ist, kann von Hegemonie gesprochen werden; bricht diese machtförmige Formierung auf, geht die relative Stabilität einer hegemonialen Einhegung verloren – ist dann von Krise zu sprechen?

Männlichkeit und Erwerbsarbeit

Die relationale Dimension veränderter Geschlechterpraxen muss im alltäglichen Umfeld, im konkreten Arbeits- und Machtzusammenhang einer lebensbiographischen Situation wie auch in der institutionellen Einhegung geschlechtsspezifischer Optionen in der Erwerbsarbeit beurteilt werden; und diese Dimensionen sind, wie auch schon in der bürgerlichen Gesellschaft und dem daraus geronnenen Normativ des Familienernährers, widersprüchlich organisiert bzw. strukturiert.

Taktiken und strategischer Essentialismus (vgl. Paul Scheibelhofer: „Ehre und Männlichkeit bei jungen türkischen Migranten“ 2008) im Umgang mit unterschiedlichen hegemonialen Männlichkeitskonstruktionen und -angeboten lassen die kreative Varianz erkennen, mit der jüngere Migranten ihre Position als Mann mit Herkunftsbiographie und Einwanderungsgeschichte konstruieren und legitimieren. Sowohl die Bezugnahme auf ihre Herkunftsgesellschaft und deren Standards normativer und praktischer Erwartungen an sie als Mann und Familienernährer als auch das Leben in Deutschland erlauben neue Formen des Selbstentwurfs, bezogen auf die männliche Fürsorge für Kinder und Familie wie auf die berufliche Orientierung und deren Wichtigkeit im Verhältnis zu Familienaufgaben. Allerdings, und das ist ein struktureller Befund in verschiedenen empirischen Untersuchungen dieses Buches, thematisieren sie sich über ihre Migrations- bzw. Berufsbiographie und nicht über ihre Rolle in der Familie, auch wenn sie deutlich fürsorgende Verantwortung übernehmen. Die hegemoniale Norm legt nahe, dass gelungene Männlichkeit über die erfolgreiche Rolle bzw. Performance von Männern in der Erwerbsarbeit organisiert und kommuniziert wird, die damit nach wie vor eine dominante Bedeutung in der gesellschaftlichen und subjektiven Selbstverortung von Männern einnimmt – gleich, wie die konkreten individuellen Verhältnisse liegen mögen.

Durch (im Buch nicht gezogene) Querverbindungen der Beiträge erschließen sich nun Perspektiven auf die umfassende Wirkung von hegemonialen Normen im Sinne Connells. Sylka Scholz präsentiert Ausschnitte aus ihrer Forschung zu ostdeutschen Lebensverhältnissen. Sie sind vielfältig durch Langzeitarbeitslosigkeit insbesondere von Männern geprägt. Ähnlich wie die jungen Migranten entwerfen sich die befragten Männer trotz Erfahrungen radikaler Umstrukturierung ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse mit „Betriebs- und Berufswechsel, Umschulungen, beruflichen Weiterbildungen, Neuorientierungen im laufenden Studium, Phasen von Arbeitslosigkeit“ (S. 109) in kohärenten beruflichen Identitäten. „Aus der Perspektive der Gegenwart wird eine in sich geschlossene Berufsgeschichte zusammengebastelt.“ (S. 110) Die Autorin interpretiert diesen Umstand als die zentrale Bewältigungsstrategie in der Verarbeitung von Diskontinuitäten und Brüchen in der Erwerbsbiographie und rekonstruiert die ihr jeweils zugrunde liegende Konstruktionslogik.

Dabei zeigen sich, und dies ist im Sinne einer tatsächlich hegemonialen Wirksamkeit von Männlichkeitsnormen zu verstehen, spezifische Strukturelemente quer zu unterschiedlichen sozialen Lagen der Befragten. Die Selbstentwürfe beziehen sich immer auf andere Männer ihres beruflichen Umfeldes. „Zentral für die Konstruktion von Männlichkeit waren […] die Gemeinsamkeit und die Hierarchien unter Männern. Die Integration von Frauen in das Erwerbssystem führte in den Darstellungen zu einer Paradoxie: Einerseits wurden die weiblichen Kollegen aus der Lebensgeschichte „herausgeschrieben“, indem über sie nicht erzählt wurde, andererseits wurden sie von den interviewten Männern auf Nachfrage hin als gleichwertig anerkannt. Mit der Dethematisierung der Kolleginnen stellen die Interviewten männliche Dominanz her, die aber ihrer Orientierung an der Gleichheit der Geschlechter und der Gleichberechtigung der Frauen widersprach.“ (S. 115)

Normativ sind also Männlichkeit und Erwerbsarbeit zentral gekoppelt, bilden einen hegemonialen Verweisungszusammenhang, in dem Familie und fürsorgende Tätigkeiten von Männern, selbst solchen, die sie gewünschtermaßen in relevantem Umfang praktisch ausüben, immer noch eine nachgeordnete Bedeutung für die subjektive Identitätserzählung haben. Dies gilt für West- wie Ostdeutschland, bei aller gegebenen Differenz sozialer Strukturen und ökonomischer Entwicklung.

