Eine ‚Ahnengalerie‘ der scientia sexualis

Rezension von Pascal Eitler

Volkmar Sigusch:

Geschichte der Sexualwissenschaft.

Frankfurt am Main: Campus Verlag 2008.

720 Seiten, ISBN 978–3–593–38575–4, € 49,90

Abstract: Volkmar Sigusch entfaltet in diesem Buch eine kurzweilige und vielschichtige Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Sexualwissenschaft zwischen der Mitte des 19. und dem Ende des 20. Jahrhunderts. Auf siebenhundert Seiten durchschreitet er eine ebenso umfangreiche wie lehrreiche ‚Ahnengalerie‘ der scientia sexualis – als Wissenschaftsgeschichte jedoch vermag diese Untersuchung nur bedingt zu überzeugen.

Sexualwissenschaft und Wissenschaftsgeschichte

Wenn einer der führenden Vertreter seines Faches sich aufmacht, über die Geschichte dieses Faches nicht nur Auskunft zu geben, sondern – wie sich schließlich herausstellt – auch Rechenschaft abzulegen, darf man gespannt sein, nicht allein, aber doch auch, wie er sich selbst in dieser Geschichte verorten und gewichten wird. Sigusch tut dies mit einem bemerkenswerten Maß an Neutralität und – vielleicht noch wichtiger – Kollegialität. Allerdings ähnelt das Buch in dieser Hinsicht dann oft doch eher einer ‚Ahnengalerie‘. Sigusch verfolgt zwar auch problemgeschichtliche Fragestellungen, im Vordergrund der Untersuchung aber stehen ganz eindeutig ausgewählte Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts: tote und lebende, bekannte und weniger bekannte, von Paolo Mantegazza über Iwan Bloch, Sigmund Freud oder Alfred Kinsey bis hin zu den langjährigen Weggefährten von Sigusch an der Universität Hamburg und der Universität Frankfurt am Main, über Gunter Schmidt bis hin zu Martin Dannecker, Reimut Reiche oder Eberhard Schorsch. Die Geschichte der Sexualwissenschaft beschränkt sich dabei sehr häufig auf eine Geschichte ihrer Pioniere und deren kanonischer Texte. Auch die Behandlung sexualwissenschaftlicher Einrichtungen, Vereinigungen und Zeitschriften wird stets sorgsam zurückgebunden an die Ansichten und – vermeintlichen oder tatsächlichen – Leistungen einiger weniger.

Zwar betont Sigusch, es gehe ihm nicht um eine Geschichte der Sexualität, fernab von deren wissenschaftlicher Erforschung. Doch entspricht diese – durchaus kritische und distanzierte – Betrachtung und Befragung 'großer Männer' mitnichten den inzwischen weithin etablierten Standards innerhalb der Wissenschaftsgeschichte. Weder unterzieht Sigusch die Sexualwissenschaft beziehungsweise spezifische Akteure – im Anschluss an Pierre Bourdieu – einer differenzierenden und kontextualisierenden Feldanalyse noch folgt er seinen historischen Protagonisten – im Anschluss an Bruno Latour oder Hans-Jörg Rheinberger – konsequent und detailliert in den Alltag ihrer Arbeit. So bleibt es alles in allem bei einem ambitionierten und informativen, aber streckenweise auch unbefriedigenden Überblick. Angesichts seines umfangreichen Untersuchungszeitraums wird man diesem Überblick allerdings nicht vorwerfen wollen, dass er sich größtenteils auf deutsprachige Autoren beziehungsweise Akteure beschränkt.

Eine diskursgeschichtliche Perspektive

Sigusch wählt einen anderen Zugang als Latour und Rheinberger und verfolgt – unter Verweis auf Michel Foucault – zumindest teilweise eine diskursgeschichtliche Perspektive. Zu Recht beginnt er seine Geschichte der Sexualwissenschaft vor diesem Hintergrund nicht erst mit dem Ende, sondern bereits mit der Mitte des 19. Jahrhunderts, um sie sogleich im größeren Rahmen einer Genealogie des modernen Subjekts zu verorten. Sigusch betont dabei die Historizität des „Kollektivsingulars“ Sexualität (S. 11) und verhandelt insbesondere die sich wandelnde Bedeutung, die der Sexualität für den einzelnen Menschen oder die Gesellschaft als Ganzes zugeschrieben oder auch nicht zugeschrieben wurde. Er konzentriert sich im Verlauf der Untersuchung auf die Rekonstruktion der jeweils spezifischen und insgesamt hegemonialen Deutungsmuster innerhalb der Sexualwissenschaft, nicht zuletzt auf die konvergierenden oder divergierenden Menschen- und Gesellschaftsbilder seiner wechselnden Hauptdarsteller. Auf einer beeindruckend umfangreichen Textbasis wird vor allem nach sexistischen, eugenischen oder rassistischen Argumentationsfiguren gefragt.

