„Aus dem Rahmen gefallen?“ Kriegerwitwen in der Bundesrepublik zwischen Fürsorge, Familie und Erwerbsarbeit

Rezension von Petra Behrens

Anna Schnädelbach:

Kriegerwitwen.

Lebensbewältigung zwischen Arbeit und Familie in Westdeutschland nach 1945.

Frankfurt am Main u.a.: Campus Verlag 2009.

366 Seiten, 978-3-593-38902-8, € 36,90

Abstract: Anna Schnädelbach untersucht in ihrer Dissertation die Strategien der individuellen Lebensbewältigung von Kriegerwitwen, ihre Handlungsspielräume und ihre Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung der Kriegsopferversorgung in Westdeutschland nach 1945. Durch eine Verbindung von erfahrungsgeschichtlichen Ansätzen und historischer Diskursanalyse verknüpft sie den Blick auf die Kriegerwitwen als handelnde Subjekte mit einer Analyse der zeitgenössischen Debatten über Lage und Verhalten der Witwen auf den zentralen Konfliktfeldern Versorgung, Ehe/Familie und Erwerbsarbeit. Dabei wird deutlich, wie sich die Frauen verschiedene sie betreffende Diskurse aneigneten, für die Artikulation eigener Interessen nutzten und eigenes soziales und kulturelles Kapital in der Auseinandersetzung mit den Behören aktivierten.

Fragen nach den Geschlechterverhältnissen und der Bedeutung von Ehe und Familie in der westdeutschen Nachkriegszeit stehen seit langem im Fokus der historischen Frauen- und Geschlechterforschung. Dabei wurden die Folgen einer Orientierung an Ehe und „Normalfamilie“ für die Situation und die gesellschaftliche Positionierung von „alleinstehenden“ Frauen und „unvollständigen“ Familien hervorgehoben. Durch die Festschreibung von Ehe und Familie als zentraler Norm im bundesdeutschen Familienrecht fielen „alleinstehende“ Frauen scheinbar aus dem Rahmen dessen, was als gesellschaftliche Normalität angesehen wurde.

Anna Schnädelbach greift in ihrer Untersuchung, die als Dissertation an der Universität Kassel entstanden ist, die Metapher des „Aus-dem-Rahmen-Fallens“ (S. 12) auf. Sie fragt nach den Strategien der individuellen Lebensbewältigung von Kriegerwitwen, ihren Handlungsspielräumen und ihren Erfahrungen mit der praktischen Umsetzung der Kriegsopferversorgung in Westdeutschland im Zeitraum von 1945 bis 1960. Damit widmet sie sich einer Gruppe von Frauen, deren spezifische Situation bisher nur unzureichend erforscht ist. Thematisiert wurden die Situation und die Selbstbilder der ca. eine Million Kriegerwitwen in der Bundesrepublik bisher vor allem im Kontext der Kriegsopferversorgung sowie im Rahmen von Untersuchungen über alleinstehende Frauen.

„Doing gender“ – „doing Witwe“

Für Anna Schnädelbach unterscheidet sich die Situation der Kriegerwitwen von der anderer „alleinstehender“ Frauen aufgrund mehrerer Faktoren: So war ihre Lage zum einen durch den Krieg verursacht und verwies immer auch auf diesen zurück. Dadurch waren sie nicht nur von Debatten über die Geschlechterverhältnisse, sondern auch von Fragen nach dem Umgang mit den Kriegsfolgen betroffen. Die Kriegerwitwen unterschieden sich von anderen Frauen aber auch durch ihren Zivilstand, der sie in Bezug zum gefallenen Ehemann setzte. Sie waren nicht nur als Frauen, sondern auch als Witwen sichtbar und von spezifischen Zuschreibungen und Verhaltenserwartungen betroffen und damit „nicht nur einem ‚doing gender‘, sondern auch einem ‚doing Witwe‘ unterworfen und selbst daran beteiligt.“ (S. 46)

