Intersektional forschen, aber wie? Ein neuer Sammelband gibt Einblick in die Forschungspraxis

Rezension von Heike Mauer

Mechthild Bereswill, Folkert Degenring, Sabine Stange (Hg.):

Intersektionalität und Forschungspraxis.

Wechselseitige Herausforderungen.

Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2015.

232 Seiten, ISBN 978-3-89691-243-5, € 24,90

Abstract: Im vorliegenden Sammelband wird der Schwerpunkt auf disziplinäre Perspektiven gelegt, die in der sozialwissenschaftlichen Debatte um Intersektionalität als „neues Paradigma der Geschlechterforschung“ (Gudrun-Axeli Knapp) bisweilen wenig repräsentiert sind ─ Geschichtswissenschaft, Mediävistik, Literaturwissenschaften. Versammelt sind primär Beispiele für empirische Zugänge zu Intersektionalität als Forschungspraxis. Diese Schwerpunktsetzung verschiebt auch die Perspektive in den aktuellen Kontroversen um Fragen der Auswahl, Setzung, Rekonstruktion oder Dekonstruktion intersektionaler Analysekategorien. Intersektionalität erscheint als eine Forschungsperspektive, mit deren Hilfe auf ganz unterschiedliche theoretische und methodische Weise die Mehrdimensionalität von Geschlecht eingefangen werden kann.

DOI: http://doi.org/10.14766/1190

Intersektionalität wird bereits seit längerem als „neues Paradigma“ der deutschsprachigen Geschlechterforschung gehandelt (vgl. Knapp 2005, 2008a; Walgenbach 2012; skeptisch Bührmann 2009) ─ und dies obwohl über die Bedeutung und den Status des Begriffs keine Einigkeit herrscht: Intersektionalität wird sowohl als Theorie, Heuristik und Methode bezeichnet. Ebenso besteht kein Konsens darüber, wie und auf welchen Ebenen die Mehrdimensionalität von Geschlecht ─ als kleinster gemeinsamer Nenner der Intersektionalitätsforschung ─ konzeptualisiert werden muss und wie diese Mehrdimensionalität von Geschlecht mit Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen zusammenhängt.

Parallel zu programmatischen Entwürfen, die Intersektionalität vor allem als Aktualisierung von Gesellschaftstheorie begreifen (vgl. insbesondere Klinger 2008; Knapp 2008b, 2013), und den Bemühungen für die Entwicklung einer intersektionalen Methodologie (Degele/Winker 2009) ist in jüngster Zeit eine ganze Reihe von Publikationen entstanden, die die Intersektionalitätsforschung zunächst in ihrer (disziplinären, theoretischen und methodischen) Breite ─ und Widersprüchlichkeit ─ darstellen wollen (vgl. Lutz/Vivar/Supik 2010; Hess/Langreiter/Timm 2011; Smykalla/Vinz 2011; Kallenberg/Meyer/Müller 2013) und die dementsprechend die Heterogenität intersektionaler Forschungsarbeiten gegenüber ihren etwaigen konzeptuellen Gemeinsamkeiten stärker betonen.

Intersektionale Forschungspraxis: disziplinär und methodisch vielfältig

In diesem Kontext ist auch der hier besprochene, von Mechthild Bereswill, Folkert Degenring und Sabine Stange herausgegebene Sammelband einzuordnen, der auf die Vortragsreihe „Intersektional forschen ─ aber wie?“ an der Universität Kassel aus dem Wintersemester 2012/2013 zurückgeht. Die Publikation versammelt Beiträge aus Rechtswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft sowie Geschichtswissenschaft. Beleuchtet werden ganz unterschiedliche Forschungsgegenstände (um nur eine Auswahl zu nennen: von mittelalterlichen Reiseerzählungen, über einen Streik tschechischer Textilarbeiterinnen in Österreich im 19. Jahrhundert, den Erzählungen amerikanischer SklavInnen, einem Kongress der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten bis zum deutschen Aufenthaltsrecht, dem europäischen Grenzregime oder der europäischen Öffentlichkeit) aus ─ verschiedenen ─ intersektionalen Perspektiven.

