Weiblichkeit als verräumlichte Praxis

Rezension von Judith von der Heyde

Gökçen Yüksel:

Raum und Geschlecht.

Die Verräumlichung von Geschlechternormen in der türkischen Provinz Hatay.

Weinheim u.a.: Beltz Juventa Verlag 2017.

168 Seiten, ISBN 978-3-7799-3706-7, € 34,95

Abstract: Gökçen Yüksel untersucht das Verhältnis von Raumordnungen und Geschlechterordnungen und greift dafür auf 26 Interviews mit jungen Frauen aus der türkischen Provinz Hatay zurück. Sie zeigt auf, dass Raumordnungen aus einem komplexen Zusammenwirken gesellschaftlicher Regulierungen und Alltagspraktiken resultieren. Sie rekonstruiert die vergeschlechtlichten Ordnungen, die für die jungen Frauen praktische Einschränkungen und Regulative bedeuten. Es wird deutlich, dass die Frauen selbst diese Regulative und Vorgaben problematisieren und ebendiese Auswirkungen auf ihr Handeln haben.

DOI: https://doi.org/10.14766/1243

Das Forschungsinteresse der Dissertationsstudie von Gökçen Yüksel besteht in der Herausarbeitung des Zusammenhangs von Geschlechterordnungen und Raumordnungen. Die Arbeit befindet sich an einer Schnittstelle von soziologischer Geschlechterforschung und Raumsoziologie. In ihrer politikwissenschaftlich verorteten Arbeit demonstriert die Autorin empirisch, dass Geschlechterordnungen immer auch Raumordnungen sind, die sich als Zugang zum Raum und als Positionierung im Raum zeigen. Darüber hinaus legen die Geschlechterordnungen angemessenes Verhalten und das Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit fest.

Yüksel stellt einige zentrale Themen bzw. Aspekte heraus, die das Verhältnis von Geschlecht und Raum theoretisch begründen. Anhand von Interviews mit jungen Frauen aus und in der türkischen Provinz Hatay wird dieses Verhältnis analytisch veranschaulicht. Sie lässt die jungen Frauen selbst zu Wort kommen und kann dadurch aufzeigen, wie sich historischer und aktueller politischer Diskurs zu Geschlechterordnungen und Praktiken verhält. In der gewählten Provinz Hatay wird das Spannungsverhältnis zwischen städtischer, an europäischer Moderne ausgerichteter Säkularität und traditionellen (nicht nur religiösen) Konzepten besonders sichtbar. Die jungen Frauen teilen trotz ihrer unterschiedlichen biographischen Hintergründe ein gemeinsames Wissen über vergeschlechtlichte Räume, Zugänge und Regularien.

Raum und Praxis als sozialwissenschaftliche Kategorien der Mobilität

Im ersten Kapitel werden die theoretischen Grundlagen des Buches abgesteckt und die Ausgangsposition skizziert, in der impliziert ist, dass sich Geschlechterordnung als Geschlechterdifferenzierung und räumlich vollzieht. Die Autorin möchte mit ihrem Buch einen Beitrag leisten, „der die normierende, vergeschlechtlichende und regulierende Wirkung des Räumlichen verdeutlicht“ (S. 10). Dafür soll diskutiert werden, „wie geschlechtsbezogene Praktiken räumlich normiert und reguliert werden, aber auch eigensinnige Praktiken der Akteur/innen sind“. Außerdem wird gefragt, „wodurch soziale Praktiken zur Erzeugung bestimmter Raum(an)ordnungen und -konstruktionen beitragen“ (S. 15).

Raum ist eine sozialwissenschaftliche Kategorie, die, so die Autorin, noch nicht gänzlich in Bezug auf ihre Wirkmächtigkeit erforscht ist, und das, obwohl eine Betrachtung des Raums als soziales Phänomen zur Analyse sozialer Strukturen und Prozesse beitragen könnte (vgl. S. 16). Gerade ein politikwissenschaftlicher Blick scheint hier vielversprechend zu sein, wenn Globalisierung und Mobilisierung in den Blick genommen wird. Nach kurzen Ausführungen zum Raum und dem Verweis auf den Spatial Turn (vgl. Löw 2012) und die damit verbundene Annahme einer Relationalität des Raums werden dessen Verbindungen zur Praxis herausgearbeitet. Praxis als „Kritik am klassischen Handlungsbegriff“ (S. 17) bezieht sich auf ein vorgegebenes Wissen. Dabei ist der Zusammenhang von Raum, Praxis, Diskursen und Struktur erkenntnistheoretisch diskutabel und verworren und kann auch in dieser Arbeit nicht gänzlich gelöst werden, es bleibt aber nachvollziehbar, dass Praktiken einen wesentlichen Einfluss auf die Entstehung und Verfestigung von Räumen haben. Mithilfe von Villa (2013, S. 61) macht die Autorin deutlich, dass Praxis nicht einfach eine Verkörperung von kulturellen Diskursen ist, sondern dass Praxis und Diskurse auch eigensinnig und veränderbar – zumindest widersprüchlich – sein können (vgl. S. 19).

