Die Abwesenheit von Behinderung – Beiträge der Geschlechterstudien zu den Lebenswissenschaften

Rezension von Ute Kalender

Marie-Luise Angerer, Christiane König (Hg.):

Gender Goes Life.

Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies.

Bielefeld: transcript Verlag 2008.

264 Seiten, ISBN 978-3-89942-832-2, € 26,80

Abstract: Der vorliegende Band vereinigt Beiträge von hochkarätigen Gendertheoretiker/-innen zu den Lebenswissenschaften, die je für sich lesenswert und innovativ sind. Die deutschsprachige Gender-Debatte zu den Lebenswissenschaften, bislang eher von kulturhistorischen und sozialwissenschaftlichen Ansätzen geprägt, wird durch den Einbezug von beispielsweise film- oder medientheorethischen Zugängen erweitert. Das angekündigte Anliegen des Buches, Geschlecht als Wissenskategorie im Hinblick auf die Lebenswissenschaften systematisch zu reflektieren, wird jedoch nicht eingelöst. Ebenso führt der Band eine Schwäche der Genderansätze zu den Lebenswissenschaften fort. Sie besteht darin, die Kategorie Behinderung konstant auszublenden.

Der Band

‚Geschlecht als Wissenskategorie‘ ist nicht nur der Name eines DFG-Graduiertenkollegs, sondern der Oberbegriff für eine neuere Forschungsrichtung innerhalb der deutschsprachigen Geschlechterstudien, in der seit einigen Jahren die impliziten und expliziten Funktionen der Kategorie Geschlecht für die Strukturierung von Wissen und Wissenschaften untersucht werden. Auch der vorliegende Band soll – so die Herausgeberin Marie-Luise Angerer – hier ansetzen: Die Kategorie Geschlecht soll neu bestimmt werden, und zwar auf eine Weise, die den Ansprüchen der Lebenswissenschaften, das Soziale und damit immer auch die Geschlechterverhältnisse umfassend zu definieren, Gewichtiges entgegensetzen soll.

Diese thematische Klammer findet sich in den einzelnen Beiträge jedoch nicht wieder. Auch ist die Einleitung irritierend, d. h. eher assoziativ als systematisch zum eigentlichen Anliegen des Bandes als Gesamtwerk hinführend. So wäre eine kurze Bestandsaufnahme des Forschungsfeldes Geschlecht als Wissenskategorie hilfreich. Auch wird zwischen dem angloamerikanischen Begriff Gender und dem deutschen Begriff Geschlecht nicht unterschieden, geschweige denn deren unterschiedliche Genealogie rekonstruiert. Schließlich stellt Angerer Alltagsbeschreibungen der komplexer werdenden Geschlechterarrangements und die Darstellung wissenschaftstheoretischer Entwicklungen im Feld der Gender Studies unvermittelt nebeneinander. Die Leserin muss deshalb viel Eigeninitiative aufbringen, um die einzelnen Beiträge auf das eingangs benannte Ziel rückzubeziehen.

Schließlich wird auch die Frage nach der Kategorie Behinderung nicht gestellt. Dies erscheint nicht nur ob der Kritik problematisch, die von den queer/feministischen Disability Studies seit einigen Jahren an Genderforschungen zu den Lebenswissenschaften herangetragen werden. Auch mit Blick auf die momentan in den Gender Studies selbst geführte Interdepenzdebatte lässt sich die Frage nach dem Verhältnis von Geschlecht und Behinderung kaum umgehen.

Dennoch: Die Beiträge sind einzeln betrachtet durchaus lesenswert und geben Einblick in die aktuellen Forschungsarbeiten von international bedeutenden Theoretiker/-innen. Manuela Rossini, Hans-Jörg Rheinberger oder Jackie Stacey liefern innovative Impulse, wenn es darum geht, die Lebenswissenschaften aus Genderperspektive zu betrachten. Ich werde deshalb im Folgenden die Beiträge der genannten Autor/-innen in ihrer ‚Eigenleistung‘ in den Blick nehmen; die Texte aber auch mittels Perpektiven der Disability Studies – gleichsam als kritisches Korrektiv – gegenlesen.

Antispeziezistische Erzählungen

Manuela Rossini steht stellvertretend für eine im angloamerikanischen Raum momentan intensiv, in der deutschen Genderlandschaft bislang jedoch eher marginal geführte Debatte um den impliziten Speziezismus von feministischen Positionen. Die Kritik am Natur/Kultur-Dualismus bezogen Wissenschaftstheoretikerinnen in der Regel auf den Ausschluss von Frauen und damit von anderen Menschen aus der Kategorie des Menschen. Alles als nicht-menschlich Geltende wurde nicht thematisiert. Rossinis Beitrag ist deshalb von dem Interesse getragen, eine queer/feministische Position auf ‚das Nicht/Menschliche‘ zu entwickeln.

