Geschlechterräume zwischen Hegemonialisierung und Marginalisierung

Rezension von Katharina Fürholzer

Jenny Bauer:

Geschlechterdiskurse um 1900.

Literarische Identitätsentwürfe im Kontext deutsch-skandinavischer Raumproduktion.

Bielefeld: transcript Verlag 2016.

314 Seiten, ISBN 978-3-8376-3208-8, € 39,99

Abstract: In vier Einzelfallanalysen aus der deutschsprachigen und skandinavischen Moderne verhandelt Jenny Bauer in ihrer literaturwissenschaftlichen Arbeit geschlechtliche Subjektentwürfe zwischen Hegemonie und Marginalisierung. Geleitet wird die Auseinandersetzung mit verschiedenen Konzeptionen von Männlichkeit und Weiblichkeit, von Heterosexualität und Homosexualität durch die übergreifende Frage nach den Interdependenzen zwischen Raum und Geschlecht, denen sich Bauer durch eine methodologische Engführung verschiedener Ansätze aus der Raum- und der Gendertheorie nähert.

DOI: https://doi.org/10.14766/1221

Welche Interdependenzen bestehen zwischen Raum und Geschlecht? Wie verhalten sich literarischer Text und sozialer Raum zueinander? Inwiefern bedingen geschlechtliche Normen und Abweichungen imaginäre und reale Raumkonzeptionen? Welche Möglichkeiten bestehen auf einer Metaebene, Raumtheorie und Gender Studies miteinander zu verbinden, und wie lassen sich entsprechende Verschränkungen für die Textwissenschaften fruchtbar machen? Eine Antwort bietet die aus einem Dissertationsprojekt hervorgegangene Untersuchung Jenny Bauers, in der sich die Literaturwissenschaftlerin diesen Fragen gleichermaßen aus theorie- als auch literaturanalytischer Perspektive widmet.

Theorie ...

Mit der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert geraten Fragen zum Raum, zu seiner Konzeption, seiner Repräsentation, seinen Spielformen und Auswirkungen zunehmend ins literarische Bewusstsein. Ein Jahrhundert später ist die Auseinandersetzung mit der Analysekategorie des Raumes auch aus dem wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr wegzudenken und hat ebenso in die gendertheoretische Forschung Einzug gehalten. Noch ehe die Theoretisierung des Raumes mit der Ausrufung des ‚Spatial Turn‘ ihren offiziellen Stempel erhält, legt der Soziologe und Philosoph Henri Lefebvre 1974 mit La production de l’espace einen „‚Gründungstext‘“ (S. 18) der Raumtheorie vor. Das darin entwickelte Modell verspricht auch Aufschluss über mögliche Wechselwirkungen zwischen Raum und Geschlecht, denn: „Wenn eine Kernaufgabe der Gender Studies darin besteht, ‚die Bedeutung von Räumen für die Subjektkonstitution‘ hervorzuheben, so besteht der Vorzug von Lefebvres Modell darin, die Bedeutung des Subjekts für die Raumkonstitution zu erfassen.“ (S. 60) Wie Bauer hervorhebt, ist Lefebvres Arbeit – und das mit ihr verbundene Potential – einem Fachpublikum inzwischen zwar durchaus vertraut, eine vertiefte Auseinandersetzung insbesondere aus Perspektive der deutschsprachigen Textwissenschaften stand bislang hingegen noch weitgehend aus. Diese Lücke zu schließen ist ein Ziel der Autorin. Entsprechend ist den im Zuge des Werkes unternommenen Romananalysen ein umfangreicher Theorieapparat vorangestellt, über welchen in die Raumkonzeption Lefebvres eingeführt und diese für die spätere Nutzung als textwissenschaftliche Arbeitsfolie aufbereitet wird. Die Inblicknahme Lefebvres erlaubt Bauer einige fruchtbare Verknüpfungen: Zum einen ist das die Verknüpfung von Raum- und Texttheorie; denn indem Lefebvre Raum nicht als rein gedankliches, sondern auch als soziales Konstrukt versteht, lässt sich mit Hilfe seiner Theorie nachvollziehen, in welcher Weise zum einen Raum durch Literatur hervorgebracht wird und zum anderen fiktionale Räume selbst Einfluss auf die soziale Ordnung der erzählten Welt nehmen (S. 19 f.). Darüber hinaus weist, so Bauer, Lefebvres Arbeit Analogien zu gendertheoretischen Denk- und Arbeitsmustern auf; von zentraler Bedeutung ist für die Autorin in diesem Kontext die These, dass „sich eine hegemoniale Geschlechterordnung nicht nur im sozialen Raum ‚abbildet‘, sondern diesen wesentlich mit strukturiert.“ (S. 20)

