Der Bologna-Prozess als Instrument zur Durchsetzung geschlechtergerechter Studiengänge?

Rezension von Marco Tullney

Ruth Becker, Bettina Jansen-Schulz, Beate Kortendiek, Gudrun Schäfer:

Gender-Aspekte bei der Einführung und Akkreditierung gestufter Studiengänge – eine Handreichung.

Dortmund: Netzwerk Frauenforschung NRW 2006.

317 Seiten, ISBN 978–3–936199–06–2, kostenlos

Abstract: Auf der Grundlage von Expert/-inneninterviews entwickeln die Autorinnen der Studie Kriterien für geschlechtergerechte Studiengänge und analysieren den derzeitigen Stellenwert von Gender-Aspekten bei der Einführung gestufter Studiengänge. Hieraus entwickeln sie Handlungsempfehlungen zur stärkeren Integration von Inhalten der Frauen- und Geschlechterforschung sowie zur Erhöhung der Geschlechtergerechtigkeit in den neuen Studiengängen.

Bestandsaufnahme

Nach einigen Jahren der Diskussion wurde im von seinen Akteuren weiterentwickelten Bologna-Prozess 2003 der Abbau „geschlechtsspezifischer Unterschiede“ als offizielles Ziel des Prozesses festgeschrieben. Wesentliches Merkmal des Bologna-Prozesses ist die der Qualitätssicherung dienende Akkreditierung von Studiengängen, bei der private Agenturen die Qualität von Studiengängen überprüfen und besiegeln. In der vorliegenden Studie soll evaluiert werden, inwiefern „Gender-Aspekte“ im Akkreditierungsprozess in Deutschland Berücksichtigung finden – dies betrifft sowohl die hochschulinterne Planung und Ausrichtung des Studienangebotes als auch die externe Begutachtung und Einflussnahme –, um auf dieser Grundlage Handlungsempfehlungen zur Stärkung eben jener Gender-Aspekte und zur Entwicklung geschlechtergerechter Studiengänge zu liefern. Hierzu werden der Akkreditierungsprozess beschrieben und die derzeitige Rolle des Gender Mainstreamings bei der Einführung gestufter Studiengänge analysiert. In der Darstellung von Maßnahmen zur Implementierung geschlechtergerechter Studiengänge (S. 39–54) finden sich auch Hinweise auf den Geschlechter-Bias von Eignungstests (bei der Studierendenauswahl durch die Hochschulen, die aber als Mittel zur Erhöhung des Frauenanteils von den Autorinnen durchaus erwogen werden) und Studiengebühren sowie auf den bisher zu verzeichnenden niedrigen Anteil von Frauen in Masterstudiengängen (gegenüber einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis in Bachelorstudiengängen).

Handlungsempfehlungen

Den Kern der Broschüre bilden die Handlungsempfehlungen an Hochschulen, Politik und Akkreditierungsinstanzen (S. 75–78). Diese Empfehlungen beziehen sich, wie auch die vorausgegangenen Analysen, deutlich positiv auf den Bologna-Prozess und befürworten die systematische Einbeziehung von Gender-Aspekten in diesen Prozess. Die Empfehlungen sind logische Schlussfolgerungen aus den Analysekapiteln, weisen aus diesem Grund aber auch die gleichen Schwächen auf. Da viele Missstände auf Informations- und Kommunikationsdefizite zurückgeführt werden, beziehen sich viele der Ratschläge auf eine verbesserte Information der Akteure. Allen beteiligten Institutionen wird ein „ausgewogenes Geschlechterverhältnis“ in den Gremien empfohlen, zusätzlich soll eine Vertreterin der Bundeskonferenz der Frauenbeauftragten und Gleichstellungsbeauftragten an Hochschulen (BuKoF) in den Akkreditierungsrat aufgenommen werden. Allgemein wird angeregt, den gesamten Akkreditierungsprozess auf allen Ebenen und in allen Arbeitsschritten durch ein Gender Mainstreaming stärker auf das Ziel der Gleichberechtigung der Geschlechter auszurichten. Nur wenige der Empfehlungen sind hinreichend konkret. So bleibt dieses zentrale Ergebnis der Broschüre ein wenig enttäuschend, da es sich auf die Parole „Gender Mainstreaming des Bologna-Prozesses“ reduzieren lässt. Die Mittel, derer sich die Akteure dabei bedienen sollen, sind die typischen Hebel des Prozesses: Die Hochschulen sollen Leitbilder entwickeln und Stellen schaffen, die Politik die Wichtigkeit des Themas betonen und die Akkreditierungsinstanzen, Akkreditierungsrat wie Agenturen, sollen die Hochschulen im Zuge von Akkreditierung und Reakkreditierung auf das Ziel der Geschlechtergerechtigkeit verpflichten. Eine demokratische Ausgestaltung des Bologna-Prozesses kommt nicht vor.

