Heterogene feministische Kritik – auf der Straße und im Elfenbeinturm

Rezension von Inga Nüthen

Brigitte Bargetz, Andrea Fleschenberg, Ina Kerner, Regina Kreide, Gundula Ludwig (Hg.):

Kritik und Widerstand.

Feministische Praktiken in androzentrischen Zeiten.

Opladen u.a.: Verlag Barbara Budrich 2015.

205 Seiten, ISBN 978-3-8474-0065-3, € 29,90

Abstract: Ein nach wie vor brisantes Thema wird in diesem Sammelband diskutiert: Formen und Geschichten feministischer Kritik und feministischen Widerstands. Mit einem besonderen Fokus auf das Verhältnis von Theorie und Praxis entsteht dabei ein facettenreicher sozialwissenschaftlicher Blick auf feministisch motivierte Einsprüche in bestehende Verhältnisse. Auch wenn die zentralen Fragen und Erkenntnisse der Beiträge nicht immer neu sind, so ist ihre Zusammenstellung – gerade als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung – ein wichtiger Beitrag zur aktuellen Geschlechterforschung, der auch zu kontroversen Diskussionen einlädt.

DOI: http://doi.org/10.14766/1202

Der Sammelband Kritik und Widerstand. Feministische Praktiken in androzentrischen Zeiten veröffentlicht die Beiträge einer Konferenz des Arbeitskreises Politik und Geschlecht in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft aus dem Jahr 2012. Der Band erschien mit etwas Verzögerung erst Ende 2015, ist aber nichtsdestotrotz hochaktuell. Erstens, weil die im Titel aufgerufenen androzentrischen Zeiten, in denen weiße Männlichkeit immer noch der, wenn auch nicht mehr gänzlich unumstrittene Mittelpunkt der Welt darstellt, feministische Kritik weiterhin und immer wieder notwendig machen. Zweitens, weil feministische Kritik in Anbetracht vielfältiger Krisenphänomene und deren Verstrickung in intersektionale Macht- und Herrschaftsverhältnisse gleichzeitig vor (nicht nur neuen) Herausforderungen steht.

Eine „Rückbesinnung der Geschlechterpolitologie auf ihre Aufgaben als kritische Wissenschaft“ (S. 17) – auf die die Herausgeber*innen mit diesem Band abzielen – erscheint gerade in Anbetracht dieser Herausforderungen und der Prozesse der Inklusion in eine ökonomisierte Hochschule geboten. Sie wollen hierfür aktuelle Formen und Ziele feministischen Widerstands zusammentragen und die Bedeutung feministischer Kritik in der Wissenschaft aufzeigen (vgl. Klappentext). Dass feministische Wissenschaft dabei nur im Zusammenspiel mit politischer Praxis ihrer Aufgabe als kritische Wissenschaft verpflichtet bleibt, ist die Ausgangsüberlegung der Herausgeber*innen. So ist es das schwierige, herausfordernde und gleichzeitig neu zu bestimmende Verhältnis zwischen feministischer Praxis und feministischer Wissenschaft, dessen sich die Beiträge unter verschiedenen thematischen und theoretisch-praktischen Blickwinkeln annehmen. Die Bearbeitungen des Themas feministischer Kritik und feministischen Widerstands erweisen sich dabei durchaus als heterogen – so war es auch von den Herausgeber*innen gewollt. Allerdings werden diese Unterschiede in dem Band nicht gesondert herausgearbeitet, und so fehlt größtenteils eine Verbindung der einzelnen Beiträge. Zu Kontoversen einladen könnte etwa María Pía Laras kritische Zeitdiagnose feministischer Politik. In ihrem Artikel vertritt sie die These, dass feministische Politik hinter epistemischen Fragen verschwinde und hinter diesen wieder hervorgeholt werden müsse. Eine Diskussion über diese sicher auch nicht von allen Autor*innen des Bandes geteilte These bleibt Aufgabe der Rezeption.