Das ist auch für den Blick auf Gender als Raumpraxis relevant, denn raumkonstituierende Alltagspraxen sind geschlechtsspezifisch. Außerdem ist Geschlecht ein soziales Distinktionsmerkmal und verweist auf machtvolle Verhältnisse und Positionierungen. Hier ist auch die Verbindung zum Konzept des Raums zu sehen, denn „ein zentrales Element räumlicher Machtausübung sind Zugangsregulierungen. Diese umfassen Ein- bzw. Ausschlussdimensionen in und aus bestimmten Räumen“ (S. 22). Zentral sind dabei öffentliche und private Sphären, die auf vergeschlechtlicht zugeordnete Räume verweisen. Gerade der Ausschluss von Frauen aus der Öffentlichkeit ist ein „grundlegendes Merkmal historischer Geschlechterordnungen“ (S. 25). Über diesen Aspekt werden politikwissenschaftliche und sozialwissenschaftliche Perspektiven miteinander verbunden und unter dem Thema sozialer und räumlicher Mobilität verhandelt. Raum-Gender Ordnungen sind soziologisch interessant, so die Autorin, weil sie Auswirkungen auf die soziale Mobilität haben, indem sie auf Zugangs- und Bewegungsmöglichkeiten verweisen. Denn räumliche Mobilität ist immer Begrenzungen und Barrieren unterworfen (vgl. S. 31).

In der Grundannahme ihrer Arbeit greift die Autorin diese Überlegungen auf und geht davon aus, dass heteronormative Geschlechterkonzepte und (lokale) Vorstellungen von Weiblichkeit/en und Männlichkeit/en vor dem Hintergrund einer historisch entstandenen und gesellschaftlich verfestigten Geschlechterordnung in repetitiven und performativen Akten täglich hergestellt werden.

Im zweiten, ebenfalls kompakten Kapitel beschreibt Yüksel ihren methodischen Zugang. Mithilfe von qualitativen Interviews und Feldbeobachtungen will sie ihrem Forschungsinteresse folgend den Raum-Gender-Ordnungen nachgehen. Methodologisch verortet sich die Autorin kultursoziologisch und in einer praxeologischen Forschungstradition und skizziert ihr Analyseinteresse in den Praktiken, Handlungen, Narrativen und Wissensbeständen der Akteur*innen. Dabei wählt sie eine an die Grounded Theory angelehnte Analyse ihrer 26 Interviews. Hier wäre spannend zu erfahren, wie sich aus einer Sicht der Grounded Theory Methodology Praxis zu Handlungen und – von der Autorin erwähnten – Handlungsmustern in konjunktiven Erfahrungsräumen verhält. Hier bleibt die Autorin vage und diskutiert zwei auf den ersten Blick nicht vereinbare Methodologien (Grounded Theory und Praxeologie) eher parallel denn gemeinsam. Dadurch schöpft sie die Möglichkeiten für ihre späteren Theoretisierungen nicht gänzlich aus.

Weiblichkeit als politische Ordnungskategorie

In den darauffolgenden Kapiteln 3 und 4 gibt die Autorin Einblicke in historische und aktuelle politische Ordnungen in der Türkei. Dabei wird der Blick vor allem auf die Geschlechterordnung und die Konzepte von Öffentlichkeit und Privatheit gelegt. Die Geschichte der Türkei und dabei insbesondere die Republikgründung und die Entwicklungen danach zeigen eindrücklich, wie sich politische Entwicklungen auf Gebote von sichtbarer Geschlechtlichkeit auswirken und wie – auf struktureller Ebene – Ordnungen und Normen sich in Gebiete weitab von urbanen (und teilweise europäisch ausgerichteten) Räumen verbreiten oder ungültig bleiben. Gerade am Körper der Frau werden Modernisierungspolitiken ausgemacht, die sich in der Positionierung und dem Erscheinungsbild von Weiblichkeit offenbaren (Verschleierung vs. Nichtbedeckung des Körpers). Die Modernisierungsbestrebungen des Kemalismus führen, so die Autorin, zunehmend zu einer Benachteiligung verschleierter Frauen, da sie aus den öffentlichen Sphären ausgeschlossen wurden.

