Sehen, Wissen, Forschen – Facetten von Gender in der Agrargeschichte

Rezension von Christine Bauhardt

Barbara Krug-Richter, Martina Schattkowsky (Hg.):

Geschlechterperspektiven: Frauen in ländlichen Gesellschaften.

Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 56, Heft 1.

Frankfurt am Main: DLG-Verlag 2008.

116 Seiten, ISSN 0044-2194, € 40,00

Abstract: Ambivalenzen sind der rote Faden dieses Zeitschriftenbandes – Ambivalenzen des Sehens und Interpretierens historischer Quellen, Ambivalenzen im Umgang mit Wissen und seiner Verbreitung, Ambivalenzen von Erfolgen und Verhinderungen in der wissenschaftlichen Karriere. Der Blick von Historikerinnen und Soziologinnen auf die Agrargeschichte und die Geschichte der Agrarwissenschaften führt im vorliegenden Band zu einer Reihe von überraschenden Fragestellungen und Sichtweisen. Unter Berücksichtigung der Geschlechterperspektive werden dabei aufschlussreiche Einsichten in die Geschichte der Konstitution von Wissen eröffnet.

Mit drei Aufsätzen, die sich auf die Zeitspanne vom Spätmittelalter über das sechzehnte bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts beziehen, verspricht dieser Themenschwerpunkt der Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie neue Einsichten für die agrarhistorische Forschung aus Geschlechterperspektive. Mit Frauen in ländlichen Gesellschaften wurde allerdings ein Hefttitel gewählt, der die Inhalte der Beiträge nicht angemessen wiedergibt.

Kunst als agrargeschichtliche Quelle

Der erste Beitrag des Bandes von der Historikerin Dorothee Rippmann enthält die Reinterpretation eines Wandbehangs, der auf den ersten – modernen – Blick Szenen bäuerlichen Lebens darstellt: Paare von Männern und Frauen führen landwirtschaftliche Tätigkeiten wie Pflügen, Säen, Eggen, Ernten aus. Die Frage, die sich die Autorin angesichts dieses sechs Meter langen Wandteppichs stellt, ist die nach der Realitätsnähe der dargestellten Szenen. Sind sie tatsächlich als Abbilder von historischen Menschen und Aktivitäten zu lesen? Rippmann verneint dies und vertritt die These, dass „auf einer Metaebene hinter der gespielten Konkretheit und Objektnähe der Arbeitsszenen […] die Rede von Liebe und Geschlechterbeziehung“ sei (S. 18). Drei Aspekte erscheinen ihr zum Beleg dafür relevant: die Institution der Ehe, Rügebräuche im Zusammenhang mit dem Heiratsverhalten junger Leute sowie das Stadt-Land-Verhältnis im Spätmittelalter. Zusätzlich seien das zeitgenössische Verständnis des Verhältnisses von Natur und Kultur und die damit verbundenen ökologischen Aspekte zu berücksichtigen. Die gleichberechtigte Darstellung von Männern und Frauen, das „symmetrische Nebeneinander von Mann und Frau“ (S. 24) auf dem Wandbild wird von Rippmann als Ausdruck der geschlechtsspezifischen, aber komplementären und nicht-hierarchischen Arbeitsteilung im Mittelalter gedeutet. Entsprechend liege der Bildkomposition, so Rippmanns These, „Idee und Praxis der Ehe als wirtschaftliche Arbeitsgemeinschaft“ (S. 26) als Motiv zugrunde. Das Pflug- und Eggenziehen auf dem Wandbild wird von ihr als symbolische Repräsentation jener damals populären drastischen Rügebräuche interpretiert, nach denen unverheiratete Frauen in der Stadt von den männlichen Bauern eingefangen wurden und deren Pflug über die Straße ziehen mussten. Dies galt als Denunziation der unverheirateten Frauen. Entsprechend interpretiert die Autorin den „Subtext“ von Pflug und Egge in der Bildszene: „In Erinnerung an die Rügebräuche des Pflug- und Eggenziehens konnten sich die Männer ohne weiteres aufgerufen fühlen, bei ihren Frauen ‚das Feld zu beackern‘. Und damit arbeitet die Komposition der Tapisserie auch raffiniert, indem sie mit der Pflug- und Eggensymbolik Interesse an dem nicht Dargestellten weckt, das nichts mit Ackerbau zu tun hat“ (S. 28). Aufgrund der räumlichen und sozialen Nähe von Stadt und Land – der Wandbehang zierte einen vornehmen Stadthaushalt – vermittelten die ländlichen Szenen ihre symbolische Bedeutung an die Stadtbevölkerung. In diesem Sinne stellt der Wiener Wandteppich für die Historikerin Rippmann ein „mentalitätsgeschichtliches Zeugnis“ (S. 32) dar. Rippmanns Blick hinter das anscheinend Offensichtliche zeigt den besonderen Aussagewert des Kunstwerks als historischer Quelle.

