Frauenbefreiungsbewegungen und gesellschaftliche Transformation

Rezension von Aline Oloff

Kristina Schulz (Hg.):

The Womenʼs Liberation Movement.

Impacts and Outcomes.

Oxford u.a.: Berghahn Books 2017.

372 Seiten, ISBN 978-1-78533-586-0, $ 150

Abstract: Der Sammelband ist Teil der Historiographie der Frauenbewegungen der 1970er und 1980er Jahre, die sich unter der Losung der ‚Frauenbefreiung‘ formiert haben. Er enthält Fallstudien zu feministischem Aktivismus in verschiedenen, vorrangig westeuropäischen Kontexten und bezogen auf unterschiedliche politische Fragen oder aber kulturelle Praxen. Mit der übergeordneten Frage, wie die Auswirkungen und langfristigen Folgen der Frauenbefreiungsbewegungen einzuschätzen seien, soll dabei über eine bloße Bestandsaufnahme hinausgegangen werden – eine Herausforderung, der allerdings nur wenige Beiträge des Bandes gerecht werden.

DOI: https://doi.org/10.14766/1261

In den späten 1960er und frühen 1970er Jahren formierten sich in zahlreichen westlichen Gesellschaften Frauenbewegungen, die sich selbst als Befreiungsbewegungen verstanden. Diese markieren, so auch die Herausgeberin des vorliegenden Bandes, Kristina Schulz, einen spezifischen historischen Moment in der mehrere Jahrhunderte umfassenden Feminismusgeschichte (S. 1). Die von Nazi-Deutschland ausgehende Vernichtungsmaschinerie und die Erschütterungen des Zweiten Weltkrieges hatten den vielfältigen Aktivismus für Frauenrechte der Jahrhundertwende nahezu zum Erliegen gebracht. Es ist daher wenig verwunderlich, dass Akteur_innen ihren Aktivismus selbst als Aufbruch und Neuanfang, als ‚Stunde Null‘ der Frauenbefreiung verstanden haben. Dieser neue feministische Aktivismus entwickelte sich im Kontext der Neuen Linken, die ihrerseits im Verlauf der langen 1960er Jahre in Abgrenzung zu etablierten linken Parteien und Organisationen als Anti-Kriegsbewegung mit starkem Bezug auf die antikolonialen Befreiungsbewegungen im globalen Süden entstanden ist. Im Fall der Bundesrepublik war die Aufarbeitung der Zeit zwischen 1933 und 1945, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht stattgefunden hatte, ebenfalls ein wichtiger Antrieb für die neue linke Protestbewegung. Es war dieser Kontext, in dem eine große Zahl der Aktivist_innen der Neuen Frauenbewegungen ihre politische Sozialisation erfahren und aus dem sie auch die häufig unkonventionellen Protestformen übernommen hat. Der Chauvinismus der linken Genossen und die kollektive Erfahrung, als Frauen irgendwie nur dabei zu sein, führten zum Rückzug aus den gemischten Gruppen und zur Formulierung eines eigenen Programmes der Frauenbefreiung.

