Zu Recht vergessen? Hans Blüher als Vordenker

Rezension von Stefan Müller

Claudia Bruns:

Politik des Eros.

Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880–1934).

Köln u.a.: Böhlau Verlag 2008.

546 Seiten, ISBN 978-3-412-14806-5, € 44,90

Abstract: Quer zur Standardrezeption analysiert Claudia Bruns in ihrer Dissertation Blühers Konzeption von Mann, Männlichkeit und mann-männlicher Beziehung unter besonderer Berücksichtigung damit einhergehender Ausschlüsse. Zentral legt sie das Konzept des Männerbundes zugrunde, das den Dreh- und Angelpunkt der vorliegenden Untersuchung bildet, und zieht die Theorien Blühers als paradigmatisches Beispiel dafür heran. Dieses Vorgehen ist aus verschiedenen Gründen klug gewählt und vorteilhaft. Bislang ist kaum der ideologisch vielschichtige Gehalt von Diskussionen, wie sie Blüher führte und führen konnte, in die Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften eingegangen. Zudem gab es bislang kein Gesamtverzeichnis der Schriften Blühers, wodurch die Rezeption erschwert wurde, und das sich nun im Anhang der Arbeit dankenswerterweise findet.

Die Werke von Hans Blüher (1888-1955), Schriftsteller und Wandervogelchronist, erreichten im ausgehenden Wilhelminischen Kaiserreich und der Weimarer Republik einen hohen Grad an Verbreitung, seine Ideen wurden weithin diskutiert. Rezeptionsgeschichtlich wird häufig davon ausgegangen, dass Blüher zeitlebens nicht nur als Sonderling und Kauz verschrien war, sondern den Linken zu rechts, den Rechten zu links, den Konservativen zu progressiv, den Progressiven zu völkisch, den Völkischen und Antisemiten zu schwul, den Feminist/-innen zu antifeministisch war.

Erfreulicherweise geht die Arbeit von Bruns darüber hinaus und lässt sich nicht von der Sogwirkung der scheinbar emanzipatorischen frühen Bestrebungen Blühers irreleiten, in der er in deutlichen Worten eine Abschaffung des § 175 RStGB fordert, der homosexuelle Handlungen unter Strafe stellte. Blüher äußerte sich bereits zu einem frühen Zeitpunkt zu Fragen einer sich gerade erst abzeichnenden Homosexuellenbewegung, die für ihn zeitlebens nur aus mann-männlicher Perspektive von Interesse war.

Blüher – der Wandervogelchronist

Blühers Bestreben war zunächst ganz auf die Wandervogelbewegung gerichtet. Bereits hier erweist sich die Stärke der Untersuchung von Bruns, weil die der Standardinterpretation Blühers entgegenstehenden Momente bereits für diesen frühen Zeitraum herausgearbeitet werden können. Blühers Kampf gegen den § 175 RStGB, sein Engagement für die langsam und unter schwierigen Bedingungen einsetzende Homosexuellenbewegung, war nicht dadurch motiviert, freie und gleichberechtigte Partnerschaftsmodelle und Sexualitäten zu fordern. Blühers Interesse galt dem mann-männlichen Bund und dem Körper, der auf Wanderungen zu stählen war. „Bereits vor dem Ersten Weltkrieg lagen alle zentralen Elemente des männerbündischen Diskurses bereit: die konstitutive Bindung an einen Führer, die abgestufte interne Hierarchie, die Bezugnahme auf einen männlichen Ursprung (sei er nun archäologisch, völkerkundlich oder sexualwissenschaftlich legitimiert), die antibürgerliche Rebellion als romantische Selbstschöpfungsphantasie sowie die politische Ausgrenzung von Frauen, nicht-bürgerlichen Klassen und ‚rassisch Anderen‘.“ (S. 387) Ideologisch versuchte sich Blüher an einer Begründung eines mann-männlichen Bundes, praktisch errichtete er sein Ideal im gemeinsamen Duschen in der Wandervogelbewegung.

Blüher – der Kämpfer

Blühers Engagement gegen gesellschaftliche Unzumutbarkeiten und Verfolgungen führte ihn zu einer Idealisierung, die insbesondere auf den abgehärteten männlichen Körper zentriert war. „Die vorliegende Analyse macht nicht zuletzt deutlich, wie sich das Projekt antibürgerlicher Befreiung und homosexueller Emanzipation in die Sorge um virile, germanische Männlichkeit verkehrte.“ (S. 17) Dass kryptofaschistischer Körperkult mit einer Glorifizierung des mann-männlichen Bundes und eines schwulen Körpers einhergehen kann, erweist sich bei Blüher unmittelbar. Die von Blüher eingeforderten Rechte grenzten sich für ihn von allem ab, was er als gefährlich betrachtete: zunächst in erster Linie Frauen, später Juden. „Waren in Blühers Schriften zwischen 1912 und 1916 noch Frauen die primären Gegner, so wurden sie nach dem Ende der Krieges von Juden abgelöst, die für Blüher zugleich zum Inbegriff des Unmännlichen, Undeutschen und Ungeistigen wurden.“ (S. 16)

Darüber hinaus?

