Warum Identitätskategorien nicht unschuldig sind und Anerkennung nicht allen nützt

Rezension von Lisa Krall

Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß:

Schwule Sichtbarkeit − schwule Identität.

Kritische Perspektiven.

Gießen: Psychosozial Verlag 2016.

146 Seiten, ISBN 978-3-8379-2549-4, €19,90

Abstract: Die beiden Autor_innen Zülfükar Çetin und Heinz-Jürgen Voß sehen es als notwendig und dringlich an, zu diskutieren, inwiefern ‚der Homosexuelle‘ vermehrt als Diskursfigur für westliche Hegemonie fungiert, und dies nicht nur aufgrund von Instrumentalisierungen, sondern auch aus der eigenen Beteiligung an herrschenden Diskursen. Befragt wird hier eine auf den ersten Blick nicht als privilegiert geltende Gruppe nach ihrer Einbettung in Herrschaftsverhältnisse. Dabei werden die beiden titelgebenden Schlagworte Sichtbarkeit und Identität immer wieder aufgegriffen und in unterschiedlichen Kontexten betrachtet. Wer vom Umfang des Buches auf eine knappe Abhandlung mit Einführungscharakter schließt, liegt falsch und wird vielmehr mit einer komplexen Analyse und dichten Argumentation konfrontiert.

DOI: https://doi.org/10.14766/1213

Im ersten, gemeinsam verfassten Teil des hier besprochenen Buches geht es den beiden Autor_innen darum, mit Hilfe historischer Betrachtungen die Eingebundenheit „des Homosexuellen“ – im Band durchgängig in Anführungsstrichen, um auf die Konstruiertheit des Begriffs hinzuweisen – und die mit ihm verbundene Emanzipationsbewegung als Teil westlicher Hegemonie begreifbar zu machen. Vor allem anhand der Arbeiten von Karl Heinrich Ulrichs (Jurist, 1825─1895) und Magnus Hirschfeld (Mediziner, 1868─1935), die sie als zentral für die Herausbildung jener Identitätskategorie und die damaligen emanzipatorischen Bewegungen sehen, wird deren Suche nach der ‚wahren Homosexualität‘ (vgl. S. 11) rekonstruiert, die mit rassistischen Abgrenzungen gegenüber z.T. kolonialisierten ‚Anderen‘ stattfand: „Sie [‚die Homosexuellen‘] haben ihre klare kategoriale Fassung ganz zentral betrieben, gerade um an den Privilegien weißer bürgerlicher Männer Anteil haben zu können; sie haben ihre Konstruierung als (weiße) Gruppe so in direkter Abgrenzung gegen die geschlechtlichen und sexuellen Handlungen ‚der Anderen‘ vorangetrieben und zentral an den kolonialen und rassistischen Argumentationsweisen und Politiken mitgewirkt.“ (S. 23)

Dass „die Homosexuellenbewegung“ folglich nicht bloß aus einer Gruppe Verfolgter besteht, die für ihre Rechte eintreten, sondern dass ihre Akteure selbst Teil von Herrschaftsverhältnissen waren und sind, verdeutlichen Çetin und Voß also bereits zu Beginn und zeigen nun anhand historischer und aktueller Beispiele aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft die Verschränkungen der Identitätskategorie „Homosexualität“ mit Kolonialismus und Rassismus auf. Mit Betrachtung dieser ambivalenten Position „der Homosexuellen“ als Verfolgte und Streitende und zugleich als Privilegierte und an Herrschaft Partizipierende hinterfragen sie in diesem Band die Relevanz von Identitätskategorien und betrachten ihre Folgen kritisch. Auch regen sie eine Auseinandersetzung mit Sichtbarkeit und Anerkennung an, die oftmals positiv als Instrumente von Emanzipationsbewegungen diskutiert werden. Bezugnehmend auf die soziologischen Arbeiten von Andrea Mubi Brighenti plädieren Çetin und Voß jedoch dafür, beide Begrifflichkeiten in ihrer Vielschichtigkeit wahrzunehmen und zu reflektieren, wem sie nützen können und für wen sie aufgrund zu enger Identitätskategorien nicht hilfreich sind.

