Von Intellektuellenfrauen und intellektuellen Frauen. Die kulturellen Zentren Pontigny, Royaumont und Cerisy im Genderblick (1910–2002)

Rezension von Ingrid Galster

Anne-Marie Duranton-Crabol, Nicole Racine, Rémy Rieffel (Eds.):

Pontigny, Royaumont, Cerisy.

Au miroir du genre.

Paris: Éditions Le Manuscrit 2008.

247 Seiten, ISBN 9782304013283, € 21,90

Abstract: Im vorliegenden Band, den Akten eines Kolloquiums aus dem Jahre 2006, wird erstmalig nach der Teilnahme von Frauen an einer in der Geschichte der französischen Intellektuellen einzigartigen Institution gefragt: den seit 1910 regelmäßig im Sommer veranstalteten „Dekaden“ von Pontigny, weitergeführt in Royaumont und in Cerisy-la-Salle (Normandie), wo sie noch heute stattfinden. Wenn die zunehmenden Interventionen von Frauen einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung folgen, so stellt die Art der ‚Soziabilität‘ von Cerisy weiterhin eine Besonderheit dar, um deren Erhalt sich die Beteiligten bemühen.

Vor allem dank Michelle Perrot und ihren Schülerinnen wurde die Geschlechteroptik in die französische Geschichtswissenschaft hineingetragen, kaum aber in die Intellektuellengeschichte. Pionierarbeit auf diesem Gebiet leistete die Historikerin Nicole Racine, die mit zahlreichen Arbeiten zur politischen Geschichte hervorgetreten ist, durch den Sammelband Intellectuelles. Du genre en histoire des intellectuels, den sie 2004 zusammen mit Michel Trebitsch herausgab und der die Zeitspanne von der Renaissance bis zur Gegenwart abdeckt. Auch bei den hier zu besprechenden Akten eines Kolloquiums von Ende 2006 ist sie mit federführend.

Es geht um die Beteiligung von Frauen an einer einzigartigen kulturellen Institution, den sogenannten Dekaden von Pontigny, die in Royaumont und Cerisy weitergeführt wurden, wo sie heute noch stattfinden. Sie gehen zurück auf Paul Desjardins, der Anfang des 20. Jahrhunderts die Zisterzienser-Abtei Pontigny in Nordburgund kaufte und sie zusammen mit seiner Frau zu einer Begegnungsstätte machte, in der sich allsommerlich Schriftsteller und Gelehrte zusammenfanden, um über bestimmte Themen aus Kultur, Geschichte, Gesellschaft oder Politik Vorträge zu halten und zu diskutieren. Paul Desjardins war zwar sozial und kulturell engagiert, aber stand außerhalb von Parteien und Religionen. Wenn es etwas gab wie einen Einfluss, dann jenen einer Gruppe von Schriftstellern um André Gide, die vor allem in der Zwischenkriegszeit in Frankreich den Ton angab.

Das für die Zeit Besondere an diesen Treffen war nun, dass Paul Desjardins von Beginn an sowohl Männer als auch Frauen zur Teilnahme aufforderte. Gide konnte an dieser Regelung keinen Gefallen finden. Im ersten Veranstaltungssommer soufflierte er einem Freund, Desjardins doch taktvoll mitzuteilen: Wenn schon Frauen, dann höchstens als Begleitung ihrer Ehemänner. Frauen allein seien nicht einzuladen. (Vgl. S. 171)

Repräsentativ für die Präsenz von Frauen in dieser Zeit ist dann auch Claire Paulhan zufolge, die Fotos kommentiert (die Archive wurden während der deutschen Besatzung von der Gestapo beschlagnahmt, die Beiträgerinnen stützen sich weitgehend auf Memoiren, Briefe und Tagebücher), eine Abbildung von drei Ehefrauen an einem Gartentisch, auf dem Stickzeug und Fotoapparate liegen. Neben den Ehefrauen besteht eine andere Frauengruppe aus den „sévriennes“, Studentinnen der Elitehochschule von Sèvres, an der künftige Lehrerinnen ausgebildet werden und wo Desjardins als Dozent für Literatur tätig ist. Wie die übrigen Frauen wohnen sie den Vorträgen in stummer Bewunderung bei, was einer Amerikanerin auffällt, die 1910 in den USA einen Bericht über eine der ersten Dekaden veröffentlicht, zu der sie – bei gewissen Ausländerinnen und Mäzeninnen macht man Ausnahmen! – eingeladen wurde: „Einer der größten Unterschiede zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten besteht darin, daß in Frankreich die Frauen, auch die intelligentesten, in Gegenwart der Männer schweigen und zuhören.“ (S. 54)

Einige Frauen sind jedoch schon früh renitent wie die 1897 geborene Clara Malraux, die sich dagegen auflehnt, dass Pontigny, wo der Geist weht, wie der Berg Athos der „Männlichkeit“ vorbehalten sein soll. (Vgl. S. 99) Ihr Feminismus ist freilich der zwei Jahre jüngeren Tochter von Desjardins, die 1952 in Cerisy, einem Schloss in der Normandie, das Werk ihrer Eltern fortführt, zu militant. Nicole Racine, die sich schon mehrfach mit Anne Heurgon-Desjardins befasst hat, stellt heraus, wie die Autodidaktin, die den Dekaden von Pontigny ihre Bildung verdankt, in einer diskreteren Form von Feminismus zur Selbstbestimmung gelangt, bevor ihre beiden Töchter nach ihrem Tode 1978 ihrerseits die Leitung der Begegnungsstätte übernehmen, nunmehr unterstützt von ihren Ehemännern, die sich bewusst im Hintergrund halten.

Was die Beteiligung von Frauen an den Treffen in Cerisy ab den 70er Jahren angeht, so bildet sie weitgehend die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ab. Sowohl als Hörerinnen als auch als Vortragende und verantwortliche wissenschaftliche Organisatorinnen der Dekaden nimmt der prozentuale Anteil der Frauen unaufhaltsam zu. Clara Malraux ist 1953 eine der ersten Frauen, die als Co-Direktorin einer Dekade auftritt. Die Feminisierung bestimmter Fächer an den Universitäten hinterlässt auch in Cerisy ihre Spuren. Der Feminismus oder die Geschlechtertheorie brauchen allerdings eine lange Inkubationszeit, bevor sie sich thematisch in den Dekaden niederschlagen.

Das Fazit von Rémy Rieffel, der als Medien- und Intellektuellenhistoriker zu der Gruppe der fünfzehn Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen gehört, die sich systematisch mit der Aufarbeitung von Pontigny/Royaumont/Cerisy befassen, ist ausgewogen: Die Dekaden waren im 20. Jahrhundert keine Speerspitze des Feminismus, aber dennoch ein Ort, an dem Frauen ihre gesellschaftliche Identität als Schriftstellerinnen, Künstlerinnen oder Gelehrte behaupten und konsolidieren konnten. Die Sorge der Direktion und einiger habituées gilt stärker der Frage, ob Cerisy sich auf die Dauer der Gleichschaltung im akademischen Betrieb widersetzen und jenseits von universitären Hierarchien und Generationenunterschieden ein Ort der ungezwungenen Begegnung bleiben kann.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101161

Prof. Dr. Ingrid Galster

Universität Paderborn, Romanistik

Homepage: http://kw.uni-paderborn.de/institute-einrichtungen/institut-fuer-romanistik/personal/galster/

E-Mail: galster@zitmail.upb.de

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