Die Bedeutung von race und sex für die Geschichte der Neuzeit: Eine Re-Lektüre von neuzeitlichen Quellen

Rezension von Martin Spetsmann-Kunkel

Jürgen Martschukat, Olaf Stieglitz (Hg.):

race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit.

49 Schlüsseltexte aus vier Jahrhunderten neu gelesen.

Berlin: Neofelis Verlag 2016.

422 Seiten, ISBN 978-3-95808-034-8, € 28,00

Abstract: Anhand der Vorstellung und Analyse von 49 bedeutenden Dokumenten aus vier Jahrhunderten wird die Geschichte der Neuzeit erzählt. Die gewählten Quellen fokussieren dabei auf unterschiedlichste Weise das Verhältnis von Rassismus einerseits und Sexualität und Geschlechtlichkeit andererseits.

DOI: https://doi.org/10.14766/1229

Die Rassismusforschung betont bereits seit langem, dass die Geschichte der Neuzeit unmittelbar verbunden ist mit der Geschichte des Rassismus. Ein Blick auf die Geschichte der Sklaverei, des Kolonialismus oder der Apartheidsysteme veranschaulicht dies beispielhaft. Dabei entfalten Rassismen und die mit ihnen verbundenen Rassenkonzepte ihre Wirkungsmacht insbesondere durch die Verbindung mit Themen des Sexuellen und Geschlechtlichen. Erinnert sei hier nur an Vorstellungen spezifischer sexueller Wesenhaftigkeiten bestimmter Menschengruppen oder das normierende Sprechen über den Sex in der Moderne. ‚Rasse‘ und Sex konnten in der Geschichte der Neuzeit erst durch diese Verbindung ihre Wirkmacht entfalten.

Perspektive und Thema

‚Rasse‘ und Sexualität sind, wie Nation, Kultur, Klasse und Geschlecht, soziale Konstruktionen, um Differenz zu definieren und damit Macht herzustellen und zu legitimieren. Die feministischen, postkolonialen und rassismuskritischen Debatten der letzten Jahrzehnte zeigen, dass diese Kategorien intersektional miteinander verknüpft sind und spezifische Machtverhältnisse hervorbringen. In dem von Olaf Stieglitz und Jürgen Martschukat herausgegebenen Band race & sex: Eine Geschichte der Neuzeit wird anhand der Analyse von 49 Schlüsselquellen aus vier Jahrhunderten thematisiert, wie „Grenzen und Ordnungen [...] territorialer, politischer, wissenschaftlicher, sozialer, körperlicher oder identitärer Art“ (S. 13) in neuzeitlichen, ‚westlichen‘ Gesellschaften geschaffen und verteidigt, aber auch in Frage gestellt und verändert wurden. Die Geschichte der Neuzeit wird dabei verstanden als eine Geschichte ‚rassischer‘, ethnischer Grenzziehungen (und -überschreitungen), welche zugleich verbunden ist mit der normierenden und normalisierenden Aushandlung legitimer und illegitimer Geschlechtlichkeit und Sexualität. Diese Historizität von Dominanz- und Herrschaftsverhältnissen in Bezug auf race, Geschlecht, Sexualität und Körperlichkeit ist der Gegenstand der 49 Texte.

Das Spektrum der gewählten Schlüsseltexte ist dabei äußerst vielfältig. So finden sich in dem Sammelband sowohl zentrale Schriften von Michel Foucault, Judith Butler oder Stuart Hall und mediale Berichterstattungen oder Filme wie John Fords The Searchers, die einer Analyse unterzogen wurden, als auch die Betrachtung von Alltagsartefakten wie der Werbung für den Sarotti-M*** oder die Geschichte des Ehepaares Mildred und Richard Loving, die auch das Cover des Buches zieren. Anhand dieser bunten Auswahl versuchen die Autor*innen herauszuarbeiten, wie über race und sex und deren vielfältige Facetten und Wirkungen im Laufe der Jahrhunderte gedacht und geschrieben worden ist.

Das Buch – Form und Inhalt

Die Historiker und Herausgeber Stieglitz und Martschukat, bekannt durch gemeinsame Publikationen zur Männlichkeitsforschung, haben 50 Historiker*innen, Kultur- und Literaturwissenschaftler*innen eingeladen, eine kritische und die jeweilige Bedeutung würdigende Re-Lektüre von Texten unterschiedlichster Art aus 400 Jahren, vom frühen 17. Jahrhundert bis heute, zu betreiben. „Das Spektrum der betrachteten Texte ist entsprechend breit. Es reicht von Kolonialberichten des frühen 17. Jahrhunderts über Gesetzestexte bis hin zu Werbeikonen und Spielfilmen des 20. Jahrhunderts, von politischen Pamphleten über Zeitschriftenartikel und Fotografien bis hin zu Gründungstexten der Queer und Postcolonial Studies“ (S. 18).

