Gemäßigte ‚Weiblichkeit‘ als erfolgreiche Inszenierung von ‚Natürlichkeit‘?

Rezension von Sandra Folie

Juliane Witzke:

Paratext Literaturkritik Markt.

Inszenierungspraktiken der Gegenwart am Beispiel Judith Hermanns.

Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann 2017.

304 Seiten, ISBN 978-3-8260-5981-0, € 39,80

Abstract: Juliane Witzke untersucht am Beispiel von Judith Hermanns Œuvre (1998–2014) die paratextuellen Inszenierungsstrategien der Gegenwart. Ihre Monographie schließt nicht nur eine Forschungslücke im Hinblick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Autorin, sondern bereichert auch die methodologische Fachdiskussion innerhalb der Literaturwissenschaften; ihr Analyseinstrumentarium ist vielseitig einsetzbar. Eine besondere Stärke der Untersuchung stellt zudem die umfassende Berücksichtigung medialer Veränderungen (z. B. Leser_innen als Kritiker_innen) dar. Die immer wieder angesprochenen Genderaspekte – insbesondere die Interpretation von Hermanns gewandelter Strategie als erfolgreiche Inszenierung von ‚Natürlichkeit‘ – hätten stellenweise einer eingehenderen gendertheoretischen Reflexion bedurft.

DOI: https://doi.org/10.14766/1223

„Früher konnte ich mir manchmal vorstellen, ich sei jemand anders, heute bin ich nur noch ich selbst“ – dieser Satz aus ihrem Roman Aller Liebe Anfang (2014), so Judith Hermann in einem Interview (Beuthien 2015, zit. S. 13), treffe seit der Geburt ihres Sohnes auch auf sie selbst zu. Das Zitat dient Juliane Witzke als Einstieg und nimmt zugleich ihre These vorweg, dass sich Judith Hermanns Inszenierungsstrategien seit ihrem Debüt Sommerhaus, später (1998) verändert haben. Auf etwa 300 Seiten wird dieser Wandel in der Selbstdarstellung und Positionierung auf dem Literaturmarkt anhand von Paratexten, die Hermanns vier zwischen 1998 und 2014 erschienene Werke begleiten bzw. ergänzen, belegt.

Berücksichtigung medialer Veränderungen

Die titelgebende Begriffstrias Paratext Literaturkritik Markt steckt den theoretischen Rahmen der Untersuchung ab und verweist zugleich auf eine ihrer Stärken: Witzke pflegt einen sehr sorgfältigen Umgang mit Begrifflichkeiten und Konzepten, scheut aber gleichwohl nicht vor deren Aktualisierung zurück.

Im einleitenden Teil der sehr klassisch aufgebauten Dissertation wird dargelegt, dass es Gérard Genettes Paratextkonzept, das zwischen Peritexten (schriftliche Zeugnisse im direkten Umfeld des Textes) und Epitexten (Elemente, die außerhalb eines Textes auftreten) unterscheidet, in zweierlei Hinsicht zu adaptieren gilt: Zum einen wird der ursprünglich sehr weit gefasste Epitext-Begriff auf „eine äußere, schriftlich fixierte Komponente“ (S. 17) (Selbstäußerungen und Interviews, Literaturkritiken) begrenzt, zum anderen der infolge medialer Veränderungen nicht mehr zeitgemäße buchbezogene Fokus um Bild- und Tondokumente (Fotografien, Buch- und Filmtrailer, Autor_innen- und Verlagswebseiten) erweitert (vgl. S. 17 f.). Auch die professionelle Literaturkritik wird um eine neue Form, bei der Leser_innen Bücher im Internet bewerten, ergänzt. Zusätzlich zu den Rezensionen in zehn Zeitungen (ZEIT, FAZ, SZ, FR, NZZ, taz, Der Tagesspiegel, Die Welt) und Zeitschriften (STERN und SPIEGEL) werden die insgesamt 211 Kund_innenrezensionen zu Hermanns Büchern beim Versandhändler Amazon.de miteinbezogen.

Handelt es sich bei den ersten zwei titelgebenden Begriffen – Paratext und Literaturkritik – noch um Adaptionen, so ersetzt Markt den nach wie vor gebräuchlichen Begriff des Literaturbetriebs gänzlich. Witzke bevorzugt den Terminus „Literaturmarktplatz“ (S. 29) ob seiner assoziativen Bildlichkeit, die weniger an geordnete ökonomische Bahnen als an lebendige Interaktionen mit all ihren Zufälligkeiten und Konkurrenzkämpfen erinnert.