Im Vergleich zu den raumtheoretischen Ausführungen ist Bauers Auseinandersetzung mit den für ihre Arbeit zentralen Konzepten aus den Gender Studies etwas voraussetzungsreicher, was jedoch durch die deutlich breitere Bekanntheit der entsprechenden Ansätze begründet ist. In der Zusammenführung von Raum- und Gendertheorie bedient sich die Autorin nun eines interessanten Kniffs: Neben Judith Butlers Gedankeninstrumentarium, das Bauer als Ausgangspunkt für die anschließenden Textanalysen nutzt, wendet die Autorin – im Unterschied zu ihrer raumtheoretischen, auf ein singuläres Werk fokussierten Herangehensweise – eine pluralistische, eine „queere“ Leselupe an (S. 46), bei welcher verschiedene, an die jeweilige Fragestellung angepasste Forschungsansätze aus der feministischen Literaturwissenschaft, den Queer Studies bis hin zu den Masculinity Studies auf die untersuchten Romane angelegt werden.

... und Praxis

Die Bedeutung ihres raum- und gendertheoretischen Untersuchungsgegenstands für die literaturwissenschaftliche Praxis wird im Anschluss anhand von insgesamt vier umfangreichen Romananalysen verdeutlicht. Der im Zentrum stehenden Frage nach (geschlechtlichen) Subjektentwürfen um 1900 widmet sich die Autorin dabei aus verschiedenen Krisenorten: der Krise des männlichen Subjekts, untersucht am Beispiel von Thomas Manns Buddenbrooks (1901), der Krise des weiblichen Subjekts am Beispiel von Gabriele Reuters Aus guter Familie (1895), der Krise des homosexuellen männlichen Subjekts am Beispiel von Herman Bangs De uden Fædreland – (1906; deutsch: Die Vaterlandlosen, 1912) und der Krise des homosexuellen weiblichen Subjekts am Beispiel von Toni Schwabes Die Hochzeit der Esther Franzenius (1902). Nicht nur ihrem Theorie-, auch ihrem Quellenkorpus nähert sich die Autorin also mittels einer ‚queeren‘ Lesart. So enthält Bauers Arbeit ein einheitlich austariertes Verhältnis an Autor/-innen, Werken und Figuren, werden doch gleichermaßen männliche als auch weibliche Schriftsteller/-innen berücksichtigt, sowohl kanonisierte als auch marginalisierte Romane in den Blick genommen und bei den auf Textebene verhandelten literarischen Subjektivierungsfragen ebenso Kontexte hegemonialer als auch nicht-hegemonialer Geschlechternormen berücksichtigt.

In welcher Weise Raum und Geschlecht nun konkret korrelieren können, zeigt ein Streifblick über Bauers Annäherung an die Buddenbrooks. Das Augenmerk der Autorin liegt dabei insbesondere auf den Charakteristika heterosexueller Männlichkeit, die als eine „normative[] Folie“ verstanden werden, „vor der die ‚Abweichung‘ formuliert wird“ (S. 99). Wie breit das räumliche Spektrum ist, in welchem im Roman entsprechende hegemoniale Männlichkeit verhandelt wird, vermag exemplarisch der Verweis auf den Raum des Schulhofs zu verdeutlichen, der den Figuren des Romans als ein erster Erprobungsort homosozialer Verbünde dient.

Grenzräume weiblicher Subjektentwürfe entfaltet Reuters lange Zeit in Vergessenheit geratener Roman Aus guter Familie. Als „negative[] Variante des Bildungsromans“ (S. 139) wird hier das Leben einer Frau nachgezeichnet, welche die gesellschaftlichen Geschlechternormen inkorporiert hat und dennoch an ihnen scheitert. Sensibel stellt Bauer die Brisanz einer Gesellschaft heraus, in welcher Lebensraum für Frauen aufs Engste an den Status der Ehe – dem Inbegriff weiblicher Normerfüllung – geknüpft war und dauerhaft alleinstehende Frauen um ihren wortwörtlichen Platz, ihre räumliche Verortung in dieser Gesellschaft zu fürchten hatten. Wer nun weibliche Solidarität erwartet, wird enttäuscht werden. Wie Bauer zeigt, gibt Reuters Roman vielmehr eine ungeahnte Aggressivität weiblichen Sozialverhaltens zu erkennen und ermöglicht durch diese Herausstellung nicht nur männlicher, sondern gerade weiblicher Hegemonie eine „Perspektivverschiebung von Zuschreibungspraktiken von Geschlecht und Gewalt“ (S. 173).

