Männerbünde um 1900 als ‚urdeutsches‘ Thema in Wissenschaft und Literatur?

Rezension von Torsten Mergen

Sebastian Zilles:

Die Schulen der Männlichkeit.

Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900.

Köln u.a.: Böhlau Verlag 2018.

378 Seiten, ISBN 978-3-412-50920-0, € 60,00

Abstract: Um 1900 zeigt sich in der deutschsprachigen Literatur eine intensive Auseinandersetzung mit der Männerbund-Thematik. Sebastian Zilles untersucht am Beispiel kanonischer Texte von Robert Musil, Thomas und Heinrich Mann sowie Franz Werfel, welche literarischen Verfahren dabei zum Einsatz kommen und welche Rückschlüsse dies auf die sogenannte Krise der Männlichkeit wirft. Methodisch konzipiert als Verknüpfung von Masculinity Studies und Literaturwissenschaft wird das Wissen über Männerbünde und Männlichkeit in Wissenschaft und Literatur um die Jahrhundertwende reflektiert. Die Krise der Männlichkeit wird gedeutet als Folge überzogener militärisch-sozialer Disziplinierungsanstrengungen einerseits und rigider, antimoderner sowie antifeministischer Männlichkeitsutopien anderseits.

DOI: https://doi.org/10.14766/1260

Die Erforschung der Narrative von Männlichkeit und Gewalt im Kontext der Genderforschung ist in den vergangenen Jahren intensiviert worden. In mehreren Sammelbänden und Einzelstudien mit kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen wurde sich dieser Thematik angenommen (vgl. S. 345-374). Insbesondere das Phänomen des Männerbundes erfährt dabei aus wissenschaftlicher Sicht als Forschungsgegenstand besondere Aufmerksamkeit, nicht zuletzt gestützt auf ein Diktum des Soziologen Nicolaus Sombart, wonach Männerbünde im Wilhelminismus um 1900 ein urdeutsches Phänomen darstellten, da sie die Aufgaben einer Sozialisationsinstanz (von der Schule über die Universität bis schließlich zum Militär) ein- und wahrgenommen hätten. Sowohl Sombarts Beobachtungen zum sogenannten Männerbundsyndrom verweisen auf die Existenz eines spezifischen Männerbund-Typus als auch Arbeiten von Helmut Blazek, Jürgen Reulecke und Claudia Bruns, besonders aber von Klaus Theweleit; all diese Autor/-innen haben sich mit Formen und Funktionen männerbündischer Strukturen aus historisch-kulturgeschichtlicher sowie soziologisch-ethnologischer Perspektive beschäftigt. Die entsprechenden Ergebnisse und Analysekonzepte führt Sebastian Zilles in seiner germanistischen Studie weiter, was hinsichtlich der Forschungserträge aus der Perspektive einer kulturwissenschaftlichen Literaturwissenschaft im Folgenden näher betrachtet werden soll. Die Qualifikationsschrift ist bis Sommer 2016 als Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Mannheim unter Betreuung der Professoren Jochen Hörisch und Thomas Wortmann entstanden und 2018 als Band 71 der Reihe „Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte“ im Böhlau Verlag erschienen.

Narrative Texte als Wissensspeicher

Zilles untersucht in einer durchgehend präzisen Diktion die Spezifika des Männerbund-Typus im Bereich der Kultur und Literatur: Die Studie „stellt eine neue Lesart bzw. Interpretation der Männerbundthematik vor, geht es ihr […] doch gerade darum, das kritische Wissen der Literatur zu betonen.“ (S. 14) In nuce wird in der lesenswerten Arbeit das in narrativen Texten sich kulminierende Wissen über Männerbünde und Männlichkeit als soziale Konstrukte im Zeitraum um 1900 fokussiert. Texte von Autoren wie Robert Musil, Franz Werfel, Thomas und Heinrich Mann enthalten nach der Lesart von Sebastian Zilles ein „kritisches Alternativwissen“ über „Männerbünde als ideologische Maschinerien“ (S. 16). Dieses Wissen lässt erkennen, wie ein spezifisches Männlichkeitsbild bei jungen Männern in homosozialen Räumen entstand, gerade zu einer Zeit, als sich der Feminismus etablierte und die Rolle der Frau(en) in der Gesellschaft einem Wandel unterworfen war. Durch eine antimoderne und antifeministische Auffassung sollten (vor allem junge) Männer in einem (Selbst-)Bild von Männlichkeit als „hart“ und als „ein fester Körperpanzer gegen die Frau“ (S. 17) geprägt werden, ferner sollten sie eine gesellschaftlich normierte Geschlechtlichkeit in Form einer Bipolarität (‚harter‘ Mann versus ‚weiche‘ Frau) annehmen. In acht Kapiteln wird dieser Ansatz systematisch verfolgt, um zu zeigen, inwieweit Literatur hierbei eine durchaus kritische Gegenposition konstruierte.