Gesellschaftskritik zwischen Theorie und Praxis

Die Autor*innen der verschiedenen Artikel eint das Ziel einer Bestimmung von feministischer Kritik und feministischem Widerstand als Gesellschaftskritik, sowohl in theoretischer als auch in bewegungspolitischer Praxis. In Bezug auf das, was darunter verstanden wird, wie und wo Gesellschaftskritik stattfindet, legen die Autor*innen allerdings jeweils unterschiedliche Schwerpunkte.

Anregung für eine Reflexion über feministische Wissensproduktion als Gesellschaftskritik und damit über die Frage nach feministischer Kritik in der Wissenschaft liefern gleich mehrere Beiträge. So beispielsweise Birgit Sauers Entwurf einer „feministischen Kritik der Politik“ (S. 36): In ihrem anschaulich strukturierten Artikel geht sie der grundlegenden Frage nach, was feministische Politikwissenschaft zu einer kritischen Wissenschaft macht. In ihrer Antwort verbindet sie Dimensionen der Kritik im Foucault’schen Denken, die ein Außerhalb der Gesellschaft und einen Rekurs auf eine wahren Standpunkt verneinen, mit dem urteilenden Rekurs auf einen vernünftigen Standpunkt in der Kritiktradition Kritischer Theorie. Damit stellt sie einen Modus feministisch-politikwissenschaftlicher Kritik zur Diskussion, der Foucault’sche und marxistisch-kritische Kritikbegriffe verbindet und erweitert. Sauer leistet so einen lesenswerten Beitrag zur Schärfung des Kritikbegriffs feministischer Politikwissenschaft.

Das für den Band als zentral betrachtete Verhältnis von feministischer Theorie und Praxis rückt etwa Stefanie Meyer konkreter in den Vordergrund. Mit Blick auf verschiedene Traditionslinien antirassistischer, feministischer Debatten im Wiener Kontext thematisiert sie die Wichtigkeit eines Rückbezugs feministischer Theoriebildung auf feministische Aktivismen. Gerade ihr Plädoyer für einen Balanceakt, der weder postkoloniale Machtverhältnisse und damit einhergehende epistemische Gewalt noch die verschiedenen Handlungsbedingungen von Aktivist*innen in unterschiedlichen nationalen, regionalen und lokalen Kontexten ausblendet, stellt spannende Anregungen für eine gesellschaftskritische Stärkung der Verbindung feministischer Theorie und Praxis bereit.

Ein weiterer Beitrag thematisiert akademische feministische Kritik als Praxis. Fleur Weibel und Maria Dätwyler reflektieren den akademischen Feminismus als Paradoxie einer Gleichzeitigkeit von Kritik und Reproduktion bestehender Verhältnisse und setzen sich so kritisch mit der Herausforderung der Inklusion feministischer Kritik in die Akademie auseinander. Sie diskutieren eine Foucault’sche Haltung der Kritik, in der Lebensweise und theoretische Lehre verbunden sind, und mobilisieren Karen Barads diffraktiven Gestus der Kritik in dem Versuch, dem Gestus der Neutralität in der Akademie zu entgehen. Ihre Verbindung von materiellen und nicht-materiellen Aspekten von Wissensproduktion wendet sich jedoch im Unterschied zu Birgit Sauers Beitrag dem Materiellen aus einer post-humanistischen Perspektive und nicht im Rückbezug auf Ansätze der Kritischen Theorie zu. Diese unterschiedlichen Ansätze in der Thematisierung von Materialität machen deutlich, dass die Antworten auf die Frage nach feministischer Gesellschaftskritik durchaus unterschiedlich ausfallen beziehungsweise unterschiedlichen theoretischen Konzepten verpflichtet sind.