Klassifizierung und Naturalisierung von „Homosexualität“ sind nicht unschuldig

Beginnend mit einigen wissenschaftstheoretischen Einordnungen bettet Voß im zweiten Teil die Erfindung „der Homosexualität“ zunächst in einen naturwissenschaftlichen Kontext und ins 19. Jahrhundert ein und veranschaulicht die Klassifizierungsarbeit von Hirschfeld, aber auch anderen Wissenschaftlern. Neben der damaligen Verfolgung und dem Versuch der ‚Behandlung‘ homosexueller Männer – und nur um diese geht es im ganzen Band – werden Hirschfelds Bemühungen aufgezeigt, gegen den § 175 StGB zu argumentieren, indem er „Homosexualität“ als natürliche Gegebenheit nachweist. Während also Wissenschaftler wie Hirschfeld für mehr Rechte kämpften, entwarfen sie ein spezifisches Bild, eine eindeutige Identitätskategorie „der Homosexuellen“ und grenzten sich dabei stark ab von nach ihrer Meinung ‚abweichendem Verhalten anderer‘ (vgl. S. 47). So wurde „‚Homosexualität‘ im Kontext der schwulen Identitätsbildung naturalisiert“ (S. 67). Die historische Analyse wird ergänzt um aktuelle Beispiele naturwissenschaftlicher Erforschungen „der Homosexualität“; als konstant wird die statische und enge Sichtweise auf diese herausgearbeitet, die sich durch die Geschichte zieht und dabei viele Handlungen und Personen außen vor ließ und lässt. So wird deutlich, dass Klassifizierungen und Kategorisierungen, die der Sichtbarmachung und Anerkennung dienen, nicht unschuldig, sondern Teil von Herrschaftsverhältnissen sind, da sie nur bestimmte Personen einschließen, wodurch all jene herausfallen, die nicht weiß, europäisch, bürgerlich oder männlich sind.

Diese Perspektiven überträgt Voß am Ende des Kapitels auf aktuelle pädagogische Diskurse um Coming Out und Selbstbenennung, die zumeist als emanzipatorisch bewertet werden. Die nun aber deutlich werdende Parallele liegt darin, dass auch hier nur anerkannt wird, wer eindeutig in das Bild „des Homosexuellen“ passt und sich in die bürgerliche Ordnung einfügen kann: „Nur dann, wenn man sich in die bürgerliche Ordnung integriert und wenn man überhaupt als integrierbar in diese gilt, ergeben sich aktuell mehr Möglichkeiten für lesbische und schwule Paare. Wer hingegen das Integrationsangebot nicht annimmt und von bürgerlichen Normen, ‚stetig‘ und in Paarbeziehung zu leben, abweicht, lebt in der Gesellschaft sogar in zunehmendem Maße gefährdet. Das kann etwa der Fall sein, wenn ein Mann gern promisk mit Männern Sex in Parks haben möchte […], und es ist der Fall, wenn er arm oder wenn er Schwarz ist.“ (S. 78) So plädiert Voß dafür, Identitätskonzepte aufzugeben, damit Räume zu eröffnen und sich nicht länger an der Reproduktion hierarchischer Verhältnisse zu beteiligen.

Was „Homosexualität“ auch heute noch mit Rassismus zu tun hat

Dies leitet über zum diskursanalytisch vorgehenden dritten Teil, in dem Çetin zunächst mit Bezug auf Arbeiten von Birgit Rommelspacher Perspektiven auf mehrdimensionale Dominanzgeflechte eröffnet (vgl. S. 83). Anhand von weißen feministischen Emanzipationsdiskursen und von Debatten über muslimische Schwule wird der Universalismus des westlichen Gleichheitsanspruchs beleuchtet, den Çetin beispielsweise in der deutschen Antidiskriminierungspolitik der 2000er Jahre verortet. Gemeint sind solche Stimmen, die westliche Konzepte von Frauenrechten und Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben als Norm setzen, den globalen Norden als Vorreiter dieser Werte sehen und als bedroht vor allem durch nicht-christliche Okkupierungen. In diesem Zusammenhang wird Jasbir Puars Konzept des Homonationalismus eingeführt, welches „die Erfindung einer ‚schwulenfeindlichen‘ Nation“ (S. 105) beschreibt; hierfür werden mit aktuellen Geschehnissen, medialer Berichterstattung sowie wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zahlreiche Beispiele geliefert. Çetin nimmt dabei vor allem die seit 9/11 zunehmenden rassifizierten Zuschreibungen von „Muslim_innen“ in den Blick und zeigt, wie auch hier ein feindliches Bild von ‚wir vs. die Anderen‘ hergestellt wird und dabei koloniale Geschichte und postkolonialer Rassismus ausgeblendet werden (vgl. S. 99). Stattdessen bilde sich ein zunehmend rechtspopulistischer Diskurs heraus, der auch durch wissenschaftliche Beschäftigungen und methodisch mangelhafte Studien – leider bleibt die Kritik ohne konkrete Beispiele – befeuert werde. Alarmierend sei, wie die Annahme Verbreitung finde, dass „Menschen, die einen ‚Migrationshintergrund‘ haben, jung und möglicherweise muslimisch sind sowie aus ‚bildungsfernen‘, wirtschaftlich benachteiligten Familien stammen, […] mehr homophobe Tendenzen und Praktiken aufweisen als die anderen“ (S. 106).