Den größten Anteil am Umfang von insgesamt mehr als 300 Seiten haben die Vorschläge für die Integration von Lehrinhalten aus der Frauen- und Geschlechterforschung in 47 verschiedene Studienfächer (vgl. S. 78–257). Sie wurden jeweils von Expertinnen aus den jeweiligen Fächern beigesteuert und werden jeweils durch eine Liste an Grundlagen- bzw. Lehrbuchliteratur ergänzt. Für diese Fächer werden in einem gesonderten Kapitel (S. 259–282) Expertinnen benannt, die bereit sind, an Akkreditierungsverfahren teilzunehmen (als Teil der regulären Begutachtungsgruppe oder als zusätzliche Beraterinnen) und die Studiengänge auf Geschlechtergerechtigkeit und Integration von Inhalten der Frauen- und Geschlechterforschung zu überprüfen. Diese Kapitel sind wichtig, zeigen sie doch, dass die vorher aufgestellte Forderung nach Einbeziehung von Inhalten und Erkenntnissen der Frauen- und Geschlechterforschung in alle Studiengänge durchaus realisierbar wäre und v. a. die beschränkte Wahrnehmung dieser Forschung als ausschließlich in den Sozialwissenschaften verortete Disziplin nicht aufrecht zu erhalten ist.

Best Practices?

In einem abschließenden Kapitel werden fünf Beispiele genannt, die die Autorinnen für besonders innovative Strategien zur Integration von Gender-Aspekten in Studiengänge halten. Das Lesen ist hier nicht immer eine Freude. Die Affirmation des Bologna-Prozesses setzt sich auch an dieser Stelle fort. So wird beispielsweise ganz im Einklang mit der Ausrichtung des Prozesses auf die employability die Berücksichtigung eines Diversity-Ansatzes, der multiple Unterschiede zwischen den Menschen betont, mit der Stärkung der „Managing-Diversity-Kompetenz von Studierenden“ gerechtfertigt, „um sie für die Vielfältigkeit des globalisierten Arbeitsmarktes fit zu machen“ (S. 286). In mehreren Beispielen wird eine Ausrichtung von Lehrinhalten und -methoden an „beiden Geschlechtern“ gefordert unter Verweis auf die angeblichen Vorlieben der Geschlechter – gemeint ist jeweils, die von Frauen ungeliebten Fachanteile zurückzuschrauben. Stattdessen werden „ganzheitliche, phänomenologische“ (S. 287) Ansätze gefordert oder die Ausrichtung auf „soziale, ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Anknüpfungspunkte, für die insbesondere Frauen ein besonderes Interesse haben“ (S. 292). Zu dieser essentialistischen Sicht gehört dann auch die Forderung, „für jeden ingenieurwissenschaftlichen Studiengang die Mathematiklastigkeit […] zu überdenken“, denn dies „ist genau der Bereich, der Frauen und Mädchen vom Ingenieurstudium abhält“ (S. 288).

Auf welchem Weg zur Gleichstellung?

