Kaum Gender ohne Gender Mainstreaming

Rezension von Annegret Künzel

Maria Buchmayr (Hg.):

Alles Gender?

Feministische Standortbestimmungen.

Innsbruck u.a.: StudienVerlag 2008.

232 Seiten, ISBN 978–3–7065–4609–6, € 26,90

Abstract: In dem Sammelband wird nach dem Verhältnis von Gender und Gender Mainstreaming zu Politik, Frauenbewegungen, Wissenschaft und gesellschaftlichem Wandel gefragt. Schwerpunkte sind die Gemeinsamkeiten und Grenzen zwischen Frauenpolitik und Gender. Die Diversität der Beiträge ermöglicht einen Blick auf die unterschiedlichen Standorte von Gender. Dabei verknüpfen viele Texte die Diskussion von Gender mit Gender Mainstreaming. Die Mehrheit der Beiträge sieht eine Diskrepanz zwischen feministischer Theorie und geschlechterpolitischer Praxis.

Was haben Frauen mit Gender zu tun?

Ist Gender eine Erfolgsgeschichte für Frauen (und Männer) oder ein Mittel zur Verfestigung ungleicher Geschlechterverhältnisse? Der Sammelband dokumentiert eine Standortsuche nach dem mittlerweile scheinbar allgegenwärtigen Begriff, unter den viele Bedeutungen subsumiert werden können. Unstrittig ist die Verknüpfung von Gender mit Geschlecht, Frauen und Politik sowie Feminismus. War Gender vormals vor allem ein heuristischer Begriff feministischer Analysen, so ist er heute insbesondere durch die Popularität der geschlechterpolitischen Strategie Gender Mainstreaming bekannt. Es gibt wohl niemanden in der deutschen Geschlechterpolitik, der noch nicht von Gender gehört hat – und sei es nur in der Kombination mit eben jenem Mainstreaming.

Anliegen des Sammelbandes ist es, Gender und Gender Mainstreaming in alte und neue Beziehungen zu Politik, Frauenbewegungen, Wissenschaft und zum gesellschaftlichen Wandel zu setzen. Der Schwerpunkt soll dabei auf Gemeinsamkeiten und Grenzen zwischen Frauenpolitik und Gender liegen. Diese Fragestellung mutet auf den ersten Blick unzeitgemäß an, denn schon längst ist in der Öffentlichkeit kaum noch von Politik für Frauen die Rede, sondern vor allem von Politik für die Familie, das Personal, die Vereinbarkeit oder die (beiden) Geschlechter. Doch gerade weil Frauen sowohl als Individuen mit Diskriminierungserfahrungen als auch als marginalisierte gesellschaftliche Gruppen in hierarchisch strukturierten Geschlechterverhältnissen als Adressatinnen von Politik dahinter zurückzutreten scheinen, ist eine Auseinandersetzung umso mehr angebracht.

Kritische Blicke auf Gender Mainstreaming

Im Einleitungsbeitrag zeigt Angelika Wetterer am Beispiel von Gender Mainstreaming die wachsende Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Analyse von Geschlechterverhältnissen und dem gleichstellungspolitischen Umgang. Theorie und Praxis bezögen sich nicht nur immer weniger aufeinander, sondern entfernten sich auch zunehmend vom Alltagswissen der Menschen. Die Inhalte und Verfahren von Gender Mainstreaming würden immer stärker von Ökonomie bestimmt, und Gleichstellung werde so zu einem Mittel neoliberaler Organisationsoptimierung. Zudem verstärke Gender Mainstreaming mit seinem konzeptionellen Bezug auf ‚Frauen‘ und ‚Männer‘ die Zweigeschlechtlichkeit, aus der Geschlechterhierarchie erwachse, anstatt sie hinterfragen.