Kriegerwitwen als historische Akteurinnen

Die Autorin stellt die Kriegerwitwen als „über sich sprechende und individuell handelnde“ (S. 10) Akteurinnen in das Zentrum ihrer Untersuchung. Durch eine Verbindung von erfahrungsgeschichtlichen Ansätzen und historischer Diskursanalyse verknüpft sie den Blick auf Kriegerwitwen als historische Subjekte mit einer Analyse der zeitgenössischen Debatten um die Lage und das Verhalten der Witwen. Indem die Aushandlungsprozesse zwischen verschiedenen Akteur/-innen innerhalb des sozialen Raumes in ihrer Wechselwirkung mit gesellschaftlichen Diskursen analysiert werden, wird gezeigt, dass die Witwen nicht nur durch gesellschaftliche Machtverhältnisse konstituiert wurden, sondern diese mit herstellten und aktiv an der Konstruktion ihres eigenen Bildes beteiligt waren. So gelingt es Schnädelbach, den Handlungsstrategien und dem „Eigensinn“ der Kriegerwitwen jenseits von bloßer Unterwerfung oder offener Auflehnung auf die Spur zu kommen. Während Kriegerwitwen in der medialen Öffentlichkeit der 1950er Jahren kaum präsent waren, versuchten sie durchaus in ihrem sozialen Umfeld, gegenüber Behördenvertreter/-innen, mit denen sie in der Frage der Versorgung verhandelten, sowie durch Briefe an Regierungsvertreter ihre Anliegen öffentlich zu machen.

Die Untersuchung basiert auf unterschiedlichen Quellengattungen. Hierbei handelt es sich – im Hinblick auf die spezifische Situation der Witwen und ihre Handlungsstrategien – um einen Bestand von Marburger Fürsorgeakten aus den späten 1940er und frühen 1950er Jahren sowie um eine Sammlung von Briefen an den damaligen Bundesfamilienminister Franz-Josef Wuermeling aus den Jahren 1953 bis 1959, die sich im Bundesarchiv Koblenz befindet. Zudem werden Presseartikel, veröffentlichte Äußerungen von Politiker/-innen, Regierungsmitgliedern, Frauen-, Wohlfahrts- und Kriegsopferverbänden und der Kirchen ausgewertet. Aber auch Arbeiten von Familiensoziologinnen und -soziologen, eine umfangreiche Ratgeberliteratur sowie populärwissenschaftliche Werke werden in die Analyse der die Witwen betreffenden Diskurse einbezogen.

Zunächst geht Schnädelbach auf die rechtlichen und sozialen Rahmenbedingungen ein. Sie stellt heraus, wie die komplexen Lebenslagen der Frauen in den von Vorannahmen geprägten Diskussionen und Statistiken ausgeblendet wurden und sie stattdessen auf der Basis der gemeinsamen Erfahrung des Verlustes des Ehemannes im Krieg als einheitliche Gruppe konstruiert wurden. Unterschiede aufgrund von Alter, sozialer Herkunft, Kinderzahl etc. wurden dabei ebenso ausgeklammert wie die körperlichen und seelischen Belastungen der Frauen aufgrund der Verlusterfahrung, traumatischer Kriegserlebnisse und der Probleme der Alltagsbewältigung.

Versorgung, Ehe und Familie sowie Erwerbsarbeit als zentrale Konfliktfelder

Die weitere Untersuchung gliedert sich in drei Bereiche, die die zentralen Konfliktfelder der Wahrnehmung und des Alltags der Kriegerwitwen markierten: Versorgung, Ehe/Familie und Erwerbsarbeit.

Anhand der Marburger Fürsorgeakten durchleuchtet sie die Grenzen und Handlungsspielräume der verschiedenen Akteur/-innen in der behördlichen Öffentlichkeit der Fürsorgeämter. Deutlich wird, dass die Frauen ihre eigenen Interessen durchaus offensiv vertraten und dass Spielräume beim persönlichen Kontakt mit der Behörde bestanden. Dabei agierten sie nicht nur in ihrer Rolle als Witwen, sondern vor allem als Mütter, Töchter oder Schwiegertöchter und als Haushaltsvorstände, und somit aus unterschiedlichen Subjektpositionen. In die Auseinandersetzung mit den Ämtern brachten sie zudem unterschiedliche Vorerfahrungen und unterschiedliches soziales und kulturelles Kapital ein. Die Fürsorge erwies sich im Hinblick auf die Kriegerwitwen als weniger „gendered“ als die Regelungen der Kriegsopferversorgung, die die Frauen auf die Position der hinterbliebenen Ehefrau reduzierten. Vor allem der Ausfall des „Ernährers“ sollte dabei durch die Hinterbliebenenrente gelindert werden.