Trotz dieser Vielfältigkeit dominieren jedoch vor allem Methoden, die die Analyse des Textes ins Zentrum stellen. Überlegungen zur Genese bzw. Auswahl des zu analysierenden Materials treten in den Hintergrund. Lediglich der Beitrag von Stefan Wellgraf bedient sich ethnographischer Methoden wie der Feldforschung und der teilnehmenden Beobachtung für die Analyse des Boxerstils als einer spezifischen Form der gewalt- und körperbetonten marginalisierten Männlichkeit, während das empirische Forschungsmaterial, auf das Birte Siim für ihre englischsprachige Analyse der politischen Intersektionalität, worunter sie hier im Gegensatz zu Crenshaw (1991) eine Untersuchung der Intersektionalität spezifischer Politikfelder, ihrer konkreten Ausgestaltung sowie der dazugehörigen Praxen versteht, und demokratischen Politik in der europäischen Öffentlichkeit zurückgreift, auf ExpertInneninterviews sowie der Auswertung von Strukturdaten beruht.

In allen anderen Beiträgen werden im weitesten Sinne Texte analysiert ─ in Form von Literatur, Briefen, (historischen) Zeitungen oder Gesetzen. Die Überlegungen sind auf das (bisweilen fiktionale) Quellenmaterial konzentriert und auf das Herausarbeiten textinterner intersektionaler Verknüpfungen und Differenzierungen. Mareike Böth spürt anhand der Briefe Liselottes von der Pfalz (1652─1722) frühneuzeitlichen Subjektivierungs- und Selbstbildungsprozessen nach und zeigt, welche Bedeutung Geschlecht, (legitime) Abstammung, sexuelles Begehren und adeliger Stand hierbei in unterschiedlichen Kontexten spielen. Ihre Vorgehensweise ist dabei textnah, indem sie die Analysekategorien ihrer intersektionalen Analyse induktiv erschließt. Ähnlich verfährt Susanne Schul, die das mittelalterliche Versepos Herzog Ernst als eine intersektionale Reise-Erzählung analysiert, in der Heldenhaftigkeit als eine spezifische Konfiguration von Abstammung und Stand, Männlichkeit und Gewaltfähigkeit verhandelt wird. Beide Autorinnen betonen jeweils das Potential von Intersektionalität für die Analyse vormoderner Texte und Kontexte, die sich sowohl hinsichtlich der relevanten Differenz- und Ungleichheitskategorien als auch der Art und Weise der gesellschaftlichen Differenzierung von modernen, bürgerlich-kapitalistischen und funktional differenzierten Gesellschaften deutlich unterscheiden.

In der Vorgehensweise ähneln diese Studien ─ trotz der historischen Differenz zwischen den Untersuchungszeiträumen ─ den im Band vorgelegten Fallstudien zu Untersuchungsgegenständen der jüngeren Geschichte. So analysieren Kerstin Wolff und Bettina Kretzschmar die diskursive Aushandlung der Prostitutionsfrage innerhalb der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten um 1900. Die Autorinnen arbeiten nicht nur heraus, dass verschiedene RednerInnen den Kategorien Geschlecht, Alter und Klassenzugehörigkeit ganz unterschiedliche Bedeutungen zuweisen, sondern zeigen, dass diese Kategorien auch in spezifischen Kontexten unterschiedlich gewichtet werden. Dabei rekonstruieren auch sie die Analysekategorien induktiv ausgehend vom Quellenmaterial. Ähnlich zeigt Nicole Maruo-Schröder, dass die Perspektive auf Geschlecht den Ich-Erzählungen schwarzer SklavInnen jeweils den Rückgriff auf spezifische Narrative ermöglicht, so dass ihre autobiografischen Schilderungen jeweils an unterschiedliche literarische Kontexte anknüpfen.

Folkert Degenring zielt in seinem Beitrag auf die intersektionale Analyse narrativer Strukturen am Beispiel des Gegenwartsromans Capital von John Lanchaster. Ausgehend von den mehrdimensionalen Figurenkonstruktionen fragt Degenring nach den sozialen Differenzierungskategorien, die damit als wirkmächtige Identitätsmerkmale aufgerufen werden. Dass für das Funktionieren dieser narrativen Technik ein Vorwissen der Lesenden sowie für deren Analyse die Einbeziehung des außerliterarischen Kontextes notwendig ist (vgl. S. 149), wird von ihm jedoch eher postuliert als expliziert.