Sigusch verfolgt eine „kritische Sexualwissenschaft“, zu deren Kernbestand er den „Kampf gegen christliche Verdikte und bürgerliche Heuchelei, gegen Sexismus und die Unterdrückung sexueller Minderheiten“ rechnet (S. 53). Er durchschreitet seine ‚Ahnengalerie‘ erfreulich offenherzig nach Maßgabe dieser Richtschnur – zumeist ohne oberflächlich zu moralisieren und anachronistisch zu verurteilen. Vollkommen überzeugend gibt er angesichts seiner insgesamt kritischen Einschätzung Magnus Hirschfelds zu Protokoll: „Es kommt nicht darauf an, die einen Sexuologen zu belasten und die anderen zu entlasten, sondern darauf die Diskurse zu begreifen“ (S. 387). Dass Hirschfeld in diskursgeschichtlicher Perspektive weitgehend die eugenischen Vorstellungen seiner faschistischer Verfolger teilte, gilt es in erster Linie zu erklären und erst in zweiter oder dritter Linie zu bewerten. Überaus begrüßenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Sigusch ebenfalls problematische Interpretationsmomente unter den führenden Köpfen der westdeutschen Sexualwissenschaft der fünfziger und sechziger Jahre thematisiert – die eigenen 'Lehrer' also – und das kollektive Beschweigen innerhalb der eigenen Generation reflektiert (vgl. S. 427 f.). Die ostdeutsche Sexualwissenschaft wird eher am Rande in den Blick genommen.

Foucault – oder nicht doch Adorno?

Immer wieder verlässt Sigusch jedoch diese diskursgeschichtliche Perspektive und zieht sich auf altbekannte Erklärungsversuche zurück, die nach meinem Dafürhalten nicht zu überzeugen vermögen, insofern sie nicht auf die Geschichtlichkeit und Gesellschaftlichkeit, sondern auf die Persönlichkeit spezifischer Protagonisten abstellen, wie zum Beispiel im Fall von Hans Giese. Was gewinnt man, was erfährt man über die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Sexualwissenschaft, wenn man behauptet: „Der Schlüssel zu Gieses Werk ist seine eigene Homosexualität“ (S. 411)? Foucault steht in diesem Zusammenhang keineswegs Pate; dass es genau genommen vielmehr Adorno ist, der diese Untersuchung anleitet, wird spätestens im letzten Kapitel des Buches ersichtlich, in dem sich Sigusch einer „Standortbestimmung“ seines Faches am Übergang zum 21. Jahrhundert widmet: Die „kritische Sexualwissenschaft“ wolle „zur Befreiung des Sexuellen beitragen und kommt spätestens als Praxis nicht umhin, dessen Zügelung zuzuarbeiten“ (S. 528). Es ist diese ausgiebig bedachte „Dialektik“, die Sigusch immer wieder in das Zentrum seines Interesses rückt und die ihn nicht allein institutionell, sondern ebenfalls intellektuell an die Universität Frankfurt am Main und den ‚Meisterdenker‘ der Frankfurter Schule bindet.

Von besonderer Bedeutung ist an dieser Stelle, dass in der Untersuchung grundsätzlich zwischen der ‚Sexualität‘ und dem ‚Sexuellen‘ unterschieden wird. Nicht die „Sexualität“, die geschichtlich und gesellschaftlich „gezügelt“ worden sei, sondern das „Sexuelle“, den wiederholt behaupteten „festen Kern“ der „Sexualität“, gelte es zu „befreien“ (S. 529). Das ‚Salz‘ der Sexualwissenschaft, so Sigusch, sei noch stets dieser ‚Rest‘ gewesen, der wissenschaftlich weder zu identifizieren noch zu analysieren sei. In diskursgeschichtlicher Perspektive hingegen, so wird man einwenden dürfen, erweist sich dieser vermeintliche ‚Rest‘ als ein zweifelsohne wirkmächtiges Phantasma.

Fazit

Ist auch der Facettenreichtum dieses Buches schlichtweg beeindruckend und das stete Ringen um Sachlichkeit, Redlichkeit und historische Distanz überaus wohltuend, so liegt dieser Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Sexualwissenschaft ein ‚Rest‘ an Philosophie und Melancholie zugrunde, der die streckenweise vorherrschende diskursgeschichtliche Perspektive immer wieder unterminiert. Sigusch gibt nicht nur Auskunft, er legt auch Rechenschaft ab. Persönlich mag man das als verständlich erachten, im Kontext einer Wissenschaftsgeschichte aber ist es nach meinem Dafürhalten kontraproduktiv.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101140

Pascal Eitler

Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin

E-Mail: eitler@mpib-berlin.mpg.de

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