Dieses wird auch in den von Schnädelbach untersuchten Debatten um die „eheähnlichen“ Lebensgemeinschaften von Witwen, die sogenannten Onkelehen, deutlich, die eine Schlüsselrolle in der öffentlichen Wahrnehmung von Kriegerwitwen Mitte der 1950er Jahre spielten. So verloren Frauen bei einer erneuten Heirat ihre staatliche Unterstützung und erhielten bis 1960 nur eine geringe Abfindung, da die Behörden davon ausgingen, dass ein neuer Ehemann die finanzielle Verantwortung für die Witwe und ihre Kinder übernehmen würde. Ehe und „Normalfamilie“ blieben die Maßstäbe, mit denen das Verhalten der Kriegerwitwen beurteilt wurde. Anhand der Briefe von Betroffenen an den Bundesfamilienminister wird offensichtlich, wie schwer es für die Witwen und ihre Partner war, angesichts der engen Verknüpfung von moralisch-sittlichen und finanziellen Argumenten, mit denen die „Onkelehe“ bewertet wurde, diese überhaupt zu führen. Sie waren zudem selbst in die zentralen Diskurse um Ehe und Familie verstrickt.

Die Debatten um die Erwerbsarbeit von Kriegerwitwen sowie die ungenügenden beruflichen Fördermaßnahmen machen deutlich, dass Erwerbsarbeit für die bundesdeutsche Regierung keine Option darstellte, mit der die Kriegerwitwen sozial gesichert werden sollten. Als Hauptargument gegen die außerhäusliche Erwerbsarbeit wurde die Betreuung und Erziehung der Kinder als große und alleinige Verantwortung der Witwe bekräftigt. Dabei sollte sie den Verlust des Vaters ausgleichen, dessen Erbe es zu bewahren galt. Eine generell kritische Sicht auf weibliche Erwerbsarbeit bildete auch den argumentativen Bezugsrahmen, aus dem heraus die Witwen selbst ihre eigene Berufstätigkeit, wenn die staatliche Versorgung nicht ausreichte, rechtfertigten.

Fazit

Anna Schnädelbach zeigt in ihrer Untersuchung, wie in den Debatten auf ältere Diskurse über Witwenschaft zurückgegriffen wurde, diese jedoch für die spezifische Situation in der Bundesrepublik umgearbeitet wurden. Die Frauen eigneten sich die Diskurse auf unterschiedliche Weise an, nutzten sie, um eigene Interessen zu artikulieren, und aktivierten vielfältige Ressourcen. Sie sprengten damit nicht das vorgegebene Bild, setzten in den Rahmen aber Aspekte eines eigenen Lebens.

Insgesamt stellt die Arbeit von Anna Schnädelbach einen wichtigen Beitrag zur Geschlechtergeschichte und zur Geschichte der westdeutschen Sozialpolitik dar. Die Verbindung von historischer Diskursanalyse und erfahrungsgeschichtlichen Ansätzen stellt sich dabei als äußerst fruchtbar heraus. Gleichzeitig ergeben sich jedoch aufgrund der Quellensituation deutliche Grenzen. So verweist die Autorin einleitend auf die fehlende Zugänglichkeit bzw. archivalische Aufbereitung der Akten der Versorgungsämter. Durch die hieraus resultierende weitgehende Beschränkung auf den Bereich der Fürsorge bleiben die spezifischen Probleme bei der Umsetzung des Bundesversorgungsgesetzes, das signifikante Differenzierungen innerhalb des Kreises der versorgungsberechtigten Witwen vornahm, sowie dessen Auswirkungen auf den Alltag und die Handlungsspielräume der Witwen ebenso ein Forschungsdesiderat wie die vergangenheitspolitischen Aspekte bei Debatten um die Einführung der Kriegsopferversorgung.

URN urn:nbn:de:0114-qn103132

Dipl. Pol. Petra Behrens

Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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