Fürstinnen als Wissensproduzentinnen

Der zweite Aufsatz des Bandes, verfasst von der Historikerin Ursula Schlude, thematisiert den Beitrag der Kurfürstin Anna von Sachsen zum Wissen über den Landbau im sechzehnten Jahrhundert, also vor der Verwissenschaftlichung von (nicht nur) agrarischem Wissen. Die Autorin betont die große Bedeutung, die die Produktion landwirtschaftlicher Rohstoffe auch in dieser Zeit für die städtischen Haushalte sowie für die Obrigkeit hatten. Es war nicht allein Aufgabe der Millionen Bauern und Bäuerinnen und des Landadels, sich um die landwirtschaftliche Produktion und die Verbesserung der Produktionsmethoden zu kümmern, sondern auch die der persönlich involvierten „Frauen und Männer gerade auch der oberen Gesellschaftsschichten“ (S. 36). Die Bedeutung, die dem Umgang mit Wissen dabei zukommt, wird von Schlude als ambivalent bezeichnet. Einerseits erlebte das 16. Jahrhundert einen regelrechten Boom der medialen Verbreitung von Wissen, andererseits unterlag das Wissen um agrarische Produktion dem Bestreben nach Geheimhaltung. Entsprechend gilt die Institution der Ehe der Autorin als „bedeutende Ressource für Kommunikation und Transfer von Wissen“ (S. 43). Die Kurfürstin Anna von Sachsen, eine geborene Prinzessin von Dänemark, brachte so ein Wissen an den sächsischen Hof, das dort vorher nicht vorhanden war, und setzte dadurch „am Hof des Gemahls innovative Impulse“ (S. 43). Schlude interpretiert entsprechend den fürstlichen Hof als einen "Wissensort" (S. 48). In der agrarischen Tätigkeit der Fürstin sieht sie sowohl eine politische als auch eine intellektuelle Praxis. Schlude deutet diese Praxis als Teil der Geschichte von Wissensproduktion in nicht-universitären Kontexten und kann so zeigen, wie Frauen zur Entwicklung des Technik- und Naturwissens beigetragen haben, auch ohne in die formalen Institutionen der Wissenskonstitution eingebunden gewesen zu sein.