Publikationen, in denen einzelne Quellen in mehreren Artikeln hinsichtlich ihrer Relevanz für die Entwicklung einer Disziplin oder einer Theorieströmung betrachtet werden, sind in der wissenschaftlichen Literaturlandschaft nichts Ungewöhnliches. Hierbei sei nur an ältere Publikationen erinnert, die Schlüsseltexte der Kritischen Theorie (Honneth 2006) oder zentrale Titel der Postcolonial Studies (Reuter/Karentzos 2012) vorstellen. Neu an dem Buch von Stieglitz und Martschukat ist demgegenüber zum einen die Auswahl der Quellen, die wie gesagt nicht nur rein textueller Natur sind, und zum anderen inhaltlich der Versuch, den rassistischen Diskurs der Neuzeit in seiner Verstrickung mit Fragen von Sex und Geschlechtlichkeit anhand unterschiedlichster Artefakte zu beleuchten. Ein derartiges Publikationsvorhaben hat es in den vergangenen Jahren meines Wissens im deutschsprachigen Raum innerhalb der Rassismusforschung nicht gegeben.

Die Artikel – in der Regel 5 bis 10 Seiten lang – sind begründet geordnet nach der Entstehungszeit der Schlüsseltexte, beginnend mit dem jüngsten. Auffällig ist die Formatierung des Buches im Querformat mit einer Höhe von 13,5 cm und einer Breite von 21 cm. Es hat den Charakter eines Lesebuches, welches nicht zwingend von vorne nach hinten gelesen werden muss. Hilfreich für die Lektüre sind die Querverweise zu anderen Texten des Buches am Ende eines Artikels. race & sex hat aber nur einen begrenzten Einführungscharakter, da es eigentlich den Idealfall der Kenntnis der Schlüsseltexte voraussetzen würde. Einige Texte gehen über die reine Re-Lektüre einzelner Quellen hinaus. Der Beitrag Lois E. Hortons zur Geschichte der ‚Sklavenbefreiung‘ beispielsweise gibt einen guten Überblick über die Geschichte der Beziehung zwischen Schwarzen und Weißen in den USA bis heute (S. 294−303).

Thematisch beinhalten die Texte im Wesentlichen zweierlei: zum einen die Auseinandersetzungen um Sexualität und heteronormative Geschlechterverhältnisse – in überwiegend deutschsprachigen Ländern – sowie ihre stabilisierende Funktion für die gesellschaftliche Ordnung und zum anderen die rassistisch-koloniale Unterdrückung und der postkoloniale Widerstand. Die betrachteten Gruppen sind dabei vielfältig: indigene Bevölkerungen, Black Americans, Asian Americans, Mexikanerinnen und Mexikaner sowie Jüdinnen und Juden. Alleine die Sinti und Roma fehlen gänzlich! Es werden in keinem der Artikel die historisch äußerst relevanten Themen der Zigeunerstereoypisierung und des Antiziganismus aufgegriffen, was durchaus beispielsweise anhand einer Analyse der literarischen Carmen-Figur möglich gewesen wäre.

Soul on Ice

Exemplarisch sei hier die sehr lesenswerte Re-Lektüre von Eldridge Cleavers Textsammlung Soul on Ice von 1967 durch Simon Wendt (S. 158−165) näher betrachtet. Seine Essays und Briefe – im deutschsprachigen Raum vereint unter dem Titel Seele auf Eis (erstmalig im Deutschen 1969) – veranschaulichen die intersektionale Verschränkung von Rassismuserfahrungen, Sexualität und geschlechtlicher Identität.