Anhand dreier Berliner Stadtteile kommt nun auch Çetin auf Sichtbarkeit zu sprechen und beschreibt hier die zunehmende Sichtbarkeit der Schwulen im Kontext von Gentrifizierung, die aber auf Kosten von (Arbeits-)Migrant_innen gehe. Statt das Zusammenleben Unterschiedlicher im Stadtteil zu fördern, seien beispielsweise auf Stadtteilfesten zunehmend rassistische sowie polarisierte Feindbilder vorzufinden. Dies alles zu veranschaulichen und die mehrschichtigen Hierarchisierungen wie Diskriminierungen zu thematisieren, kann als Anliegen des Buches formuliert werden. So schließen die beiden Autor_innen im gemeinsamen Abschluss mit dem Appell, sich des eigenen Eingebundenseins in Herrschaftsverhältnisse bewusst zu werden, adressieren dabei aber vor allem eine Personengruppe: „Weiße Schwule sind diskriminiert aufgrund der sexuellen Orientierung, gleichzeitig stehen sie in Bezug auf das Geschlechterverhältnis und Rassismus auf der Täterseite.“ (S. 132) Ihre Analyse soll theoretische Erkenntnisse ergänzen sowie damit auch zukünftiges emanzipatorisches Streiten inspirieren. Wert legen sie dabei darauf, intersektionale Perspektiven einzunehmen und das Ziel der Überwindung starrer Identitäten weiterhin zu verfolgen.

Ein Fazit

Çetin und Voß führen im hier besprochenen Band Gegenwart und Vergangenheit zusammen sowie ebenso das, was häufig in Theorie und Praxis unterteilt wird. Damit und anhand unterschiedlicher Beispiele liefern sie eine umfassende Analyse und zeigen die Verschränkungen auf, die schwuler Sichtbarkeit und schwulen Identitäten zugrunde liegen. Geht es sonst oftmals darum, zu beschreiben, wie „Homosexualität“ als ‚das Andere‘ gegenüber Heterosexualität konzipiert wird, findet hier eine Perspektivverschiebung statt, und es wird ein Blick darauf gerichtet, in Abgrenzung welcher ‚Anderer‘ sich „der Homosexuelle“ konstituiert (hat). Damit schließt das Buch sowohl an gesellschaftliche Phänomene und aktuelle politische Herausforderungen an als auch an theoretische Verhandlungen in feministischen Theorien und der Geschlechterforschung, in postkolonialen Studien oder Intersektionalitätsanalysen. Ob es tatsächlich damit funktioniert, Theorie wie auch Praxis zu erreichen, muss sich zeigen bei dieser durchaus dichten Analyse und den komplexen Zusammenhängen, die hergestellt werden. Dass Auseinandersetzungen angeregt werden, wie es formuliertes Ziel des Buches ist, gelingt aber mit Sicherheit, und zwar nicht nur aufgrund der eng geführten, aber sehr fundierten theoretischen Analysen, sondern auch dadurch, dass es die Lesenden aus ihrer Komfortzone holt, wovon nicht alle begeistert sein werden. Die durch zahlreiche Beispiele untermauerten Argumentationen erweisen sich als zwingend, und es lohnt sich, ihnen zu folgen. So wie es nach wie vor mehr privilegienreflektierender Geschlechterforschung und feministischer Bewegungen bedarf, ist es notwendig, die eigene Beteiligung an Herrschaft zu thematisieren, wie Çetin und Voß am Beispiel der Schwulen aufzeigen. Der Forderung der Autor_innen, Identitäten zu verlernen (vgl. S. 17), könnte in diesem Sinne wohl auch Gayatri Chakravorty Spivaks (1996) Vorschlag hinzugefügt werden, Privilegien als einen Verlust zu verstehen.

Literatur

Landry, Donna/MacLean, Gerald (Eds.) (1996): The Spivak Reader: Selected Works of Gayati Chakravorty Spivak. London u. a.: Routledge.

Lisa Krall

Universität zu Köln

M.A. Gender Studies

E-Mail: lkrall@uni-koeln.de

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