Peritexte als Spiegel zunehmenden Prestiges

Witzke stellt zunächst die Peritexte – Zueignungen, Motti, Danksagungen, Titel, Buchformate und Reihen, Umschlaggestaltungen und Typografie – der vier zwischen 1998 und 2014 erschienenen Bücher Judith Hermanns einander gegenüber, um Veränderungen aufzeigen zu können. Das Analysekorpus wurde um insgesamt 100 Bücher erweitert, die sich aus den Shortlisten des Deutschen Buchpreises und aus den nominierten Neuerscheinungen der Kategorie Belletristik des Preises der Leipziger Buchmesse der Jahre 2005 bis 2013 zusammensetzen. Das birgt den Vorteil, die peritextuelle Untersuchung der Bücher Hermanns in einen größeren Zusammenhang einbetten und Aussagen über den aktuellen Stellenwert und die Funktion einzelner peritextueller Elemente treffen zu können (vgl. S. 31 f.).

Zwischen dem Korpus der Gegenwartsliteratur und Judith Hermanns Werken bestehen große Überschneidungen, wobei der Bereich der Peritexte insgesamt wenige Überraschungen bietet: Zueignungen, Motti und Danksagungen werden in etwa gleich oft verwendet wie nicht, Kurztitel sind beliebter als Langtitel, Hardcover prestigeträchtiger als Broschüren im Taschenbuchformat usw. Ein hervorhebenswertes und in seiner quantitativen Dimension einigermaßen ernüchterndes Ergebnis ist, dass im gesamten Korpus, das heißt in den 45 von 100 Büchern, die ein Motto enthalten, insgesamt nur drei auf Autorinnen – Friedericke Mayröcker, Emily Dickinson und Iris Murdoch – verweisen (vgl. S. 42 f.). Diesem Usus folgen sowohl Judith Hermann, Tom Waits und The Beach Boys zitierend (vgl. S. 45), als auch Juliane Witzke, die ein Zitat von Thomas Glavinic als Motto anführt (S. 7).

Hermanns Publikationen betreffend konnte festgestellt werden, dass Alice (2009), ihr drittes Buch, auf mehreren peritextuellen Ebenen einen Wendepunkt markiert: Beispielsweise begann Hermann, durch den Verzicht auf Zueignung und Danksagung, ihre Privatsphäre stärker zu schützen; und die Typografie – der Autorinnenname stellte nun das wichtigste Element auf dem Cover dar – ist der deutlichste Marker dafür, dass Hermanns Prestige auf dem Höhepunkt angelangt war (vgl. S. 78). Im Hinblick auf die Umschlaggestaltung vollzog sich mit dem vierten Buch, Aller Liebe Anfang (2014), nochmals ein Wandel: Die bisher dominanten, auf Nachdenklichkeit und Melancholie verweisenden Blautöne wichen einem hoffnungsvolleren Grünton, eine Veränderung, die mit einem Gattungswechsel – von der Erzählung zum Roman – einherging (vgl. S. 82 f.).

Die Analyse der Autorinnenporträts auf den Buchumschlägen – die in Kapitel vier zusammen mit weiteren Bild- und Tondokumenten untersucht werden – ergab ebenfalls das Bild eines Wandels, da zunehmend eine Strategie der Inszenierung von ‚Authentizität‘ und ‚Natürlichkeit‘ verfolgt wurde. Blickt den Leser_innen auf Renate von Mangoldts Porträt der Autorin in Sommerhaus, später (1998) noch ein „fernes exotisches Wesen“ (S. 222) entgegen, so treffen sie auf dem Buchumschlag von Aller Liebe Anfang (2014) auf eine „bescheidene, freundliche Frau von Nebenan“ (ebd.). Stellt sich die Frage nach der Korrelation, die aufgrund der Loslösung der Fotografien Hermanns von den anderen Paratexten etwas zu kurz kommt: Erlaubt nun das zunehmende Prestige Judith Hermanns mehr ‚Natürlichkeit‘ in der Inszenierung oder handelt es sich dabei um einen generellen Inszenierungstrend von Gegenwartsautor_innen?