Ähnlich argumentiert Christina Thürmer-Rohr, die deswegen eine stärkere gegenseitige Inspiration von Theorie und Praxis fordert. Die Autorin zeichnet zentrale Geschlechterdebatten seit den 1970er Jahren und die Bedeutung von Feminismus nach, die ihre These von der ‚Mittäterschaft‘ von Frauen als historisch frühes Hinterfragen eines homogenen Subjekts Frau erläutern. Gender habe alte Begriffe ersetzt und sei nicht als herrschaftskritische Anfrage und politische Kampfansage zu verstehen, sondern präsentiere sich als seriöses Wissenschaftsprojekt. Dabei blieben Frauen als ‚Mittäterinnen‘, nämlich als Teil kultureller Herrschaftsstrukturen, unsichtbar.

Tove Soiland fragt nach den theoretischen Grundlegungen von Gender und zeigt, dass trotz des Bedeutungsverlusts von Geschlecht im Kontext dekonstruktivistischer Perspektiven die gesellschaftliche Geschlechterordnung als stabil verstanden werde. Soiland versteht diese Paradoxie als theoretische Inkonsistenz und schlägt vor, das dekonstruktivistische Verständnis von Gender als Bestandteil des Geschlechterregimes zu lesen. Die Herstellung von Geschlecht als Gender in diesem Sinne zu begreifen, sei eine Verkürzung, die zudem Verstehen vorgaukele, während sie möglicherweise von einer grundlegenderen und komplexeren Geschlechterproblematik ablenke.

Auch Alexandra Weiss versteht Gender als Verschleierung von Herrschaftlichkeit und Gewaltförmigkeit von Geschlechterverhältnissen. Sie zeigt eine Reihe von Risiken, die Gender Mainstreaming für feministische Politik habe, unter anderem eine Verkürzung feministischer Anliegen. Es gehe nicht mehr um die Auflösung geschlechtlicher Differenzen, sondern es werde Gleichrangigkeit als Ziel imaginiert. Erforderlich sei daher eine stärkere gegenseitige Annäherung von feministischer Theorie und politischer Praxis.

Gender-Betrachtungsweisen von verschiedenen Standorten

Ursula Kubes-Hofmann unternimmt einen Streifzug durch ideengeschichtliche Traditionen im Denken von Geschlechterungleichheiten und Frauendiskriminierung. Gefragt wird nach der Rolle von bildungswissenschaftlichen Diskursen und fragwürdigen Denkweisen für den Umgang mit Geschlechterverhältnissen sowie nach deren neoliberaler Regulierung. Eine Neuordnung des Bildungswesens scheint dringend geboten. Anschließend stellt die Autorin das Rosa-Mayreder-College mit seinem Bildungsangebot ‚Feministisches Grundstudium‘ vor, dessen Konzept unter anderem auf der Reflexion von Beziehungen zwischen Ungleichheitskategorien wie Class und Gender und der didaktischen Einbeziehung von biographischen Erfahrungen der Lernenden und Lehrenden beruht.

Einen staatskritischen Blick auf Gender Mainstreaming wirft Heike Weinbach, die das Verhältnis von Staat, Frauenbewegungen und Feminismus in den Mittelpunkt stellt. Nachdem sich Frauenpolitik und Feminismus zunächst außerhalb des Staates bewegt hätten, habe die spätere Institutionalisierung von Frauenpolitik zu einer staatlichen Kontrolle der vormals autonomen Frauenprojekte geführt und Gender nunmehr verstaatlicht.

Nora Fuhrmann fragt nach dem feministischen Gehalt von Gender Mainstreaming und zeichnet die deutschsprachigen Debatten über die Strategie nach. Die Autorin fordert eine stärkere Ausstattung von Gender Mainstreaming mit feministischen Inhalten, um insbesondere Frauen- und Gleichstellungsbeauftragte bei der inhaltlichen Ausgestaltung zu unterstützen.

Leah Carola Czollek untersucht die Schnittstelle zwischen Gender Mainstreaming, Interkulturalität und Antidiskriminierung. Wie Gender Mainstreaming müsse auch Antidiskriminierung als gesellschaftliche Querschnittsaufgabe betrachtet werden, um die ungewollte Erzeugung kultureller Homogenisierungen zu verhindern.