Überzeugend ist die Autorin besonders dann, wenn sie die ‚Materialität der Natur‘ gegen dominierende evolutionsbiologische Deutungen wendet und zeigt, dass diese binär-geschlechtliche Interpretationen kontinuierlich unterlaufen hat – dass sich bakterielle Fortpflanzung beispielsweise immer auch jenseits des heterosexuellen Koitus vollzogen hat und am Anfang der Entstehungsgeschichte des (geschlechtlichen) Menschen selbst stand.

Problematisch ist allerdings ihr positiver und ungebrochener Bezug auf Peter Singer. Denn der bei Anti-Speziezisten und Tierrechtstheoretikern beliebte Bioethiker stuft beispielsweise die Tötung eines Schimpansen schlimmer ein als die eines Neugeborenen mit geistiger Behinderung (vgl. Singer, Peter: Praktische Ethik. Stuttgart 1994, S. 156). Singer wurde deshalb in Deutschland von der Behindertenbewegung und von kritischen Bioethikern zu Recht für seine eugenischen Ansichten stark kritisiert.

Rossinis antispeziezistischer Genderansatz ist somit durchaus anregend. Weil aber die Kategorie Behinderung fehlt, bleibt offen, wie eine posthumanistische Genderperspektive auf die Lebenswissenschaften aussehen kann, die die Privilegierung ‚des Menschen‘ aufgibt, ohne jedoch ein Einfallstor für eugenische Tendenzen zu bilden.

Geschlecht als Strukturierungsprinzip lebenswissenschaftlicher Forschungspraxis

Wie zentral die Kategorien Sexualität und Geschlecht in der Forschungspraxis der Lebenswissenschaften seit langem sind, stellt Hans-Jörg Rheinberger in seinem Beitrag dar. Dieser ist zum einen lesenswert, weil er in wissenshistorischen, materialgenauen Rekonstruktionen über das Aufzeigen der geschlechtlichen Färbung von Forschungspraxen um 1900 hinaus auch heuristische Ableitungen und Aufschlüsse über Geschlecht ermöglicht. Denn die Zentralität der Kategorie Geschlecht für die Wissensproduktionen der Lebenswissenschaften beschränkt sich weder nur auf den Zeitraum um 1900 noch auf die klassische Genetik, sondern ist bis zum heutigen Tage wichtiges Prinzip in der Genetik, Genomik und Epigenetik.

Auch bei Rheinberger bleibt jedoch unerwähnt, dass ebenso wie die Kategorie Geschlecht auch Behinderung in den Lebenswissenschaften, ihren Forschungspraxen und Modellen seit langem als Strukturierungsprinzip fungiert: Behinderung ist eine Folie, mittels derer Aussagen über das vermeintlich normale Leben getätigt werden sollen (vgl. Becker, Thomas: Vom Blick auf den deformierten Menschen zum deformierten Maßstab der Beobachter. Versuch einer feldtheoretischen Genealogie des normalisierenden Beobachterhabitus in den Human- und Lebenswissenschaften. In: Waldschmidt, Anne/Schneider, Wolfgang (Hg.): Disability Studies. Kulturssoziologie und Soziologie der Behinderung. Erkundungen in einem neuen Forschungsfeld. Bielefeld 2007, S. 152). So beziehen sich wissenshistorische Untersuchungen der Gender und der Disability Studies teilweise sogar auf die gleichen Primärtexte von Lebenswissenschaftlern. Die ersten, um Aussagen über vergeschlechtlichende Normierungsprozesse zu machen, die zweiten um solche über behindernde zu tätigen. Wie fruchtbar wäre also erst eine Synthese beider Forschungsrichtungen.

Neue Reproduktionstechnologien als subversives Potential?

Jackie Stacey bringt die beiden bislang getrennten Felder feministische Filmtheorie und Gendertheorie zu den Life Sciences zusammen. Diese Fusionierung liegt nahe. Denn sowohl das Kino als auch die Genetik sind nicht nur Technologien der Nachahmung, sondern darüber hinaus in diesen Nachahmungsweisen auch geschlechtlich codiert. Sowohl Film als auch Lebenswissenschaften sind von dem Begehren getrieben, den sexuellen und reproduktiven Frauenkörper zu kopieren, mehr noch: zu ersetzen.