Feministischer Aktivismus in Westeuropa – Auswirkungen und Folgen

Diese Geschichte ist bereits für viele lokale Kontexte aufgearbeitet und erzählt worden, dies allerdings häufig bezogen auf einzelne Länder oder maximal in einem Zwei-Länder-Vergleich, wie beispielsweise in der bereits 2002 erschienenen Studie der Herausgeberin zur deutschen Neuen Frauenbewegung und dem französischen Mouvement de libération des femmes (Schulz 2002). Ein Verdienst des vorliegenden, in englischer Sprache verfassten Bandes ist es, Einblicke in verschiedene, in erster Linie westeuropäische Kontexte zu vermitteln und darüber Gemeinsamkeiten, aber auch lokale Spezifika des feministischen Aktivismus und seiner politischen wie kulturellen Rahmenbedingungen erkennbar werden zu lassen. Verbunden werden die Beiträge durch die Frage nach der transformatorischen Kraft der Frauenbefreiungsbewegung. Mit dieser Fokussierung auf die Auswirkungen und Folgen des feministischen Aktivismus situiert die Herausgeberin selbst den Band selbst zwischen der historiographischen Arbeit der Feminismus-Geschichtsschreibung und der sozial- und politikwissenschaftlichen Erforschung sozialer Bewegungen (S. 3). In den einzelnen Beiträgen wird die übergeordnete Frage häufig in eine Verlaufserzählung, mit der eine Entwicklung erfasst werden soll, übersetzt. Hierbei wird deutlich, dass sich die Erfolge auf der Ebene der Mobilisierung, des Agenda Settings und der Gesetzgebung recht gut bilanzieren lassen, die langfristigen Folgen aber ungleich schwerer zu erfassen und einzuordnen sind. Diese Schwierigkeit wird von der Herausgeberin selbst einleitend diskutiert und als eine offene Frage gesetzt, die Historiographie wie die Bewegungsforschung vor methodologische und konzeptionelle Herausforderungen stellt (S. 6˗8). Diese werden in einzelnen Beiträgen im Band explizit aufgegriffen, die Mehrzahl der Autor_innen verbleibt jedoch auf der deskriptiven Ebene.

Die Beiträge sind thematisch in fünf Sektionen geordnet: Während es im ersten Teil um die Transformation von Institutionen und hier vor allem um den Staat als politisch-institutionellen Rahmen für feministischen Aktivismus sowie um Wissenschaft und Recht geht, sind im zweiten Abschnitt Beiträge versammelt, die sich mit der Dimension von Sprache im weitesten Sinne befassen. Thema sind hier die Aneignung von Sprache in literarischen Texten sowie der Aufbau eigener Publikationsstrukturen, die Rezeptionswege innerhalb des feministischen Aktivismus sowie die Rolle der Sprache für die Entstehung kollektiver Identität. Die Beiträge in Teil drei nähern sich den Frauenbefreiungsbewegungen im breiteren Kontext von zeitgenössischen sozialen Bewegungen und thematisieren einige der Konfliktlinien innerhalb der Bewegungen, hier vor allem Sexualität sowie race- und Klassenverhältnisse. Abschnitt vier enthält zwei Beiträge, in denen transnationale Kontakte zwischen feministischen Gruppen zum Ausgangspunkt für eine „connected history of feminism“ (S. 237) werden. Im fünften Teil werden methodologische und konzeptionelle Fragen in der Erforschung von Effekten und langfristigen Wirkungen sozialer Bewegungen aufgeworfen und diskutiert. Gerahmt werden die thematischen Schwerpunkte durch einleitende und abschließende Worte der Herausgeberin.

Feminismus als transformatorische Kraft in Politik, Akademie und Kulturbetrieb

Die Frage nach den Folgen des feministischen Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre wird im Band auf unterschiedliche Weise aufgegriffen und beantwortet. (Zuweilen scheint sie allerdings auch überhaupt keine Rolle zu spielen wie bei Sylvie Chaperon, die das Verhältnis zwischen Simone de Beauvoir und den Aktivistinnen des Mouvement de libération des femmes beschreibt. Dieser Beitrag lässt die Leserin etwas ratlos zurück.) So vielfältig wie die lokalen Kontexte, die Untersuchungsgegenstände (politische Kampagnen, literarische Praxen, Auseinandersetzungen innerhalb feministischer Gruppen, die Zirkulation und Rezeption einzelner Texte oder aber transnationale Kontakte zwischen Gruppen etc.) und die in den Blick genommenen Zeitspannen, so heterogen sind auch die Aussagen über ‚Erfolge‘ bezogen auf konkrete Ziele und die sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen in der Langzeitperspektive. Wir erfahren etwas über die Dynamiken im Feld des feministischen Aktivismus in der Schweiz, wo sich Frauenrechtsaktivismus und autonomer, staatskritischer und auf ‚Befreiung‘ ausgerichteter Aktivismus in den 1970er Jahren direkt begegneten. Sarah Kiani (mit Bezug auf Gleichstellungsrecht) und Leena Schmitter (zum Kampf um reproduktive Rechte) beschreiben, wie feministische Forderungen in politische Kampagnen übersetzt wurden und schließlich in Verfassungsartikel bzw. Gesetzgebung mündeten. Welchen Einfluss feministischer Aktivismus und feministische Theorie auf die Institution Wissenschaft hatten und wie sich jene durch den Weg in die Akademie selbst veränderten, legt Stefanie Ehmsen am Beispiel der Akademisierung des Feminismus in Westdeutschland und den USA dar.