Es gibt viele Gründe für unterschiedliche Frauenanteile in den Studienfächern, darunter gehören vermutlich auch empirisch feststellbare unterschiedliche Interessenlagen oder unterschiedliche Affinitäten zu einzelnen Studieninhalten. Falls man diese unterschiedlichen Fächerwahlen als Problem anerkennt, kann die Lehre daraus aber nicht sein, einfach Lehrinhalte auszutauschen, um auf vermutete wesenhafte oder momentan festgestellte Interessen von Frauen zu reagieren – wir reden hier wohlgemerkt nicht vom Austausch von diskriminierenden Inhalten, Beispielen oder Methoden, sondern von der ideologischen Festschreibung der Naturwissenschafts- und Mathematikferne von Frauen. Die Forderung nach gezielten Programmen zur Werbung von Schülerinnen für beispielsweise mathematische Studiengänge spielt in der gesamten Broschüre ebenso wenig eine Rolle wie der Gedanke an die demokratische Einbeziehung der Studentinnen, die bereits vor Ort sind.

Methodisches Vorgehen

Die gesamte Studie basiert auf durch Befragungen erhobenen Daten, die in Gesprächen mit Expert/-innen aus dem Akkreditierungswesen (Agenturen, Rat), mit Wissenschaftlerinnen aus der Frauen- und Geschlechterforschung und mit Gleichstellungsbeauftragten gesammelt wurden. Dieses Vorgehen führt zu einigen Schieflagen. So wurden als Gesprächspartner/-innen in den Akkreditierungsagenturen Geschäftsführer/-innen ausgewählt und zum Selbstverständnis, zum Frauenanteil, zur Rolle von Geschlechteraspekten im Akkreditierungsprozess etc. befragt. Zwar wird festgestellt, dass v. a. im Akkreditierungsrat der Frauenanteil sehr gering ist – mit den zwei Frauen im Akkreditierungsrat hat man aber nicht gesprochen. Insgesamt entsteht der Eindruck, die Agenturen und der Rat seien durchaus sensibilisiert für die Bedeutung von Geschlechtergleichstellung und Frauen- und Geschlechterforschung. Mit welcher Konsequenz sie diese Behauptungen in die Tat umsetzen, oder welchen Anteil die Frauen in den Gremien am Zustandekommen entsprechender Beschlüsse haben, und welchen Widerständen sie dabei begegneten, wird so nicht in Erfahrung gebracht. So hätte die Forderung nach Aufnahme der BuKoF durchaus um die Information ergänzt werden können, dass die hierfür nötige Satzungsänderung bereits im Rat behandelt worden ist – und dort abgelehnt wurde. Insgesamt spielen die Akkreditierungsinstanzen eine sehr geringe Rolle in dem Analyse-Teil der Studie, was um so verwunderlicher ist, als sie in den Empfehlungen eine große Rolle spielen und die Autorinnen sich ihrer bedienen möchten, um die „Gender-Aspekte“ in den Studiengängen zu verankern. Ein stärkeres Nachfassen, ob und ggf. unter welchen Bedingungen dies denn realistisch ist, wäre wünschenswert gewesen.

Fazit

Die zahlreichen Beispiele und Erfahrungsberichte lassen sich im Rahmen dieser Besprechung nicht angemessen wiedergeben. Die Zusammenstellung ist wichtig und verdienstvoll. Die Berücksichtigung der Geschlechterdimension in der Konzeption und Akkreditierung von Studiengängen ist momentan nicht in ausreichendem Umfang gegeben, und es mangelt an klaren Richtlinien und Leitbildern. Die in der Studie vorgeschlagenen Kriterien für eine geschlechtergerechte Ausgestaltung sind eine gute Diskussionsgrundlage, insofern ist die Auseinandersetzung mit dem zusammengestellten Material eine Pflicht für alle an den Hochschulen Tätigen (dies schließt explizit die Studierenden mit ein), die sich mit der feststellbaren Tendenz zur Verfestigung von (quantitativen wie qualitativen) Geschlechterasymmetrien in den neuen Studiengängen nicht abfinden wollen. Ein sorgfältigeres Lektorat, ein kritischeres Verhältnis zum Bologna-Prozess und eine stärkere Gewichtung demokratischer Elemente hätten deutlich zur Verbesserung der Studie beigetragen.

Neben der kostenlos erhältlichen Druckfassung ist die Studie als Download aus dem Web erhältlich.

URN urn:nbn:de:0114-qn081170

Marco Tullney

FU Berlin, Redaktion Querelles-Net

E-Mail: tullney@zedat.fu-berlin.de

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