Methodenpluralismus zur Erforschung der Schulen der Männlichkeit

In der Studie, deren Titel Schulen der Männlichkeit an eine Formel Ute Freverts für soziale Räume angelehnt ist, steht „am Beispiel von Männerbünden die Formbarkeit der Geschlechtsidentität“ (S. 17) im Blick, wie die knappe Einleitung betont: Durch den Fokus auf die erzählende Literatur um 1900 legt sie zugleich Verhaltensmuster offen, welche als Vorbereitung des Faschismus gedeutet werden können. Das zweite Kapitel liefert einen kompakten Forschungsüberblick zu „Themen, Theorien und Personen“ (S. 21) für die Bereiche der Masculinity Studies respektive Männlichkeitsforschung, der gender-orientierten Erzählforschung sowie der Forschung über Männerbünde. Forschungsmethodisch innovativ ist die konsequente Verknüpfung der verschiedenen Forschungsfelder im Sinne eines so postulierten Methodenpluralismus. In Anlehnung an Judith Butler, Robert Connell sowie Pierre Bourdieu wird Männlichkeit intersektional als „ein kulturelles Konstrukt“ (S. 23) interpretiert. Dies wird in Verbindung gebracht mit Walter Erharts Studien zu Männlichkeitsfiktionen, da in diesen Männlichkeit als narrative Struktur gelesen wird, welche eine „instabile kulturelle Konstruktion“ (S. 36) kennzeichnet. Literatur gewähre insofern Einblicke in soziale Konstruktions- und Deutungsmuster, wobei explizit krisenhafte Männlichkeitsentwürfe seit dem 19. Jahrhundert als Begleitphänomene soziokultureller Wandlungsprozesse erkenntnisfördernd seien. Nach Zilles gilt dies im besonderen Maße für die Männerbünde als Formen der Männerorganisation mit institutionalisierten und hierarchisch-strukturierten, bisweilen elitären Charakterzügen, mit dem Ziel, die „hegemoniale Machtstellung des Mannes gegenüber der Frau“ (S. 42) zu sichern.

Rekonstruktion von Männlichkeitskonfigurationen um 1900

Einen breiten Raum der Studie nehmen daher die „Lektüren von Männerbünden und Männlichkeitskonfigurationen um 1900“ (S. 47) ein. In einer äußerst knappen, bisweilen pauschalisierend wirkenden Überblicksdarstellung geht Sebastian Zilles dazu einführend auf fünf Seiten den Geschlechterkonzeptionen von der Antike bis zur Moderne nach, um sich dann ausführlicher den Aspekten soldatische Männlichkeit und Krisensymptome um 1900 zu widmen. Als Ergebnis arbeitet er für einen Zeitraum von der Jahrhundertwende bis zu den dreißiger Jahren plausibel das „Wissen über Männerbünde in verschiedenen Disziplinen“ (S. 48) heraus, indem er mittels historischer Diskursanalyse ein beachtliches Textkorpus zur Begriffs- und Konzeptklärung heranzieht. Johann Jakob Bachofens Das Mutterrecht (1861), Heinrich Schurtzʼ Altersklassen und Männerbünde (1902), Hans Blühers Wandervogel-Trilogie (1912) und Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917/1919), Herman Schmalenbachs Kategorie des Bundes (1922) sowie Alfred Bäumlers Männerbund und Wissenschaft (1934) liest Zilles als „Männerbundschriften“ (S. 48). Er dechiffriert deren verborgenes Wissen als „master narrative“ (S. 150) über den Zusammenhang von Geschlecht und Macht, indem er auch deren jeweilige Rezeption im literarischen und politischen Diskurs sowie in der zeitgenössischen Forschung aufzeigt. Besonders mit Bezug auf Blühers jugendbewegte Texte erläutert er, wie sich spätestens im Ersten Weltkrieg eine „Denkfigur der Schulen der Männlichkeit“ (S. 151) etabliert hat, mit der Folge einer erkennbaren Exklusion und eines manifesten Bedrohungsgefühls: „Die Nähe zwischen Männern sieht Blüher jedoch nicht nur durch das Weibliche und das Jüdische bedroht, sondern auch durch diejenigen, die ihre Gefühle für andere Männer unterdrücken und bekämpfen.“ (S. 151) Alfred Bäumlers Radikalisierung mündet schließlich in der binären Formel eines Freund-Feind-Schemas, was sich in der Antithese von Soldatischem und Weiblichem verfestigt. Insgesamt verdeutlicht Zilles konzentrierte und stupende Diskursanalyse die sich allmählich herausbildende „Funktion von Männerbünden: Sie wollen dem bedrohten Mann Schutz bieten.“ (S. 152) Ferner gelten die Bünde als Gewähr für Machtsicherung und Machtausbau des Mannes.