Wissenschaftlerinnen in der frühen Agrarforschung

Der dritte Aufsatz des hier zu besprechenden Zeitschriftenbandes thematisiert die Erfolgs- und Ausgrenzungsgeschichte der ersten Wissenschaftlerinnen in den Agrarwissenschaften in Deutschland. Der von der Soziologin Mathilde Schmitt vorgelegte Beitrag stammt wie der zuvor besprochene aus dem von Heide Inhetveen geleiteten Göttinger Forschungskontext zur Geschichte von Agrarpionierinnen. Mathilde Schmitt widmet sich in ihrem Aufsatz der Ambivalenz des wissenschaftlichen Erfolgs einerseits und der Funktionalisierung und Behinderung der Agrarwissenschaftlerinnen durch ihre männlichen Kollegen andererseits. Sie zeigt zunächst den stetig wachsenden Anteil weiblicher Studierender in den Agrarwissenschaften auf heute fast die Hälfte der in diesem Fach Immatrikulierten auf, auch bei den Promovierenden und damit wissenschaftlich Tätigen stellen Frauen heute knapp die Hälfte. Am Beginn der Agrarforschung war es vor allem deren hoher Grad an Interdisziplinarität, der es Frauen ermöglichte, von unterschiedlichen fachlichen Zugängen kommend ein Thema mit Landwirtschaftsbezug zu bearbeiten. Es war dann aber die sich neu etablierende Disziplin Genetik, die zu einem „Kristallisationspunkt weiblicher Intelligenz und Forschungsaktivitäten“ (S. 54) im von Erwin Baur gegründeten Institut für Vererbungsforschung an der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin wurde. In der Gründungs- und Aufbauphase des Instituts waren Wissenschaftlerinnen ganz maßgeblich die Expertinnen in der genetischen Forschung über Kulturpflanzen und Nutztiere. Auf verantwortliche Leitungspositionen stiegen sie jedoch nicht auf. Als Baur 1928 die Leitung des von ihm initiierten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Züchtungsforschung in Müncheberg übernahm, stellte er jüngere Anfänger, aber keine der früheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Instituts für Vererbungsforschung ein: „Während am Institut für Vererbungsforschung in Berlin-Dahlem Frauen experimentierten und maßgebliche Forschungsarbeiten verantworteten, blieb die wissenschaftliche Leitungsebene im Institut für Züchtungsforschung in Müncheberg Männern vorbehalten“ (S. 58).

In der Diskussion dieser Befunde arbeitet die Autorin heraus, welche Rahmenbedingungen dazu führten, dass Wissenschaftlerinnen in der frühen Agrarforschung so erfolgreich waren – sie gehörten zu den ersten wissenschaftlich qualifizierten Frauen in Deutschland, sobald sie hier zur Forschung zugelassen waren (vgl. S. 61). Zum einen war die Genetik zum Beginn des 20. Jahrhunderts eine neu entstehende Disziplin, die noch kein großes Sozialprestige ausgebildet hatte; Erwin Baur persönlich soll ein liberal-demokratisch eingestellter Mensch gewesen sein, dem auch Frauen als Mitarbeiterinnen willkommen waren. Zum anderen förderte die Inter- und Transdisziplinarität der Agrarwissenschaften die erfolgreiche Integration von Absolventinnen verschiedener Fachrichtungen. Die Erste Frauenbewegung und der sozialhistorische Kontext der Zwanziger Jahre in Berlin gilt der Autorin ebenfalls als förderlich für die starke wissenschaftliche Position der Frauen. Auch gerade in Zeiten, zu denen Männer fehlten, bot sich Frauen dieses window of opportunity. Langfristig, so Mathilde Schmitt, erhielten Wissenschaftlerinnen aber nur einen nachrangigen Platz im universitären Betrieb zugewiesen: „Das äußerte sich darin, dass sie nur unentgeltlich an der Universität lehren durften, eine außerordentliche nicht-beamtete Professur erhielten oder – aufgrund ihrer begrenzten Ressourcen – notwendige Routine- und Fleißarbeiten durchführten. Diese waren häufig grundlegend für wichtige Forschungsprojekte und Veröffentlichungen von männlichen Projektleitern“ (S. 63). Wie wunderbar, dass sich die Situation hochqualifizierter Wissenschaftlerinnen heute so grundlegend gewandelt hat…

Der Zeitschriftenband dokumentiert fachlich und thematisch sehr unterschiedliche Zugänge zum Thema ‚Geschlechterperspektiven‘ in der Agrargeschichte und Agrarsoziologie. In der Zusammenschau ergibt sich ein facettenreicher Eindruck davon, welche unterschiedlichen Erkenntnisinteressen Historikerinnen und Soziologinnen an die Agrargeschichte und die Entwicklung der Agrarwissenschaften herantragen.

URN urn:nbn:de:0114-qn102250

Prof. Dr. Christine Bauhardt

Humboldt-Universität zu Berlin

Leiterin des Fachgebiets „Gender und Globalisierung“ an der Humboldt-Universität zu Berlin

Homepage: http://www.agrar.hu-berlin.de/struktur/institute/wisola/fg/gg/team/bauhardt

E-Mail: christine.bauhardt@gender.hu-berlin.de

Creative Commons License
Dieser Text steht unter einer Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz. Hinweise zur Nutzung dieses Textes finden Sie unter http://www.querelles-net.de/index.php/qn/pages/view/creativecommons