Die Bedeutung von Literatur und das Verfügen über eigene Publikationsstrukturen ist Gegenstand im Beitrag von Kristina Schulz. Am Beispiel von literarischen Aktivitäten in Zürich entwickelt sie die These, dass Literatur bzw. die Aneignung des geschriebenen Wortes (und der Aufbau unterstützender Strukturen) als ein konstitutives und identitätsstiftendes Moment für die Frauenbewegung verstanden werden kann. Neben der integrativen Funktion des community buildings sieht Schulz aber auch langfristige kulturelle Effekte: Über die konkreten literarischen Aktivitäten wie die Gründung von Verlagen und Buchhandlungen werde eine feministische Perspektive in den Literaturbetrieb getragen und eine neue soziale Realität geschaffen. Um Erfolgsgeschichten ganz anderer Art geht es Ana Margarida Dias Martins. Sie zeichnet die Rezeptionsgeschichte zweier Texte nach, die sie beide für bahnbrechend hält, von denen aber nur Borderlands von Gloria Anzaldua aus dem Jahr 1987 Teil des feministischen Theorie-Kanons geworden ist. Dass der andere, frühere Text, Nova Cartas Portuguesas von Maria Isabel Barreno, Maria Teresa Horta und Maria Velho da Costa, der in Portugal in den 1970er Jahren erschienen ist, nicht wahrgenommen worden ist, führt Dias Martins auf kulturelle Hegemonien im Feminismus zurück. Ebenfalls zwei Texte, hier zwei literarische, stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Christa Binswanger und Kathy Davis, welche Verena Stefans Erzählung Häutungen (1975) und Charlotte Roches Bestseller Feuchtgebiete (2008) zum Ausgangspunkt machen, um nachzuvollziehen, wie sich der feministische Diskurs zu Körpern, sexueller Lust und Ermächtigung in der Sexualität in den letzten 30 Jahren entwickelt hat.

Bewegungskontexte und transnationale Verbindungen

Verschiedene Beiträge behandeln die Entwicklung des feministischen Aktivismus im Kontext von anderen sozialen Bewegungen. Die Frage nach den Effekten und Wirkungen des Aktivismus wird hier vor allem als eine Frage nach den wechselseitigen Einflussnahmen – von Kooperationen bis hin zu Konflikten und Verwerfungen – diskutiert. Christine Bard etwa zeichnet die Entwicklung von sogenanntem Lesbianismus als politischer Haltung im Feminismus in Frankreich nach – von der Verleugnung von Homosexualität in der Zeit vor 1970 über Konflikte in der Frauenbefreiungsbewegung bis hin zu separatem Aktivismus in den 1980er, der Schaffung von Netzwerken und politischer Repräsentation in Vereinsform in den 1990er und schließlich dem Entstehen von queerem Aktivismus in den 2000er Jahren. Marcia Tolomelli und Anna Frisone wiederum stellen dar, inwiefern die italienische Linke und das hier dominierende Paradigma des Klassenkampfes die Entwicklung des feministischen Aktivismus geprägt haben. Wie Feminismus auf die mit der Frauenbewegung sympathisierenden Männer und deren Organisation in Männergruppen wirkt, hat Lucy Delap für den britischen Kontext untersucht. In Großbritannien bewegt sich auch Natalie Thomlinson, die anhand verschiedener Beispiele die schwierige Zusammenarbeit zwischen Schwarzen und weißen Feministinnen beschreibt.