Literarische Textanalysen zu fragilen Geschlechtsidentitäten

Im vierten Kapitel geht es dem Autor um eine theoretische Fundierung seiner Textanalysen. Gestützt auf Judith Butlers Performativitätskonzept der intelligiblen Geschlechtsidentitäten (somit eines Modells, wie die Gesellschaft Subjekte anerkennt) und Foucaults Macht- und Sexualitätsbegriff stellt er eine zentrale Forschungshypothese auf: „Männerbünde verfolgen aus einer geschlechtsspezifischen Perspektive das Ziel, intelligible Geschlechtsidentitäten zu produzieren. […] Sie regulieren und produzieren damit ein bestimmtes Männlichkeitsbild […]. Jegliche Abweichung von der Norm soll bereits so früh wie möglich eliminiert werden, weshalb die literarischen Texte danach befragt werden, mit welchen Mitteln und Methoden dieser ‚Korrekturprozess‘ verläuft“ (S. 160f.).

Auf mehr als 150 Seiten werden nun in den folgenden Kapiteln vier epische Texte nach dieser Perspektive hin analysiert und interpretiert. Für Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) kann Zilles unter Berufung auf Foucaults Kontrollkonzept konstatieren, dass die im Text gezeichnete Militäranstalt auf Dominanz und Unterordnung hin angelegt ist, was sie von weiblich codierten Räumen wie Familie oder Privatwohnung grundlegend unterscheidet: „Um ein Kollektiv zu formen, ist das Gebäude [der Militäranstalt] architektonisch so angeordnet, dass man die Schüler optisch und akustisch überwachen kann.“ (S. 337) Der Versuch der Jungen, sich der Kontrolle in einem Geheimversteck auf dem Dachboden zu entziehen, mündet jedoch in einer Gewaltorgie. Musils Roman zeige, nicht zuletzt wegen der Brüchigkeit der männerbündisch konzipierten Welt, am Ende durch den Schulverweis von Törleß, dass Männerbünde stets von innen wie von außen bedroht sind.

Gleichfalls gegen den Strich liest und deutet Zilles das Verhalten des Protagonisten Diederich Heßling in Heinrich Manns Roman Der Untertan (1914/1918). Oftmals wurde die Hauptfigur des Romans von der einschlägigen Forschung als der autoritäre Charakter schlechthin typisiert, hingegen sieht Zilles die Burschenschaft „Neuteutonia“ als autoritären Männerbund, der mittels Initiationsriten Tendenzen von Autonomie und Individualität auszulöschen trachtet, was an Heßlings Unmännlichkeit de facto aber letztendlich scheitert. Obwohl Mann literarisch zeige, wie sein Protagonist Heßling mehrfach bei Männlichkeitsproben und -ritualen völlig versage, demonstriere er umso deutlicher im zweiten Romankapitel (der Wiederbegegnung mit Agnes), dass die Wahl zwischen Männerbund oder Familie Teil der Entscheidung ist, „der harte oder der weiche Diederich zu sein.“ (S. 254) Sodann zeige der Roman trotz Heßlings ökonomischem und politischem Aufstieg in Netzig, dass er daran scheitere, „eine feste männliche Identität“ (S. 278) zu erreichen, was als literarische Kritik an der Männlichkeitsformierung um 1900 gelesen werden könne.