Haus- und Familienarbeit

Auch Karsten Kassner geht diesen Paradoxien in seinem sehr erhellenden und aufschlussreichen Beitrag („Männlichkeitskonstruktionen von ‚neuen Vätern‘“) nach. Die Einführung des sogenannten Elterngeldes Anfang 2007 verändert zumindest von den gesetzlichen Möglichkeiten her die Situation für Väter, die ihrem Bedürfnis nach Sorge nachkommen möchten, erheblich. Der Autor grenzt allerdings die Rede von den „neuen Vätern“ gegen das emotionale Bedürfnis nach Väterlichkeit und einem dichteren Kontakt zu den eigenen Kindern ab – mit dem Verweis auf die alltagspraktisch zu rekonstruierenden Strukturmerkmale von Vätern, die die sogenannte Vereinbarkeit von Familie und Beruf neu gestalten wollen. Wie Väterlichkeit und Männlichkeit zusammengehen können, steht gesellschaftlich zur Verhandlung.

Kassner betont, wie wichtig neben kollektiven Diskursen und Leitbildern die individuellen Rahmenbedingungen von Möglichkeiten neuer Vaterschaft sind, etwa, wie männliche Kollegen und Vorgesetzte im Betrieb eine Entscheidung für Elternzeit mittragen. Ob also die „diskursive Modernisierung der Alltagsverhältnisse“ gelingen kann, hängt von vielen Faktoren ab. „Zwar übernehmen Männer vermehrt kindbezogene Tätigkeiten und auch Teile der Hausarbeit, überlassen die Gesamtverantwortung aber gerne ihren Partnerinnen. Diesen fällt es andererseits auch nicht immer leicht, abzugeben, loszulassen und sich ergebnisoffen über Standards der Aufgabenerledigung zu verständigen.“ (S. 146)

Ausblick

Es werden Bedingungen hegemonialer Männlichkeit benannt, die sich nicht allein über die Forschung an Männern wird aufhellen lassen. Die wechselseitige Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit in Bezug auf Diskurse von Erwerbsarbeit und Familienarbeit, von work-life-balance wird nur im Rahmen eines gesellschaftsanalytischen Konzepts hegemonialer Geschlechterverhältnisse sinnvoll einzuordnen sein. Entsprechend werden in den Beiträgen des Bandes notwendige weitere Verzahnungen mit den vor allem im feministischen und postkolonialen Diskurs formulierten Aufgaben einer intersektionalen Analyse betont – sie bleiben hier aber noch Programm.

Verdienst der engagierten Untersuchungen, die in diesem Band zusammengefasst sind, ist ihr Bestreben, die abstrakte Höhe einer These von hegemonialer Männlichkeit in konkrete empirische Fragestellungen zu übersetzen, damit überhaupt ein konkretes Bild derzeitiger Praxen von Männlichkeit und Väterlichkeit entstehen kann. Desiderat bleibt die Verknüpfung mit Debatten zu Intersektionalität, zu postkolonialen Studien und Queer Studies, die die empirisch redliche, aufschlussreiche und wichtige Forschung zu Männlichkeit in Familie und Beruf ergänzen und mit der Frage weiten könnten, welchen Preise hegemoniale Geschlechterverhältnisse auch jenseits der Genusgruppen gegenwärtig haben. Damit würde der Horizont geöffnet zu einer hegemonietheoretischen Fragestellung, nach der, mit Bourdieu gesprochen, die Konstruktion und Praxis von Männlichkeit/en eine Frage der „Strukturübung“ ist (vgl. Michael Meuser: „Ernste Spiele. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Wettbewerb der Männer“, S. 41)

URN urn:nbn:de:0114-qn103313

Katharina Pühl

Freie Universität Berlin

Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung der Freien Universität Berlin und Koordinatorin des Weiterbildenden Master-Studiengangs Gender und Diversity

E-Mail: katharina.puehl@fu-berlin.de

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