„Jein“ zur Geschlechtertrennung in der Kindheit

Rezension von Barbara Rendtorff

Tim Rohrmann:

Zwei Welten? Geschlechtertrennung in der Kindheit.

Forschung und Praxis im Dialog.

Opladen u.a.: Budrich UniPress 2008.

426 Seiten, ISBN 978–3–940755–14–8, € 42,00

Franz-Michael Konrad, Klaudia Schultheis:

Kindheit.

Eine pädagogische Einführung.

Stuttgart: W. Kohlhammer Verlag 2008.

204 Seiten, ISBN 978–3–17–019352–9, € 25,00

Abstract: Rohrmann legt im ersten Teil seines Buches eine sehr breite Literaturstudie zu geschlechtstypischen Themen, vor allem für den Elementarbereich, vor und entwickelt am Ende Perspektiven für Forschung und pädagogisches Handeln. Ihn interessiert dabei in erster Linie die Frage, ob die Professionellen die geschlechtliche Zusammensetzung von Kindergruppen steuern sollen und wie sie mit der bei Kindern verbreiteten Tendenz zur Bildung geschlechtergetrennter Gruppen umzugehen haben. Das Buch von Konrad/Schultheis dagegen ist eine „allgemeine pädagogische Einführung“ in die Kindheit, die erst im letzten Kapitel von der Tatsache der Geschlechtlichkeit von Kindern überrascht wird.

Wir haben hier zwei Bände vorliegen, die ‚Kindheit‘ im Titel tragen, dabei aber unterschiedlicher nicht sein könnten. Während das eine als allgemeines pädagogisches Einführungs- und Studienbuch konzipiert ist, befasst sich das andere mit dem wissenschaftlichen und praktischen Umgang mit der Geschlechterthematik in der frühen und mittleren Kindheit; letzteres soll hier ausführlicher besprochen werden.

Tim Rohrmann ist als Autor seit Jahren bekannt für seine Arbeiten zu Jungensozialisation und Jungenpädagogik im Elementarbereich. Hier legt er nun eine Studie vor, die aus drei eher unverbundenen Teilen besteht: einer umfangreichen Bestandsaufnahme der Literatur zu geschlechtstypischer Entwicklung und Erziehung, einem „Empirischen Teil“ mit Expert/-innen-Interviews und einem ausführlichen Schlusskapitel, in dem Konsequenzen für das pädagogische Handeln formuliert und Desiderata für die künftige Forschung aufgezeigt werden.

Ausführliche Literaturstudie

Rohrmann macht es uns nicht leicht. Er nimmt sein Ziel, den aktuellen Forschungsstand in der deutschen und englischen Fachliteratur abzubilden, ernst und führt uns über 250 Seiten hinweg die sicherlich umfänglichste Übersicht vor, die es zum Thema derzeit gibt – Hunderte von großen und kleinen Studien zu allen erdenklichen Einzelaspekten. Seine Haltung ist hier die des neutralen Berichterstatters, er erläutert getreulich alle Ergebnisse, meist ohne zu gewichten und ohne kritische Hinweise zu Umfang und Anlage der Studie und zur Reichweite ihrer Aussagekraft zu geben – das macht es zunehmend schwierig, zwischen den mehr oder weniger bekannten und, wie in diesem Bereich üblich, häufig sehr widersprüchlichen Ergebnissen die wirklich interessanten und erklärungsbedürftigen Punkte herauszufiltern. An manchen Stellen hätte sich die Leserin da etwas weniger Vollständigkeit und dafür ein Innehalten und einen beherzteren Zugriff auf das Material gewünscht, um interessante Einzelfragen genauer zu analysieren. Wie ist etwa das Ergebnis einzuschätzen, dass sich bei Jungen mit guter Selbstregulation „ein größeres Ausmaß des Spiels mit anderen Jungen positiv auf akademische Kompetenzen“ auswirkt, bei Mädchen jedoch nur diejenigen mit schlechterer Selbstregulation vom Spiel in Mädchengruppen profitieren (S. 79)? Und wie passt das zu dem ebenfalls hier vorgestellten Befund, dass Jungengruppen als kontextabhängige interaktionelle Vereinbarung in Bezug auf die eigene Darstellung als Jungen gerade das „männlich erscheinende“, reduzierte und grobe (rough) Sprechen dient (S. 72)? Oder was ist von der Einschätzung zu halten, dass Eltern ihre Kinder zuerst stark geschlechterstereotyp erziehen und dann, wenn „das Ziel erreicht ist“ (S. 110), dass diese die geschlechtstypischen kulturellen Anforderungen verinnerlicht haben, ihre Haltung lockern und sich ausdrücklich flexiblere Orientierungen wünschen (S. 114)? Kann die zitierte Studie eine so starke These tragen, und was wären die Konsequenzen für den Elementarbereich? Auch der Befund, dass die Bildung geschlechtshomogener Spielgruppen mit der inneren Struktur der Bildungseinrichtungen in unterschiedlichen Ländern variiert (S. 97), hätte es verdient, genauer auf seine pädagogischen Konsequenzen hin weitergedacht zu werden.

Der Literaturüberblick bestätigt so einerseits das, was man schon ahnte: nichts Genaues weiß man nicht – doch wird die Fülle von widersprüchlichen Wissensbausteinen vom Autor so breit und sorgfältig vorgeführt, dass sich in künftigen Arbeiten gut daran anschließen lassen wird (auch wenn er zwischendurch selber den Überblick zu verlieren droht und viele Argumente mehrfach wiederholt werden).