Exkursionsartig kontrastiert er diese Befunde mit dem Roman Doktor Faustus (1947) von Thomas Mann, welcher die jugendbewegt-bündische Ebene des Männerbund-Diskurses am Beispiel des „Winfried-Bundes“ tangiert. Mann spüre darin einer Haltung nach, die den Männerbund um 1900 als Vorbereitung der Radikalisierung im Dritten Reich interpretiere: Der fiktive christliche Studentenbund „Winfried“ verdeutliche den Zusammenhang von Romantik und Nationalismus in typischen Formen wie Naturbegeisterung und gemeinsamen Wanderungen.

Das siebte Kapitel bietet insofern eine Überraschung, als mit Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1919) ein weniger bekannter Text fokussiert wird. Auch hier werden die Mechanismen von Disziplin und Disziplinierung in einer „Schule der Männlichkeit“ mit Blick auf die Mittel der Prüfung und der Bestrafung analysiert. Am Beispiel des Erzählers und Protagonisten Karl Duschek wird sowohl das Leiden in einer Kadettenanstalt als auch deren Fortführung in der Familie gezeigt, die als „eine Verlängerung der Kadettenanstalt“ (S. 314) dargestellt wird. Intensiv betrachtet Zilles die Bedeutung und Verklärung von Blut und Ehre in diesem Kontext, er konstatiert für die Vater-Sohn-Beziehung sogar eine genuine „Sprache der Blutsmystik“ (S. 333) im Prozess der Mannwerdung. Ferner arbeitet er die Logik der Gewalt heraus, die sich sowohl im Austausch mit dem Vater als auch in der Tätigkeit in einer Geheimorganisation zeigt: „Vor [sic] der Durchsetzung von Zielen wird dabei vor dem Gebrauch von Waffengewalt kein Halt gemacht.“ (S. 338)

Im knappen letzten Kapitel wird ein Fazit über die „Lehren der Schulen der Männlichkeit“ (S. 335) gezogen. Zilles hält fest: „Die Krise der Männlichkeit um 1900 basiert damit einerseits auf dem Konformitätsanspruch, der mit Mitteln der Disziplinierung geltend gemacht wurde; sie ist andererseits auf eine rigide, antimoderne, antifeministische Auffassung von Männlichkeit zurückzuführen, die die Bünde selbst produzieren.“ (S. 339)

Bereicherung der Männlichkeitsforschung durch kulturwissenschaftliche Perspektivierungen

Resümierend betrachtet bietet die Studie von Sebastian Zilles einen Beleg dafür, dass in der Literatur erkennbar belastbares Wissen über die eingeübten Mechanismen und Muster von Männerbünden eingeschrieben ist, was vielfältige soziokulturelle und ideologiekritische Deutungspotentiale eröffnet. Für die Männlichkeitsforschung wird damit einerseits ein großer Korpus an Textquellen erschlossen, der den Anstoß für zahlreiche weitere Untersuchungen geben kann. Anderseits eröffnet das methodische Instrumentarium von Zilles in überzeugender Weise die Chance, transdisziplinär zu arbeiten, um dem Prozess der Mannwerdung in den „Schulen der Männlichkeit“ nachzuspüren. Der Wissenschaftler weist präzise nach, dass den Männerbünden „die Sozialisationsaufgabe zugewiesen [wurde], Knaben zu Männern zu erziehen und Männlichkeit demnach als soziokulturelles Produkt aufzufassen.“ (S. 336) Zugleich belegt die Studie die kritische Haltung der vorgestellten Schriftsteller zu diesem Ziel von Männerbünden, wie sie in Schule, Militär und Vereinen Niederschlag fand: „Was die Protagonisten aller Texte gemeinsam haben, ist die Charakterisierung durch das Attribut weich.“ (S. 338) Man wird nicht jeder Lesart bzw. Detailanalyse von literarischen Verfahren wie Maskerade, Parodie, Verfremdung oder Zitat zustimmen müssen (die Zilles im Hauptteil der Studie en détail vornimmt, ohne sie zusammenfassend zu würdigen), aber der umfangreiche Materialkorpus, die stringent hergeleiteten Analysekategorien und die schlüssige, terminologisch sehr präzise Darstellungsweise sind eine wesentliche Bereicherung für die bisherige kulturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung germanistischer Provenienz.

Torsten Mergen

Universität des Saarlandes

Dozent für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur

E-Mail: Torsten.Mergen@mx.uni-saarland.de

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