Konkrete feministische Praxen

Neben den theoretischen Ausarbeitungen zur Frage feministischer Kritik und feministischen Widerstands finden sich in dem Band auch Beiträge, in denen der Fokus direkt auf konkrete widerständige feministische Praxen gelegt wird. So beschäftigen sich beispielsweise gleich zwei Beiträge mit der Aktionsform der Slutwalks, die 2011 vielerorts stattfanden. Magda Albrecht liest diese in der Tradition der Riot-Grrrl-Bewegung und reflektiert Erfolge, aber auch die Reproduktion von Ausschlüssen innerhalb der und durch die Protestaktionen. Mit einem anderen Fokus nimmt dagegen Katharina Volk die Praxen der Slutwalks unter die Lupe: Sie vergleicht deren Gerechtigkeitsvorstellungen vor dem Hintergrund von Nancy Frasers Gerechtigkeitsverständnis mit denen feministischer Quoten-Forderungen und plädiert für einen Einbezug der sozialen Frage. Damit fokussieren beide Beiträge unterschiedliche Auslassungen der analysierten feministischen Praxen und ermöglichen es, den Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten.

Doch feministische Kritik und feministischer Widerstand sind nicht nur ereignishafte, sondern auch lebensweltliche Prozesse. Was queer-feministische Kritik alltagspraktisch bedeuten kann, illustriert Uta Schirmers Auseinandersetzung mit dem Potential trans*-queerer Alltagspraxen des Drag Kinging. Sie diskutiert diese als Kampf um geschlechtliche Subjektivierungsweisen und für die Hervorbringung alternativer geschlechtlicher Existenzweisen.

Ältere feministische Praxen werden nur in einem Beitrag aufgegriffen: Christiane Leidinger unternimmt eine Erweiterung der Systematisierung politischer Aktionsformen in der Bewegungsforschung anhand konkreter Aktionen lesbisch-feministischen Widerstands, den Frauenwiderstandscamps, die von 1983 bis 1993 im Hunsrück organisiert wurden. Mit dem Fokus auf direkte Aktionen schlägt sie Prinzipien für eine feministische Widerstandskonzeption vor. Die Frage zum Ende ihres Beitrags kann auch als Lektüreanregung für den gesamten Band und für die Analyse feministischer Wissenschaftspraxis verstanden werden: „Wie und welche Bewegungsgeschichte wird in Zukunft geschrieben werden? Und wo wird sie gemacht“ (S. 92 f.) – auf der Straße oder im Elfenbeinturm?

Fazit

Die disziplinäre Verortung des Bandes in der Politikwissenschaft – erschienen als Band 26 in der Reihe „Politik und Geschlecht“ im Verlag Barbara Budrich – ist in jedem Fall ein begrüßenswerter Beitrag zur Sichtbarmachung der immer noch nicht in der Mitte des Faches angekommenen feministischen Politikwissenschaft. Aber auch Leser*innen anderer Fachdisziplinen sowie Aktivist*innen erwartet in diesem Buch eine lesenswerte Auseinandersetzung mit feministischer Kritik und feministischem Widerstand an verschiedenen Orten und mit verschiedenen Schwerpunkten. Sicherlich wird dabei kein umfassendes Bild gezeichnet, und dennoch scheint durch, dass der Gegenstand kein einheitlicher ist, dass die Positionen divergieren. So findet sich in dem Band nicht die eine Antwort auf die Frage nach der Neubestimmung des Verhältnisses von feministischer Theorie und Praxis. Der wiederholt und nicht zum ersten Mal formulierte Anspruch einer Verbindung von Theorie und Praxis bildet ein stets bestehendes Spannungsfeld, in dem sich ein akademisch gewordener Feminismus bewegt. Wie diese Bewegung aussehen kann, dazu liefert der Band Ideen, die es sich lohnt zu diskutieren. Dabei stehen die heterogenen Beiträge allerdings etwas unverbunden nebeneinander, und die teilweise auch gegensätzlichen Positionen im Ringen um eine kritische Geschlechterpolitologie werden nicht in einen Dialog gebracht. Da gerade ein Blick zurück Anregungen zur Reflexion aktueller Widerstands- und Protestformen liefern kann, wären weitere Beiträge zur ‚eigenen‘ Bewegungsgeschichte bereichernd gewesen. Hier könnte angeknüpft werden.

Inga Nüthen

Promotionsstipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung

E-Mail: inganue@zedat.fu-berlin.de

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