Mit De uden Fædreland –, dem letzten Roman des dänischen Schriftstellers Herman Bang, wendet sich Bauer Subjektentwürfen außerhalb hegemonialer Männlichkeit zu. Die narrative Strategie des Romans interpretiert sie dabei als ‚queeres‘ Verfahren: Indem Bangs Roman „kulturgeschichtlich genuin ‚heterosexuelle‘ Erzählmuster [aufgreift] und im verschiebenden Zitat [umdeutet]“, werde im Roman mit der Vorstellung gebrochen, „dass das Konzept romantischer Liebe heterosexuellen Paaren vorbehalten“ sei (S. 219).

Einen noch stärkeren Normenverstoß stellt in dieser Hinsicht das Erstlingswerk Toni Schwabes dar, thematisiert der bis heute weitgehend unbekannte Roman Die Hochzeit der Esther Franzenius doch nicht etwa ‚nur‘ Homosexualität, sondern spitzt diese Abweichung zu auf das weibliche Begehren nach dem eigenen Geschlecht. Für eine Zeit, zu welcher der Terminus des Lesbischen noch keineswegs etabliert, sondern gerade erst im Entstehen begriffen war, lässt sich Schwabes Roman so lesen als „Suchbewegung einer ‚lesbischen‘ Subjektivität avant la lettre“ (S. 263, Herv. i. O.). Diese Suchbewegung verläuft im Roman ins Leere, fällt ‚lesbische‘ Subjektivität zu dieser Zeit doch nicht nur in sprachliche Vakanz, sondern ist darüber hinaus im damaligen Geschlechterdiskurs schlicht nicht vorgesehen – ‚lesbische‘ Subjektivität ist somit im Grunde ausgeschlossene Subjektivität. Dass Schwabes Werk inzwischen wieder einer allgemeinen Leserschaft zugänglich ist, ist Jenny Bauer zu verdanken, die den vergriffenen Roman 2013 mit einem Nachwort (inklusive der damaligen Romanrezension eines begeisterten Thomas Manns) neu edierte.

Verortungen

In vier profunden Falluntersuchungen rückt Bauers Werk auch die Marginalien kanonisierter Text-, Raum- und Geschlechterkonzeptionen in den Blick. Mit drei von vier der untersuchten Romane liegt der Schwerpunkt der Arbeit auf der deutschsprachigen Moderne und richtet sich dadurch insbesondere an eine germanistische Leserschaft. Im Kontext der skandinavistischen Wissenschaftslandschaft ist das Werk vor allem für die Bang-Forschung von Interesse. Zusätzlich verwiesen seien Leser/-innen aus dem skandinavistischen Bereich darüber hinaus auf das Kapitel zu Schwabes Roman, in welchem der (idealisierte) ‚Norden‘ als Repräsentant des Anderen für die Protagonistin zu einem Verheißungsort wird, an welchem weibliche Emanzipation überhaupt erst möglich erscheint (vgl. S. 273).

Nicht zuletzt durch seine detaillierte Theoriediskussion ist Bauers Brückenschlag zwischen Raum, Geschlecht und Literatur jedoch nicht nur einem germanistischen oder skandinavistischen, sondern einem allgemein textwissenschaftlich arbeitenden Publikum empfohlen. Durch ihren entschiedenen Schwerpunkt auf Lefebvre und damit auf einen Sonderbereich des umfassenden Diskurses zu Geschlecht, Raum und Literatur ist Bauers Arbeit dabei nicht als Überblickswerk für genderorientierte Raumforschung zu sehen. Dies ist jedoch nicht als Kritik zu verstehen: Gerade die Konzentration auf La production de l’espace erlaubt es der Autorin schließlich, die Komplexität und das Potential dieses Grundlagentextes herauszuarbeiten, womit auch Anschlussforschungen, die außerhalb der Sozialwissenschaften angesiedelt sind, erleichtert werden. Neben der nachvollziehbaren thematischen Fokussierung hilft auch die sprachliche Prägnanz, mit der Bauer durch die Komplexität ihres theoretischen und literarischen Forschungsgegenstandes führt, Neueinsteiger/-innen dabei, sich die Lehre Lefebvres zu erschließen.

Katharina Fürholzer, M.A.

Universität Ulm

Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin

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E-Mail: katharina.fuerholzer@uni-ulm.de

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