In aktuelleren Debatten in der Türkei zeige sich beim Blick auf die Teilhabe von Frauen an der Öffentlichkeit, dass gerade in ländlichen Räumen Politik in der männlichen Öffentlichkeit vollzogen wird. Yüksel argumentiert, dass Gleichberechtigung als Norm nicht flächendeckend implementiert wurde. Darüber hinaus demonstriert sie am Körper der Frau die Geschlechterpolitiken, die im Diskurs um die Moderne sichtbar werden, indem sie die „Frau als Verkörperung des Nationalstaats“ (S. 54) skizziert. In diesem Abschnitt wird vor allem über die Sichtbarkeit der Frau in der Öffentlichkeit und die Sichtbarkeit des Kopftuchs und der Verschleierung in Bezug auf die kemalistischen Entwicklungen in der Türkei diskutiert.

Besonders spannend ist die Beziehung von Weiblichkeit zum Konzept der „Ehre“ oder hier des namus. Die Autorin beschreibt, dass Ehre ein zentrales Konzept für Geschlecht ist. Mit Verweis auf Glick et al. (2015) macht sie deutlich, dass zugeschriebene Ehre auf die Reputation einer gesamten Bezugsgruppe verweist. Namus reguliert das zweigeschlechtliche Verhältnis vor allem räumlich. Das Spannende aus einer raum- und praxissoziologischen Sicht ist, dass namus praktische Regeln für die Akteur*innen bedeutet, diese aber nicht unbedingt ein Äquivalent der Internalisierung dieses Konzepts darstellen. Das gesamte Konzept der Ehre wird, so Yüksel, über Weiblichkeit verhandelt. Für Frauen bedeutet es die Verortung in die Sphäre des Privaten, der Sicherheit, und ist gleichzeitig verbunden mit dem Narrativ der sexuell unberührten Frau, für Männer hingegen wird namus über die Ehre der ihm anvertrauten Frau definiert. Der weibliche Körper wird über Kontrolle, Regulierung, Vulnerabilität und Abweichung definiert. Die Autorin schließt das Kapitel mit dem Hinweis, dass ungleiche Geschlechterverhältnisse nicht nur innerhalb bestimmter Räume auftreten, sondern dass sie sich als bestimmte Raum(an)ordnungen manifestieren (vgl. S. 80).

Praktiktische und räumliche Regularien für Weiblichkeit

Daran anschließend skizziert die Autorin in Kapitel 5 Gender, Differenz und räumliche Ordnung in Hatay und beschreibt damit gleichzeitig auf einer ersten Ergebnisebene die Verknüpfung von Raum und Geschlecht. Die Gegend wird von der Autorin mit Bezug auf ihre Interviewpartner*innen als sehr heterogen in Bezug auf die Alltäglichkeit interkultureller und interreligiöser Beziehungen beschrieben, was sie an unterschiedlichen Bedeutungen des Kopftuchtragens deutlich macht. Genderungleichheiten werden dabei kulturalisierend begründet. Darüber hinaus schließen die Ausführungen hier an vorherige an, wenn die Weiblichkeit in die private Sphäre verortet wird, wodurch das Heim sowohl zur privaten als auch gleichzeitig zur weiblichen Sphäre werde. Die Interviewten berichten von verschiedenen Ordnungen in der gesamten Provinz. Sie wissen, wie diese Ordnungen funktionieren, und können sich dementsprechend verhalten. Sie kennen die verschiedenen Regularien, die an ihre Weiblichkeit gebunden sind.

Das sechste Kapitel ist stärker subjektbezogen und beschreibt die Ergebnisse der Studie nun auf der Ebene der Praktiken, von denen die Interviewpartner*innen berichten. Die Autorin möchte mit dieser Perspektive herausarbeiten, welche Verschränkungen zwischen Geschlechternormen und räumlichen Ordnungen für die jungen Frauen existieren. In diesem Abschnitt werden die Interviewausschnitte der Frauen ins Zentrum gesetzt, und es wird deutlich, wie das Konzept des namus in der Praxis relevant wird. Dass die jungen Frauen die Konzepte des „über jemanden wird geredet“ und des „man muss vorsichtig sein“ verbinden, macht eindrücklich deutlich, wie Raum und Praxis zusammenhängen. Die Frauen bewegen sich in einer Raumordnung, die zwischen den Polen Kontrolle und Fürsorge aufgespannt ist.