Beiden ‚Reproduktionstechnologien‘ ist damit aber immer auch das Potential eingeschrieben, die Ordnungen, die sie vorgeben abzubilden, zu unterwandern. Anhand der Filme Teknolust und Code 46 expliziert Stacey diese Destabilisierungsmöglichkeiten für Geschlechterverhältnisse und zeigt, wie diese Filme etwa die Auffassung des natürlichen, reproduktiven und authentischen Geschlechtskörpers reflektieren und diese zugleich mittels einer spezifischen geschlechtlich codierten Filmsprache wie Collage, Pastiche oder spezifischen Zitationsweisen unterwandern. Es gelingt ihr, nicht nur die strukturellen Ähnlichkeiten der beiden Technologien deutlich zu machen, sondern auch zu zeigen, dass die Geschlechterdifferenz einer ihrer konstitutiven Bestandteile ist.

Doch mit ihrem Interesse am subversivem Potential reproduziert Stacey, eine der Pionierinnen queerer Filmtheorie im angloamerikanischen Raum, auch eine typische Schwäche von queeren Ansätzen zu neuen Reproduktionstechnologien. Diese stellen aus queerer Sicht die Idee eines zu rettenden, authentischen und von den neuen Technologien bedrohten reproduktiven Frauenleibs in Frage. Ebenso destabilisieren sie das Zwangsregime von reproduktivem Geschlechtskörper/reproduktiver Geschlechtsidentität/heterosexuellem Koitus/heterosexueller Zeugung/Schwangerschaft/Elternschaft. Kurzum: Neue Technologien sind aus queerer Sicht keine Bedrohung des integeren ‚Frauenleibes‘, sondern korrespondieren geschlechtlichlichen Grenzziehungen. Doch statt an dieser Stelle noch weiter zu gehen und ebenfalls zu fragen wie genau diese Grenzziehungen verlaufen – nämlich oftmals von ökonomischen und eugenischen Kalkülen geleitet – legen queere Ansätze meist implizit eine Idealisierung von Technik als einem entgeschlechtlichenden Potential nahe. Es gilt somit, nicht bei der Betonung von destabilisierenden Möglichkeiten stehen zu bleiben, sondern die biotechnologischen Grenzziehungsprozesse kritisch und unter Berücksichtigung weiterer Fragen wie die nach Behinderung oder ökonomischen Interessen in den Blick zu nehmen.

Fazit

Der Band liefert aus Genderperspektive interessante Beiträge zu den Lebenswissenschaften und bringt wichtige Impulse ein, was vor allem durch den Einbezug internationaler Theoretikerinnen gelingt. So werden Ansätze vorgelegt, die zugleich queer und antispeziezistisch sind. Sie sind Teil einer Debatte, die momentan im angloamerikanischen Raum intensiv geführt, in der deutschsprachigen Genderdebatte bislang jedoch kaum beachtet wird. Publikationen wie Queering the Non/Human von Myra Hird oder Donna Haraways theoretische Begeisterung für Hunde sind an dieser Stelle nur zwei Beispiele. Besonders die antispeziezistischen Beiträge könnten damit eine Debatte um ‚nicht-belebte‘ Materie anstoßen und dazu beitragen, den gesellschaftlichen Geschlechterblick darauf nicht länger der Biologie oder der Physik zu überlassen.

Allein das Fehlen der Kategorie Behinderung verwundert: Obgleich in den Texten von Mutationen, Monstrositäten und Missbildungen die Rede ist, bleibt die Frage nach Behinderung ungestellt. Welche Rolle die Wissenskategorie Behinderung in den behandelten Thematiken spielt, und vor allem: in welchem Verhältnis sie zu Gender steht, wäre aber gerade für das zentrale Anliegen des Bandes – die Rekonfiguration von Gender im Verhältnis zu gesellschaftlichen Lebensverhältnissen und neuen Biotechnologien – zentral. Bleibt dies unberücksichtigt, besteht die Gefahr, dass Gendertheoretiker/-innen erneut ihre Wissensproduktionen auf Behinderung als ‚narrative Prothese‘ stützen (vgl. Mitchell, David/Snyder, Sharon: Narrative prothesis: disability and the dependencies of discourse. Ann Arbor 2000).

URN urn:nbn:de:0114-qn102154

Ute Kalender

Humboldt-Universität zu Berlin

Graduiertenkolleg „Geschlecht als Wissenskategorie“, Humboldt-Universität zu Berlin

E-Mail: ute.kalender@hotmail.de

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