Um versuchte Einflussnahme bzw. um wünschenswerten Einfluss geht es in den Beiträgen, die im Buchteil zu transnationalen Verbindungen im Feminismus enthalten sind. Kirsten Harting schildert die Begegnung zwischen französischen Aktivistinnen und sowjetischen Dissidentinnen, bei der die französische Seite mit der ‚Entdeckung des sowjet-russischen Feminismus‘ eine eigene Agenda verfolgte. Johanna Niesyto unterstreicht – ausgehend von einer sehr interessanten und informativen Annäherung an die deutschsprachige Szene – die Bedeutung von Feminismus im Netz: Cyberfeminismus sei eine politische Kraft, die im Netz absolut gebraucht werde.

Wie lassen sich die Auswirkungen sozialer Bewegungen erfassen?

Im abschließenden fünften Teil des Buches werden methodologische Fragen aufgeworfen, die sich bei der Erforschung sozialer Bewegungen und ihrer Wirkung stellen. Hier wird vor allem oral history als Methode diskutiert, da diese gerade für die Erforschung der Geschichte sozialer Bewegungen neue Quellen eröffne. Dass es zwischen der Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung von Aktivist_innen und der Außenwahrnehmung (auf Grundlage von schriftlichen Zeugnissen) allerdings Spannungen und Widersprüche geben kann, führt Elisabeth Elgán am Beispiel einer in den 1970er Jahren aktiven feministischen Gruppe in Schweden aus. Margaretta Jolly, die von einem groß angelegten Archiv-Projekt in Großbritannien berichtet, äußert sich ebenfalls zu den methodologischen Herausforderungen von feministischer oral history, die sie vor allem als Frage der Repräsentation (nach welchen Kriterien werden die Interviewpartner_innen ausgewählt) und der passenden Interviewmethode formuliert. In dem an der British Library angebundenen Multimedia-Archiv werden unter anderem sogenannte Lebensgeschichte-Interviews mit Aktivistinnen gesammelt. Anhand dieses Materials wird deutlich, dass mit feministischem Aktivismus sehr häufig biographische Konsequenzen verbunden sind, so Jolly, die damit auf eine weitere Dimension der Auswirkungen und Folgen von Aktivismus hinweist.

In ihrer abschließenden Einordnung der Frauenbefreiungsbewegungen in die Geschichte des Feminismus unterstreicht Karen Offen die Bedeutung solcher Bemühungen, Wissen und Quellen zu sammeln. Gegenwärtig befänden wir uns an einem „generational turning point“ (S. 331), an dem es überaus wichtig sei, Quellen und historisches Wissen zu sichern. Ob es allerdings bereits möglich sei, die Bedeutung des feministischen Aktivismus der 1970er und 1980er Jahre einzuschätzen und zu beurteilen, ob „die Frauenbewegungen der letzten Generation“ (S. 330) einen bleibenden Einfluss hat, bezweifelt sie.

Fazit

Dies ist eine Einschätzung, die man nach der Lektüre des Bandes teilen mag, da in den einzelnen Fallstudien zwar interessante Einblicke in feministischen Aktivismus und in dessen Erfolge auf der Ebene der Mobilisierung, des Agenda Settings und der politischen Einflussnahme vermittelt worden sind, die Antworten auf die Frage nach den langfristigen Effekten aber – wenn sie überhaupt aufgegriffen worden ist – eher spekulativ und vage ausgefallen sind. Dennoch, auch wenn die Frage nach der Langzeitwirkung vorerst offen geblieben ist – und vielleicht zum jetzigen Zeitpunkt auch noch offen bleiben muss –, so ist es doch ein Verdienst der Herausgeberin und der Autor_innen des Bandes, die Auseinandersetzung damit eröffnet zu haben. Das große Plus des Buches besteht eindeutig in seiner Vielfältigkeit und im interessanten empirischen Material, das hier zugänglich gemacht wird. Für alle, die sich für die Geschichte von Frauenbewegungen und Feminismus interessieren, lohnt sich ein Blick in das Buch daher allemal. In gedruckter Form ist es allerdings sehr kostspielig, so dass auf die Anschaffung durch Bibliotheken zu hoffen ist.

Literatur

Schulz, Kristina. (2002). Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich 1968-1976. Frankfurt am Main/New York: Campus.

Aline Oloff

Technische Universität Berlin

Homepage: https://www.zifg.tu-berlin.de/menue/team/aline_oloff/

E-Mail: aline.oloff@tu-berlin.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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