Daran anschließend weitet Yüksel den Blick auf Veränderungen und Irritationen der bestehenden Raum-Gender-Ordnungen und skizziert am Thema Bildung und Zugang zu dieser, wie diese Ordnungen (zumindest leicht) ins Wanken geraten. Sie beschreibt Bildung sogar als räumliche Ermächtigungskategorie und kann mit Blick auf die Praktiken argumentieren, dass diese überhaupt erst Möglichkeiten zur Veränderungen der Ordnung bereithalten. Zugänge zu Bildung etwa irritieren die Raum-Gender-Ordnung zwar, stürzen sie aber nicht. Daran schließt die Autorin auch in ihrem Fazit an, wenn sie sagt, dass die Gender-Raum-Ordnung regulierend für die Praxis ist. Beispielshaft skizziert sie, dass in Teegärten nur Männer beieinander sitzen, Frauen aber eigentlich formell nicht ausgeschlossen seien (vgl. S. 149). Die jungen Frauen hinterfragen zwar teilweise die Einschränkung der Mobilitätspraxis, allerdings stellen sie die paternalistischen Motive dahinter nicht in Frage.

Fazit

Hervorzuheben ist die Nähe der Autorin zu den Interviewpartner*innen. Gerade wenn sie die jungen Frauen selbst zu Wort kommen lässt, wird deutlich, welche Wirkmächtigkeit verschiedene Wissensbestände zu Raum und Geschlecht für die Frauen haben. Sie müssen sich zu Regeln und Normen verhalten und zeigen dabei eindrücklich, wie sie dies schaffen und dadurch selbst vergeschlechtlichte Räume herstellen.

Einzig die Kürze der Publikation und die dadurch manchmal lose wirkenden theoretischen sowie methodologischen Fäden sind ein Manko dieses Buchs: Warum beispielsweise Praktiken vom Konzept des Raums ausgehend gedacht werden und nicht Raum von Praxis ausgehend, bleibt unklar und könnte m. E. noch weiter ausgeführt werden, zumal dies auch methodologisch und methodisch relevant wäre, weil es Konsequenzen für den Beobachtungsfokus hat. Auch werden die vielen verschiedenen sehr voraussetzungsvollen theoretischen Figuren wie Normen, Strukturen, performative Akte und Narrative nicht in Bezug zu den raumsoziologischen und praxeologischen Theoriesträngen gesetzt, dabei läge genau hier großes, auch erkenntnistheoretisches Potential nicht nur für die Geschlechterforschung. Das spannende Interviewmaterial verweist auf viele weitere Theoretisierungen, die auch aufgrund des verkürzten Umfangs nicht weiter ausgeführt werden konnten. Dennoch sind die vorgenommenen Kategorisierungen höchst anregend. So lässt sich diese Arbeit durchaus interdisziplinär verorten. Ist der Ausgangspunkt der Forschung ein politikwissenschaftlicher, werden doch zunehmend durch die Wahl der Theorie und Methoden soziologische Zusammenhänge bedeutsam. Dadurch kann die Arbeit an wissenssoziologische, raumsoziologische und praxeologische Diskurse anschließen. Das ist eine Stärke dieser Arbeit, da man beim Lesen Lust bekommt, mehr von diesen Disziplinen und ihrem Mehrwert für die Geschlechterforschung zu erfahren. Allerdings bleibt die Arbeit eben manchmal bei Andeutungen stehen und schöpft nicht das ganze Potential dieser verschiedenen Stränge aus.

Das Buch ist sprachlich anspruchsvoll, bleibt aber durch die vielen Einblicke in das Datenmaterial sehr zugänglich. Dabei richtet es sich an Dozierende und forschende Sozialwissenschaftler*innen und soziologisch interessierte Leser*innen. Es zeigt eindrücklich den spannungsvollen Diskurs der Geschlechterstudien um die Problematik der Verortung von Geschlecht auf struktureller oder subjektiver Ebene. Dafür bietet die Autorin keine Lösung an, jedoch aber einen Vorschlag der Herangehensweise und fügt damit dieser Debatte einen spannenden Beitrag hinzu.

Literatur

Glick, Peter/Sakallı-Uǧurlu, Nuray/Akbaş, Gülçin/Orta, İrem Metin/Ceylan, Suzan. (2015). Why Do Women Endorse Honor Beliefs? Ambivalent Sexism and Religiosity as Predictors. (pp. 543–554). Sex Roles 11/12 (75).

Löw, Martina. (2012). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Villa, Paula-Irene. (2013). Subjekte und ihre Körper. Kultursoziologische Überlegungen. In Julia Graf/Kristin Ideler/Sabine Klinger (Hg.). Geschlecht zwischen Struktur und Subjekt. Theorie, Praxis, Perspektiven. (S. 59–78). Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich.

Dr. Judith von der Heyde

Universität Osnabrück

Post Doc am Institut für Erziehungswissenschaften, Abteilung Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft

E-Mail: judithvdheyde@gmail.com

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