Cleaver (1935–1998), Schriftsteller und Mitbegründer der Black Panther Party, führte nach eigenem Bekunden einen Kampf gegen Rassismus mit dem Mittel der Sexualität. Seine Vergewaltigung einer weißen Frau rechtfertigte er als Reaktion auf die rassistischen Anfeindungen und Unterdrückung schwarzer Männlichkeit. Seine gewalttätige Haltung gegenüber weißen Männern und seine feindselige Ablehnung weißer wie schwarzer Weiblichkeit aufgrund ihrer Kollaboration mit weißen Männern ist Ausdruck eines beiderseitigen sexuell aufgeladenen Rassismus und einer rassistisch definierten Sexualität. In Cleavers autobiographisch gefärbter Analyse rassistischer Unterdrückung in den USA zeigt sich – so Wendt – die Wirkung auf seine marginalisierte Männlichkeit. Wendt analysiert sein Werk mit den theoretischen Begrifflichkeiten von Raewyn Connells Konzept hegemonialer Männlichkeit. Connell hat in ihrer Ethnographie von Männlichkeiten herausgearbeitet, dass es multiple Maskulinitäten und historisch bestimmte Männlichkeiten, also nicht die eine Männlichkeit gibt. Ihre Kategorie der „hegemonialen Männlichkeit“ bezieht sich auf Differenzierungen und Konkurrenz unter Männern und meint das vorherrschende Männlichkeitsmodell einer Gesellschaft. Hegemoniale Männlichkeit definiert sich in diesem Sinne immer in Relation zu nichthegemonialen Männlichkeiten, die Connell nochmals unterteilt in marginalisierte, unterdrückte und komplizenhafte Männlichkeiten. „In der Regel reflektiert dieses dominante Männlichkeitsbild Vorstellungen der weißen heterosexuellen Mittelschicht. Die Folge hegemonialer Männlichkeit ist die Unterdrückung von Frauen und solcher Männer, die sich dem dominanten Männlichkeitsmodell entweder nicht unterwerfen können oder wollen. Diese marginalisierten Männlichkeiten schließen homosexuelle Männer und Mitglieder von ethnischen Minderheiten ein“ (S. 162). Für Wendt ist Cleavers Vita und Denken ein Versuch, aus der marginalisierten Position eine Form von „protest masculinity“ (S. 163) abzuleiten, die sich unter anderem in seiner gezielt gegen Frauen gerichteten sexuellen Gewalt wiederspiegele, die er nur als ein Instrument in seinem Kampf gegen die Unterdrückung schwarzer Männer ansah.

Dem Autor ist zuzustimmen, wenn er annimmt, dass die Auswirkungen der von Cleaver beschriebenen ‚Entmannung‘ afroamerikanischer Männer auch in jüngerer Zeit noch in den schwarzen Ghettos der USA zu beobachten sind. „So haben amerikanische Soziologen in den 1990er Jahren eine durch Gewaltrituale begleitete compulsive masculinity in diesen unter Armut leidenden Gemeinden beschrieben, die der Tatsache geschuldet sei, dass afroamerikanische Männer ‚traditionellen‘ Konzepten von Maskulinität (etwa der Vorstellung des Mannes als Ernährer und Beschützer der Familie) nicht entsprechen konnten. Sie sähen deshalb in einem übersteigerten Machismo die einzige Möglichkeit, ihr Selbstwertgefühl als Männer zu steigern“ (S. 164). Soul on Ice ist damit eines der Schlüsselwerke von race und sex im 20. Jahrhundert, weil es die Auswirkungen von Rassismus auf schwarze Männlichkeit und die konflikthaften (Geschlechter-)Beziehungen innerhalb der USA aus nicht-wissenschaftlicher Perspektive anschaulich illustriert.

Kritik

Das Vorhaben von Stieglitz und Martschukat, über die kritische Lektüre und Analyse einiger zentraler Quellen der letzten Jahrhunderte die Geschichte der Neuzeit zu erzählen, ist gleichermaßen innovativ wie spannend. Die Texte sind überwiegend verständlich geschrieben und geben einen sehr guten Einblick in die Inhalte und den historischen Kontext der gewählten Quellen. Die Lektüre des Bandes animiert dazu, die Schlüsseltexte (wieder) zur Hand zu nehmen oder die besprochenen Filme (erneut) zu sehen. Jeder Text für sich genommen veranschaulicht das Verhältnis von Rassismus und Sexualität in seiner jeweiligen Zeit und kann darüber hinaus aber auch Anregungen für das Verständnis der Gegenwart geben. Alleine die bereits erwähnte Leerstelle – die Vernachlässigung rassistischer Erzählungen über die ‚Zigeuner‘ – ist bedauerlich und bei einer Neu-Auflage zu überdenken.

Eine abschließende Beurteilung des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns des gesamten Buches ist hingegen nur schwer möglich, da jeder Text für sich genommen hinsichtlich seines Zugewinns zur wissenschaftlichen Diskussion betrachtet werden müsste.

Literatur

Honneth, Axel/Institut für Sozialforschung (Hg.). (2006). Schlüsseltexte der Kritischen Theorie. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Reuter, Julia/Karentzos, Alexandra (Hg.). (2012). Schlüsselwerke der Postcolonial Studies. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Prof. Dr. Martin Spetsmann-Kunkel

Katholische Hochschule Aachen

E-Mail: m.spetsmann-kunkel@katho-nrw.de

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