Manuela Barth und Barbara E. Schmidt stellen ihre Untersuchung vor, in der die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit in Bildern zur Computerwerbung analysiert wurde. Die Autorinnen untersuchen die Geschlechterkonstruktionen und die sich daraus ableitenden Machtbeziehungen im Kontext sich wandelnder Arbeitsbeziehungen durch die Nutzung neuer Technologien. So seien zwar Frauen und Männer in der Werbung präsent, jedoch ließen sich genau diejenigen Objektivierungsdiskurse nachweisen, die emanzipatorische Ansprüche untergraben und Geschlechterdifferenzen fortschreiben könnten.

Karin Neuwirth untersucht anhand des österreichischen Gewaltschutzes den rechtlichen Umgang mit familiärer Gewalt. Dieser bestehe vor allem darin, den Opferschutz auszubauen. Eine wichtige Rolle habe der Einsatz feministischer Frauenpolitikerinnen und Jurist/-innen gespielt, der insbesondere zur Aufklärung über die Spezifik geschlechtlicher Gewalt beigetragen habe.

Mit den Herausforderungen von Equal Pay beschäftigt sich Edeltraud Ranftl. Die ungeklärte Definition von Gleichwertigkeit und gleichwertiger Bezahlung sei ein Hindernis zur Durchsetzung gleicher Einkommen. Ranftl fordert die analytische Unterscheidung von Beschäftigungsdiskriminierung und Entgeltdiskriminierung, denn die Unterbewertung von Frauenarbeit sei nicht allein durch die zur Bekämpfung von Beschäftigungsdiskriminierung eingesetzten karriere- und berufsfördernden Maßnahmen für Frauen zu beheben. Die Autorin führt zudem Strategien zu Equal Pay auf, so könne beispielsweise eine pro-aktive Gesetzgebung eingeführt werden.

Ulrike Gschwandtner und Frigga Haug stellen Ergebnisse ihrer Untersuchung über Schulaufsätze österreichischer Jugendlicher zu ihren Zukunftsentwürfen vor. Die Autorinnen fragen nach den Erwartungen und Entwürfen weiblicher und männlicher Lebensmodelle und nach dem Umgang mit Herausforderungen wie der geschlechtlichen Arbeitsteilung. Im Ergebnis zeigte sich, dass die geschlechtliche Hierarchie in der Familie unverändert sei und Lösungen für strukturelle Probleme in individuellen Umgangsweisen gesucht würden. Die Autorinnen deuten dies als Unsichtbarkeit von Ergebnissen der Frauenbewegungen und sehen eine zunehmende Abkopplung zwischen feministischer Theorie und Alltag sowie Politik, so dass eine erneute Politisierung erforderlich sei.

Fazit: Kaum Gender ohne Gender Mainstreaming

Das heimliche Hauptthema des Bandes ist die in vielen Beiträgen diagnostizierte (wachsende) Diskrepanz zwischen feministischer Theorie und geschlechterpolitischer Praxis. Ebenso befasst sich die Mehrheit der Beiträge an zentraler Stelle mit Gender Mainstreaming und verortet darin die Diskussion des Begriffs Gender. Ohne Mainstreaming – so suggeriert es die Gesamtschau – ist Gender heute nur noch schwerlich vorstellbar.

Seinem Anliegen wurde der Sammelband mit dem Spektrum der vertretenen Beiträge zwar gerecht. Etwas einseitig erweist sich aber das in vielen Texten dominierende Verständnis von Gender Mainstreaming als neoliberaler Strategie. Auch die vielfältigen Facetten des Begriffes Gender werden insgesamt nicht im wünschenswerten Umfang gewürdigt, so dass sich eine grundsätzliche Erörterung der Bedeutungen von Gender in einem gesonderten Beitrag gewiss als wertvoll erwiesen hätte. Dies gilt auch für die Theorie-Praxis-Diskrepanz, die von der Herausgeberin offensiver hätte thematisiert werden können. Leider fehlen dem Band eine inhaltliche Einleitung sowie ein Nachwort, die ebenso wünschenswert gewesen wären wie eine inhaltliche Strukturierung der Beiträge durch eine Gliederung. Dennoch ermöglicht es die Auswahl der Texte gut, die Reichhaltigkeit und Relevanz möglicher Standorte für Gender und Gender Mainstreaming zu bestimmen.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101227

Annegret Künzel, M.A.

Berlin

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