Auf das Spannungsverhältnis zwischen (Quellen-)Text und historischem Kontext verweist auch Christian Koller, der die Differenz zwischen der Relevant- und der Unsichtbarmachung von unterschiedlichen Kategorien im Quellenmaterial anhand des Wiener Textilarbeiterinnenstreiks von 1893 darstellt. Dieser ging als „erster Frauenstreik in Wien“ (S. 46) in die (sozialdemokratische) Presse und auch in die Geschichtsbücher ein. Allerdings wurde die tschechische Nationalität der Streikenden ─ und die damit einhergehenden Problematiken, die die österreichische Doppelmonarchie als Vielvölkerstaat kennzeichneten ─ in diesen Quellen konsequent ausgeblendet.

Die Juristin Nora Markard konzentriert sich bei ihrer Analyse des Aufenthaltsgesetzes auf die juristische Konstruktion von Schein- und Zwangsehen und arbeitet auch anhand einer Untersuchung der Rechtspraxis die damit einhergehenden intersektionalen Stereotypisierungen anhand von Geschlecht, Alter, Schicht- und Religionszugehörigkeit heraus. Diese bekräftigten Vorurteile wie dasjenige des orientalisierten, ausbeuterischen migrantischen Mannes, während ausländische Frauen viktimisiert würden. Mit diesen Clichés seien zugleich heteronormative Vorstellungen einer romantischen Zweierbeziehung verbunden, wobei bessergestellten Paaren ein größerer Spielraum bezüglich der Gestaltung der Beziehung zugestanden werde (vgl. S. 36). Markard weist in ihrer Studie eindrücklich die diskriminierenden Vorannahmen nach, mit denen die scheinbar neutralen juristischen Konstruktionen der Schein- und Zwangsehen unterlegt sind.

Elisabeth Tuider will mit ihrer dekonstruktivistisch-diskursanalytischen Studie zu den intersektionalen Aspekten des europäischen Migrationsregimes noch einen Schritt über die Rekonstruktion und Sichtbarmachung von Differenzkategorien hinausgehen. Anhand des deutschen Diskurses beschreibt sie verschiedene vergeschlechtlichte Figuren, wie die des „Ansturms der Armen“ (S. 179) in Gestalt von (Boots-)Flüchtlingen und Asylbegehrenden, den potentiell ‚gefährlichen‘, gebildeten muslimischen Migranten, die männliche, ausländische Fachkraft oder die feminisierte Care-Arbeiterin, deren Einwanderung im gegenwärtigen Grenzregime jeweils gezielt reguliert und mit Hilfe spezifischer Integrations- oder Exklusionsmechanismen moderiert wird. Dabei geht sie davon aus, dass das Spannungsverhältnis von Rekonstruktion und Dekonstruktion zwar als unauflösbar, jedoch nicht als Dilemma aufgefasst werden dürfe. Indem man dieses Spannungsverhältnis sichtbar mache, sei es möglich, Widersprüchlichkeiten, Umdeutungen und Verschiebungen des Diskurses zu zeigen (vgl. S. 186 f.).

Von der Theorie zur Praxis und wieder zurück?

Die jeweiligen Beiträge nehmen auf unterschiedliche Weise auf Schlüsseltexte der Intersektionalitätsdebatte (und ihrer KritikerInnen) Bezug und verorten sich auch theoretisch in unterschiedlichen (praxeologischen, hermeneutischen oder gouvernementalitätstheoretischen) Kontexten, die sich allerdings nicht ohne Friktionen, Widersprüchlichkeiten und wissenschaftlichem Disput ineinander übersetzen lassen.

Deshalb ist es begrüßenswert, dass der Band mit theoretischen Überlegungen von Mechthild Bereswill zu den Möglichkeiten einer intersektionalen Forschungspraxis abgerundet wird, die auf einer synthetisierenden Reflexion der empirischen Beiträge beruhen. Dabei befragt Bereswill die Aufsätze zunächst anhand eines der zentralen Streitpunkte der Intersektionalitätsdebatte ─ der Frage nach der Auswahl, der Rekonstruktion und/oder der Dekonstruktion von Kategorien. Als Gemeinsamkeit der heterogenen Beispiele intersektionaler Forschungspraxis auf der Mikroebene hebt sie insbesondere deren reflexiven Umgang mit Theorie und Empirie hervor (vgl. S. 227), der auch in anderen zusammenfassenden Beiträgen bereits herausgearbeitet wurde (vgl. Knapp 2011, S. 261 f.).