Deutlicher noch hätten die entscheidenden Abgrenzungen zur Freud’schen Psychoanalyse, der sich Blüher bruchstückhaft bediente, herausgearbeitet werden können, um sichtbar zu machen, dass Blüher allenfalls Versatzstücke gebrauchte. Auch die nahezu ausschließliche Einbettung der Untersuchung innerhalb poststrukturalistischer, postmoderner Theorien verstellt zuweilen den Blick auf gesellschaftlich vorgängige Strukturen. Der recht knapp gehaltene Schlussteil, der zudem mit Hinweisen auf Blühers Wirken nach 1933 und nach 1945 geizt, schmälert dennoch nicht den Gehalt der Untersuchung. Das zusammengetragene Material, die vielfältigen Anregungen und die Analyse und Schlussfolgerungen lassen ein Gesamtbild entstehen, das Orientierungs- und Referenzpunkt für zukünftige Forschungen ist. Sowohl die weitere Auseinandersetzung mit dem Wirken Blühers als auch Diskussionen, die sich dem Phänomen der Männerbünde, den ideologischen Konstellationen im Wilhelminischen Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus kritisch auseinandersetzen, finden in der vorliegenden Untersuchung einschlägiges Material, Analysekategorien und entscheidende Einsichten.

Blüher – der Antidemokrat

Bruns liefert durch ihre akribische Darstellung und Auswertung das geeignete Material, um die Mythen, die Blüher bis heute umwehen, offenzulegen: die scheinbar emanzipatorischen (Früh-) Schriften werden auf ihren ideologischen, vor allem ausschließenden Gehalt hin überprüft, untersucht und dargestellt. Blühers antidemokratische Bestrebungen in der Weimarer Republik werden folgerichtig in die konservativ-völkische Revolution eingeordnet. Aus dieser Perspektive zeigt sich die ganze Stärke einer ideologiekritischen Untersuchung: Nicht nur die antimodernen Motive der völkischen Revolution (Volk, Blut, Boden, Männerbund), sondern gerade auch der Einbezug höchst moderner Elemente zeichnen die antidemokratischen, völkischen Vordenker in der Weimarer Republik aus. So erweiterte Blüher den Antisemitismus, indem er ein ‚geistiges Prinzip‘ einführte, das ‚das Jüdische‘ auszeichne. Der Jude solle nicht mehr nur durch Abstammung zu erkennen sein, sondern bilde nunmehr ein ‚geistiges Prinzip‘ aus, das freilich dem mann-männlichen Körper-, Staats- und Nationenverständnis entgegenstehe. Auch hier übernahm Blüher eine gewisse Avantgarde-Funktion, in der er Motive, die erst später gesellschaftliche Wirkmächtigkeit erlangen sollten, bereits vorausdachte. „Die antimoderne Stoßrichtung der konservativ-revolutionären Programmatik machte diese keineswegs zu einem vormodernen Phänomen. Charakteristisch war vielleicht eine Integration moderner Elemente, die sich bereits in der Adaption moderner Begrifflichkeiten wie dem der Bewegung, des Bundes oder der Revolution andeutet.“ (S. 429)

Blüher – der Antisemit

Den Mythen, die bis heute die Rezeption Blühers erschweren, kann Bruns durch den von ihr gewählten Blickwinkel entgehen und gleichsam ihrer Unwahrheit überführen. Die konservative Revolution in Deutschland der 1920er Jahre war nicht nur rückwärtsgewandt, kaisertreu und antifeministisch, sondern in entscheidenden Hinsichten modern (revolutionär, antibürgerlich) und brachte begrifflich scheinbar schwer Vereinbares zusammen, das politisch erst später den Nationalsozialisten gelang: die völkische, antisemitische Vereinigung in der deutschen Volksgemeinschaft. „Geist ist immer zugleich konservativ und revolutionär.“ (Blüher, S. 429) Dieser Blick eröffnet letztlich auch über das Gesamtwerk die entscheidenden Grundlinien, die sich im Schaffen und im Werk Blühers übergreifend nachzeichnen lassen: Im Kern antiegalitär, antiemanzipatorisch, antifeministisch, antisemitisch.

URN urn:nbn:de:0114-qn103179

Stefan Müller

Universität Frankfurt am Main

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