Expert/-innen – ratlos

Das grundsätzliche Problem allerdings, dass sich die Mittel zum Verständnis eines Sachverhalts nicht aus seiner Beschreibung selbst gewinnen lassen, würde es erfordern, nicht nur unzusammenpassende Ergebnisse quasi objektiv zu berichten, sondern nach theoriegestützten Interpretationsmöglichkeiten zu suchen, um diese Befunde gewichten zu können. Das hätte die Aufgabe der Expert/-innengespräche sein können, die im mittleren Teil des Buches dokumentiert werden, – doch hebt der Interviewleitfaden leider so stark auf die individuellen Ansichten und Praxiserfahrungen der Teilnehmer/-innen ab, dass dieser Teil kaum etwas zur Klärung beiträgt und für die Veröffentlichung getrost hätte weggelassen werden können. Zudem wird durch die in den (recht langatmig berichteten) Gesprächsrunden zu Tage tretenden unterschiedlichen, widersprüchlichen, vagen und oftmals sehr privat erscheinenden Einschätzungen das ungute Gefühl verstärkt, dass die Expert/-innen zwar sehr engagiert, aber doch eher voluntaristisch vor sich hin werkeln.

„Gender-Play“ und „Genderkompetenz“

Nun sind die Leser/-innen gespannt auf die Pointe, die „Perspektiven für Forschung und Theorieentwicklung“, und diese konzentrieren sich auf das eigentliche Interesse des Autors, nämlich die Frage, wie geschlechtshomogene Gruppen in Kindergarten und Grundschule einzuschätzen sind – ob ihre spontane Bildung akzeptiert oder vermieden, unterstützt oder beeinflusst oder sogar von Seiten der Institution initiiert werden sollte.

Leider wird die Grundannahme, dass die Bildung geschlechtergetrennter Gruppen vor allem eine Orientierungsfunktion habe, die durch die Größe und Altersgleichheit von Gruppen in Kindergärten und Schulen verstärkt wird, hier nicht in ihren pädagogischen Konsequenzen genauer verfolgt, weil der Autor sich weniger auf die Frage konzentriert, als vielmehr auf die Einschätzung ihrer Funktion und Wirkungsweise. Auch wird in diesem dritten Teil des Buches dann doch recht wenig Bezug genommen auf die im ersten Teil referierten Studien und Ergebnisse.

Der Autor kommt nun zu dem Schluss, dass geschlechtshomogene Gruppen wichtig seien, ihre spontane Bildung akzeptiert werden solle, dass sie aber auch geschlechtstypische Orientierungen verstärken und verfestigen könnten und deshalb kritisch beobachtet werden sollten, ja ihrer Bildung zugleich auch entgegengewirkt werden solle, indem das geschlechtermischende Miteinander von Mädchen und Jungen gefördert wird. So zusammengefasst mag das banal klingen, aber der Wert dieses Kapitels liegt weniger in einem innovativen Angebot zur Praxisgestaltung als vielmehr in seiner breiten und ausdifferenzierten Zusammenschau des aktuellen Diskussionsstands, die gerade auch die Unzulänglichkeiten, Unsicherheiten und Vagheiten der Debatte herausarbeitet. Der Autor nötigt uns zu tausendmal ‚einerseits-andererseits‘, aber damit trägt er es uns, seinen Leser/-innen und den pädagogischen Praktiker/-innen, auf, selbst von hier aus weiterzudenken und weiter am Thema zu arbeiten.

Geschlecht als Überraschungseffekt

Das ist vielleicht der größte Unterschied zu dem zweiten hier zu besprechenden Buch, Kindheit von Franz-Michael Konrad und Klaudia Schultheis. Dieses Buch tritt mit der umgekehrten Geste auf, als Überblicksdarstellung, wie sie im Zuge der Modularisierung von Studiengängen vermutlich immer mehr auf den Markt kommen werden: leicht verdauliches Oberflächenwissen ohne Bezug zu zeittypischen gesellschaftlichen Fragen oder Nöten, das sich gut in Tests und Klausuren wiedergeben lässt. Aber um nicht Äpfel mit Birnen zu vergleichen, soll uns hier nur die Darstellung der Geschlechterthematik interessieren. Und die kommt (mit Ausnahme einer kleinen Bemerkung) erst zwanzig Seiten vor Schluss, im letzten Kapitel des Buches, überhaupt zur Sprache. Dieses letzte Kapitel bringt einen für seine Kürze durchaus guten Überblick über die Problematiken im Kontext von Geschlecht – aber man ist doch verblüfft, nachdem Kinder bis hierher als gesellschafts- und geschlechtslose Wesen dargestellt wurden und alle relevanten Bereiche von Kinderspiel bis Bildung, von Betreuungsinstitutionen bis Kinderliteratur ohne einen einzigen Bezug zur Geschlechterthematik ausgekommen waren, nun auf einmal zu lesen, Geschlecht sei eine zentrale gesellschaftliche Kategorie, der „von Geburt an“ Bedeutung zukomme – warum wurde es dann in den vorangegangenen hundertneunzig Seiten überhaupt nicht thematisiert? Letzten Endes diskreditiert dieses letzte Kapitel rückwirkend das gesamte restliche Buch in seinem Anspruch, „Kindheit“ pädagogisch einführend zu beschreiben, sofern es selbst darauf aufmerksam macht, dass ein wesentlicher Aspekt des Kinderlebens und von „Kindheit“ durchgängig ignoriert worden ist.

URN urn:nbn:de:0114-qn0101086

Prof. Dr. Barbara Rendtorff

Universität Paderborn, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Institut für Erziehungswissenschaft

Homepage: http://www.barbara-rendtorff.de

E-Mail: barbara.rendtorff@gmail.com

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