Sowohl dem zweiten („Peritextuelle Praktiken“) als auch dem vierten Kapitel („Bild- und Tondokumente“), das sowohl Peri- (die Autorinnenporträts) als auch Epitexte (Webseiten, Buch- und Filmtrailer) umfasst, fehlt ein Zwischenfazit, in dem die wichtigsten Ergebnisse bzw. Tendenzen noch einmal zusammengefasst werden. Es ist im Übrigen auch sehr schade, dass gerade bei diesen zwei abbildungsreichen Kapiteln nicht auf eine druckfähige Qualität der Cover und Autorinnenporträts geachtet wurde: unscharfe, teils gestauchte, gedehnte und verzerrte Bilder sind die Folge.

Epitexte zwischen Text- und Autor_innenreferenz

Das Debüt Judith Hermanns, Sommerhaus, später (1998), wurde von der professionellen Literaturkritik einstimmig gelobt. Im Fokus standen die Themenschwerpunkte „neue Generation“, „Metropole Berlin“, „Sprache“ und „melancholische Stimmung“ (S. 124). Zeitschriften wie SPIEGEL und STERN betonten im Gegensatz zu den Zeitungen stärker die außerliterarischen Aspekte. Diese Tendenz, dass die Textreferenz hinter dem Aussehen und der Persönlichkeit, der „Aura“ (S. 137), der Autorin zurücktritt, nimmt mit dem zweiten Buch Hermanns, Nichts als Gespenster (2003), noch zu. Witzke hebt in diesem Kontext „die Schwierigkeit der Darstellung von Hermanns Weiblichkeit in Hinsicht auf eine gleichberechtigte Positionierung im gesamtgesellschaftlichen Kontext“ (S. 138) hervor. Judith Hermann erinnert sich in einem SPIEGEL-Interview an ihre bis dato einzige Begegnung mit Marcel Reich-Ranicki: „Er legte seine Hand auf ihren Unterarm und sagte zur Kellnerin: ‚Das Kind nimmt eine heiße Schokolade mit Sahne. [...]‘ Sie hat sie getrunken. Sie trinke sonst nie Schokolade. [...]“ (Voigt 2003, S. 27). Dieser paternalistische Duktus, der sich auch in Hubert Spiegels Neologismen des „Kracht-Kerls“ und des „Hermann-Hühnchens“ (Spiegel 2003, S. 44) – wahrscheinlich angelehnt an die im anglo-amerikanischen Raum sogenannte Chick lit – widerspiegelt, erscheint Witzke zu Recht „sehr fragwürdig für die Darstellung einer Frau im 21. Jahrhundert“ (S. 139). Spätestens hier hätte, selbst wenn die Rezensionen im Korpus nicht explizit darauf eingehen, ein Exkurs über die sexistische Vermarktungsstrategie unter dem Label des ‚literarischen Fräuleinwunders‘ Sinn gemacht − zumal die Kategorie Gender in den Besprechungen von Alice (2009) noch an Bedeutung gewann und inhaltliche und stilistische Besonderheiten ihres Schreibens überlagerte (vgl. S. 169). Erst in der Rezeption von Aller Liebe Anfang (2014) tritt die Textreferenz, vor allem auch der Vergleich mit den vorhergehenden Publikationen, wieder vermehrt in den Mittelpunkt.

Leser_innen, die ihre Meinungsäußerungen auf Amazon.de veröffentlichen, setzen sich üblicherweise in Bezug zur professionellen Literaturkritik; häufig wird deren Hang zur Übertreibung und zum gegenseitigen Abschreiben kritisiert (vgl. S. 186). Es ist jedoch weniger die Abgrenzung von den Profis, welche die Hauptmotivation der Laienkritiker_innen darstellt, als vielmehr eine Art „virtuelle Hilfsbereitschaft“ (S. 183) und die Anhäufung von symbolischem Kapital. Im Vergleich zur professionellen Literaturkritik finden sich auf Amazon.de weniger Aussagen über Judith Hermann selbst. Die subjektive Wirkung ihrer Bücher steht im Fokus (vgl. S. 190). Große Uneinigkeit bestand beispielsweise in Hinblick auf Hermanns Stimme. Die von der Autorin selbst gelesenen Hörbücher, denen die Berufskritiker_innen wohlgesonnen gegenüberstanden, wurden in vielen Kund_innenrezensionen geradezu ‚verrissen‘ (vgl. S. 187 f.). Den Laienkritiker_innen, die schon rein quantitativ nicht mehr zu übersehen sind, ein Unterkapitel zu widmen, erscheint sinnvoll, wenngleich das Feld nur sehr grob abgesteckt wurde. Es stellt sich die Frage, warum gerade die Kund_innenkommentare auf Amazon.de, nicht aber jene auf lovelybooks.de, der größten Social Reading-Plattform im deutschsprachigen Raum, in die Untersuchung miteinbezogen wurden. Gänzlich ausgespart wird außerdem die Problematik von gekauften Amazon.de-Rezensionen. Der verglichen mit dem Rest der Arbeit etwas fragmentarisch anmutende Charakter des Unterkapitels „Der Leser als Kritiker“ mag jedoch der relativen Neuheit des hier betretenen Terrains geschuldet sein.

