Die Konzeption ‚antiken Geschlechts‘ in bürgerlichen Publikationen und künstlerischen Arbeiten seit 1700

Rezension von Heinz-Jürgen Voß

Anna Heinze, Friederike Krippner (Hg.):

Das Geschlecht der Antike.

Zur Interdependenz von Antike- und Geschlechterkonstruktionen von 1700 bis zur Gegenwart.

Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2014.

347 Seiten, ISBN 978-3-7705-5558-1, € 44,90

Abstract: Der Sammelband bietet vielfältige und differenzierte Zugänge zur bürgerlichen Rezeption antiker Geschlechterentwürfe. Deutlich wird, wie ‚das Geschlecht‘ ‚der Antike‘ erst interessegeleitet von den Rezipient/-innen hergestellt wird. Der Band und seine Beiträge zur Antike-Rezeption sind sehr zu empfehlen, kritisch ist lediglich anzumerken, dass – mehr beiläufig – ein statisches Verständnis der Möglichkeiten von Frauen in den antiken Gesellschaften gezeichnet wird.

DOI: http://doi.org/10.14766/1134

Die Unternehmung, die Geschlechterverhältnisse in der Antike zu betrachten, beinhaltet gleich mehrere Tücken. So liegen etwa für die griechische Antike nur aus wenigen der Poleis – Stadtstaaten, die nicht unserem heutigen Staatenverständnis entsprechen – Angaben über das Geschlechterverhältnis vor. Das meiste Material existiert aus der athenischen Polis, weiteres aus Sparta und Gortyn. Aus den übrigen etwa 700 Poleis finden sich hingegen keine Aufzeichnungen zu Geschlecht.

Das Material, das erhalten geblieben ist bzw. durch Abschriften überliefert wurde, ist darüber hinaus kritisch zu befragen: Welche (schriftlichen) Arbeiten blieben aus welchen Gründen erhalten bzw. aus welchen Gründen wurden sie aktiv abgeschrieben? Welche anderen wurden nicht ‚kopiert‘, gingen verloren oder wurden vernichtet – und aus welchen Gründen? Welche unbeabsichtigten und beabsichtigten Veränderungen fanden bei der (wiederholten) Transkription statt? Wissenschaftliche Untersuchungen zu antiken Gesellschaften müssen somit stets kleinteilig erfolgen. Der konkrete geographische und zeitliche Kontext, mit konkreten gesellschaftlichen Ereignissen und Personen mit Biographien etc., ist gleichermaßen in der Analyse zu berücksichtigen.

Wie die zeitgenössischen Sichtweisen von Schriftsteller/-innen und Wissenschaftler/-innen, die zur Antike arbeiten, und ihre eigenen Interessen den Blick auf ‚die Antike‘ prägen, stellen für den Zeitraum ab dem beginnenden 18. Jahrhundert die Autor/-innen des Bandes Das Geschlecht der Antike dar. Dem Band „liegt die von Diskursanalyse und Konstruktivismus verbreitete Einsicht zugrunde, dass Vergangenheiten nie stabile Entitäten sind und also auch die Antike kein ‚Arsenal fragloser Faktizitäten‘ darstellt, sondern dass sie vielmehr erst im Prozess und im Effekt ihrer Transformation hervorgebracht und immer wieder neu gebildet wird.“ (S. 10) Es gehe in den Beiträgen des Bandes damit um „den Aspekt der gesellschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen (Re-)Konstruktion der Antike“ (ebd.).

Der Sammelband schließt an die im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“ entwickelten methodisch-inhaltlichen Neuorientierungen an. Er beinhaltet 15 Beiträge von Wissenschaftler/-innen unterschiedlicher Disziplinen, unter anderem Germanistik, Philologie, Religionswissenschaft und Altertumswissenschaft.

Überblick über den Band

Nach der Einleitung, die den Band in den wissenschaftlichen Kontext einordnet und die einzelnen Beiträge knapp zusammenfügt, eröffnet Thomas Späth die inhaltlichen Beiträge und gibt der Leser/-in eine weitere Orientierung, wie der Sammelband zu lesen ist. Mit Blick auf die römische Antike wendet er sich einigen Möglichkeiten zu, Geschlecht in der Antike zu thematisieren. Er schlägt vor, dass solch eine Untersuchung im Sinne einer Performanz zu verstehen sei, dass es also abseits von starren und binären Geschlechterkonstruktionen darum gehen müsse, die konkreten Handlungsoptionen und Handlungen von Protagonist/-innen in Texten einzuordnen und zu bewerten. Er betrachtet hierfür den Text der Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus und schlägt vor, auch eine ‚intersektionale‘ Perspektive einzunehmen, um den unterschiedlichen Rechtsstatus der Menschen (Bürger, Freie/-r, Freigelassene/-r, Sklav/-in) und ihre verschiedenen Handlungsoptionen in der Analyse zu berücksichtigen. Dafür gelte es, Intersektionalität an den Untersuchungskontext angepasst zu verstehen, also nicht einfach (anachronistisch) die moderne „Triade von ‚Rasse, Klasse, Geschlecht‘“ (S. 23) zu übertragen, sondern Machtverhältnisse im weiteren Sinn zu reflektieren.