Die Stärke des Sammelbandes liegt darin, in der doch stark sozialwissenschaftlich geprägten Debatte um Intersektionalität die bislang im deutschsprachigen Diskurs eher marginalisierten Perspektiven (wie etwa die der Mediävistik, der Frühneuzeitforschung oder auch der Rechtswissenschaften) sichtbar zu machen. Zugleich machen die Beiträge deutlich, dass die angestrebte Erweiterung des intersektionalen Forschungsfeldes und die Verankerung intersektionaler Perspektiven innerhalb des gesamten Spektrums der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften zur Folge hat, dass Intersektionalität als eine Forschungsperspektive funktionieren muss, die unter Bezugnahme auf ganz unterschiedliche Theorien und Methodologien die Mehrdimensionalität von Differenzierungskategorien wie Geschlecht verfolgt und mit einer Sensibilität für Macht- und Ungleichheitsverhältnisse reflektiert und analysiert. Eine enge Theoriearchitektur oder eine primär gesellschaftskritische Ausrichtung erscheint dann mit Intersektionalität jedoch nur noch schwer vereinbar.

Literatur

Bührmann, Andrea D. (2009). Intersectionality ─ Ein Forschungsfeld auf dem Weg zum Paradigma? Tendenzen, Herausforderungen Und Perspektiven Der Forschung über Intersektionalität. In: Gender: Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und Gesellschaft. H. 2, S. 28─44.

Crenshaw, Kimberle. (1991). Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence against Women of Color. In: Stanford Law Review. Jg. 43, H. 6, S. 1241–1299.

Degele, Nina/Winker, Gabriele. (2009). Intersektionalität: Zur Analyse Sozialer Ungleichheiten. Bielefeld: transcript Verlag.

Hess, Sabine/Langreiter, Nikola/Timm, Elisabeth (Hg.). (2011). Intersektionalität Revisited: Empirische, Theoretische Und Methodische Erkundungen. Bielefeld: transcript Verlag.

Kallenberg, Vera/Meyer, Jennifer/Müller, Johanna M. (Hg.). (2013). Intersectionality und Kritik. Neue Perspektiven für alte Fragen. Wiesbaden: Springer VS.

Klinger, Cornelia. (2008). Überkreuzende Identitäten ─ Ineinandergreifende Strukturen. Plädoyer Für einen Kurswechsel in der Intersektionalitätsdebatte. In: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): ÜberKreuzungen: Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 38─67.

Knapp, Gudrun-Axeli. (2005). ‚Intersectionalityʻ ─ Ein neues Paradigma feministischer Theorie? Zur transatlantischen Reise von ‚Race, Class, Genderʻ. In: Feministische Studien. Jg. 23, H. 1, S. 68–81.

———. 2008a. ‚Intersectionalityʻ ─ Ein neues Paradigma der Geschlechterforschung? In: Rita Casale/Barbara Rendtorff (Hg.): Was Kommt Nach Der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung. Bielefeld: transcript Verlag, S. 33─53.

———. 2008b. Verhältnisbestimmungen: Geschlecht, Klasse, Ethnizität in gesellschaftstheoritischer Perspektive. In: Cornelia Klinger/Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): ÜberKreuzungen: Fremdheit, Ungleichheit, Differenz. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 138─170.

———. 2011. Von Herkünften, Suchbewegungen und Sackgassen: Ein Abschlusskommentar. In: Sabine Hess/Nikola Langreiter/Elisabeth Timm (Hg.): Intersektionalität Revisited: Empirische, theoretische und methodische Erkundungen. Bielefeld: transcript Verlag, S. 249─271.

———. 2013. Zur Bestimmung und Abgrenzung von „Intersektionalität“. Überlegungen zu Interferenzen von „Geschlecht“, „Klasse“ und anderen Kategorien sozialer Teilung. In: Erwägen Wissen Ethik. Jg. 24, H. 3, S. 341─354.

Lutz, Helma/Herrera Vivar, Maria Teresa/Supik, Linda (Hg.). (2010). Fokus Intersektionalität: Bewegungen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden: Springer VS.

Smykalla, Sandra/Vinz, Dagmar (Hg.). (2011). Intersektionalität zwischen Gender und Diversity: Theorien, Methoden und Politiken der Chancengleichheit. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Walgenbach, Katharina. (2012). Intersektionalität ─ Eine Einführung. http://portal-intersektionalitaet.de/uploads/media/Walgenbach-Einfuehrung.pdf (Download: 03.11.2014).

Heike Mauer

Lehrbeauftragte am Institut für Politikwissenschaft an den Universitäten Göttingen und Trier sowie bei GeStiK an der Universität zu Köln

Homepage: http://www.luxembourg.academia.edu/HeikeMauer

E-Mail: hmauer@uni-koeln.de

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