Fazit

Juliane Witzke konnte bei Judith Hermann eine deutlich gewandelte Autor_innenstrategie nachweisen und die zentrale Forschungsfrage – „Wie ist der Wandel der auktorialen Strategie Hermanns im Detail gestaltet?“ (S. 15) – beantworten. Diesen Wandel bis zum Jahr 2014 als „Mittelmaß“ zwischen den Polen „Zartheit“ und „Robustheit“ zu beschreiben, ist eine Sache. Doch setzt die Schlussfolgerung, dass 2014 „Hermanns Weiblichkeit [...] im Vergleich zu 2009 mehr betont“ werde, „jedoch nicht so stark wie 1998“ (S. 269), Zartheit, Unsicherheit, Mysteriosität (Assoziationen, die von den Paratexten um Sommerhaus, später geweckt wurden) und Weiblichkeit in eins und schreibt damit jahrhundertealte Geschlechterstereotype fort. Diese Fortschreibung ist nicht primär Juliane Witzke anzulasten, sondern den paratextuellen Praktiken, die sie in ihrer Dissertation mit großer Präzision nachzeichnet. Nichtsdestotrotz erscheint es etwas problematisch, dass sie diesen Wandel hin zu einer gemäßigten ‚Weiblichkeit‘ zwischen Zartheit und Robustheit als erfolgreiche Inszenierung von ‚Natürlichkeit‘ präsentiert, ohne weiter über die Konsequenzen dieser in den Paratexten vollzogenen Ineinssetzung zu reflektieren. Bei den immer wieder angesprochenen, aber leider nur selten in Bezug zu generellen Entwicklungen gesetzten Genderaspekten hätte durchaus noch Ausbaupotential bestanden.

Der Fokus der Dissertation, und das gilt es zu betonen, war jedoch ein anderer. Es gelang Juliane Witzke, eine Forschungslücke im Hinblick auf die germanistische Beschäftigung mit Judith Hermann zu schließen und darüber hinaus ein aktualisiertes, vielseitig einsetzbares Analyseinstrumentarium für die Inszenierungspraktiken zeitgenössischer Autor_innen vorzulegen. Die Anschlussfähigkeit ist des Weiteren in Bezug auf die in den Geisteswissenschaften noch viel zu selten berücksichtigten medialen Veränderungen gegeben. Auch wenn, entgegen der vorherrschenden öffentlichen Meinung, gegenwärtig nicht von einem Verfall, sondern vielmehr von einem Aufschwung des Feuilletons auszugehen ist (vgl. S. 96 f.) und sich kein Funktionsverlust der Buchpreise abzeichnet (vgl. Exkurs: Buchpreise, S. 245–262): Neue Formen der Literaturkritik und des Literaturmarketings nehmen mittlerweile eine – schon rein quantitativ betrachtet – wichtige Rolle ein und können von der Forschung künftig nur schwer ignoriert werden.

Literatur

Genette, Gérard. (2001). Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt am Main: Campus.

Hermann, Judith. (2000). Sommerhaus, später (2. Aufl.). Frankfurt am Main: Fischer.

Hermann, Judith. (2003). Nichts als Gespenster. Frankfurt am Main: Fischer.

Hermann, Judith. (2009). Alice. Frankfurt am Main: Fischer.

Hermann, Judith. (2014). Aller Liebe Anfang. Frankfurt am Main: Fischer.

Spiegel, Hubert. (2003, 1. Februar). Ich will mich nehmen, wie ich bin. Schöne Seele im Sinkflug: Judith Hermann legt ihr zweites Buch vor und erweist sich als Geisterjägerin ihrer Generation. (S. 44). Frankfurter Allgemeine Zeitung.

Voigt, Claudia. (2003). Im Schatten des Erfolgs. (S. 27). DER SPIEGEL 5/2003.

Sandra Folie

Universität Wien

DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft

E-Mail: sandra.folie@univie.ac.at

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