Während Späth am antiken Text bleibt und den Konstruktionsprozessen bezüglich Geschlecht beim heutigen Lesen nachgeht, wenden sich die folgenden Beiträge der Rezeption antiker Texte in Publikationen seit 1700 zu. Deutlich wird damit insbesondere, wie antike Texte in der bürgerlichen Gesellschaft eingeordnet wurden – aus unterschiedlichen Interessen. Daniel Wendt stellt etwa heraus, dass „besonders obszöne Autoren wie Martial, Catull, Aristophanes und Petron“ (S. 189; vgl. eine ähnliche Einordnung auch von Katja Lubitz, S. 45) im Laufe des 17. Jahrhunderts aus dem literarischen Kanon herausfielen. Zuvor scheinen die Texte hingegen nicht als (so) anstößig verstanden worden zu sein, dass sie zu einem bestimmten Zeitpunkt etwa vernichtet worden wären. Die bürgerlichen Autor/-innen führten hingegen Arbeiten der griechischen (athenischen) Antike als Beispiel einer wünschenswerten, gegenüber Frauen restriktiven Geschlechterordnung aus, mussten aber partiell auch ‚obszöne‘ Handlungen oder ‚rasende Frauen‘ (vgl. den Beitrag von Oliver Leege) in ihre Sicht einfügen. Es zeigen sich unter anderem Selbsterhöhungen der eigenen Position der zeitgenössischen bürgerlichen Schreibenden, etwa wenn Jane Ellen Harrison den Dionysos-Kult instrumentalisiert, um „in Griechenland den religionshistorischen Übergang vom ‚primitiven‘ magischen Glauben zum Stadium einer ästhetisch überhöhten geistigen Religion [zu beschreiben], die ihrerseits wesentliche Strukturmerkmale des Christentums vorweggenommen habe.“ (S. 63, Oliver Leege) Die entsprechenden zeitgenössischen Debatten mit Bezügen zur Antike kreisen also, wie die Beiträge des Bandes vielfältig zeigen, um die Frage der Emanzipation der Frauen – in der Querelle des femmes – und um die Feststellung eigener Zivilisiertheit gegenüber dem konstruierten ‚unzivilisierten Anderen‘.

Schließlich geht Marcus Becker in seinem Beitrag darauf ein, welche Rolle der Antike in der Konstitution von ‚Homosexualität‘, ‚Heterosexualität‘ und ‚Bisexualität‘ zukommt. Die in den 1860er Jahren aufgekommenen Begriffe und die sich seitdem etablierende identitäre Sicht sei in publizistischen und künstlerischen Beiträgen des 19. und 20. Jahrhunderts auch auf antike Füße gestellt wurden. „Mit dem Argument, ‚in der Antike gab es das auch schon‘, leistete ein solchermaßen in Dienst genommenes Altertum einen eminenten Beitrag zur Essentialisierung homosexueller Identität.“ (S. 299)

Einordnung des Bandes und Fazit

Mit Blick auf die Rezeption ‚der Antike‘ in bürgerlichen Texten seit 1700 und auch in Arbeiten des 20. Jahrhunderts sind die Beiträge sehr reflektiert und differenziert. Sie ermöglichen eine vielschichtige Perspektive und stärken die Sensibilität dafür, wie ‚Wissen‘ interessegeleitet durch die rückblickende Rezeption entsteht. In den Beiträgen wird auch deutlich, dass die Rezeption wiederholt auf Schwierigkeiten trifft, wenn sie eine restriktiv beschränkte Position der Frauen in ‚der Antike‘ postulieren möchte, die zeitgenössischen Rezipient/-innen aber gleichzeitig auf Widersprüche stoßen.

Etwas bedauerlich ist es deshalb, wenn wiederholt von Autor/-innen des Sammelbandes selbst beiläufig die Annahme vorausgesetzt wird, dass in der Antike (der griechischen, athenischen, römischen) eine äußerst restriktive Situation gegenüber den Frauen bestanden habe. So erscheint es etwa in einem entsprechenden Hinweis im Beitrag von Katja Lubitz als feststehende Tatsache, dass sich der Wirkungskreis der athenischen Frauen „im wirklichen Leben vor allem auf den häuslichen Bereich beschränkte“ (S. 43), und beschreibt auch Oliver Leege, dass sich in der griechischen Gesellschaft „das Leben der Frauen […] weitgehend innerhalb der Grenzen des eigenen Haushaltes abspielte“ (S. 57). Die im Band von Thomas Späth angeregten Differenzierungen nach der ‚sozioökonomischen‘ Stellung in den zeitlich klar zu fassenden antiken Gesellschaften, bei Blick auf die konkreten Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen Frauen, gerät so in verschiedenen Beiträgen des Bandes aus dem Blick. Es sollte entsprechend ergänzende Literatur hinzugezogen werden, die sich mit der gesellschaftlichen Stellung von Frauen (unterschiedlicher Schicht) und ihren Handlungsmöglichkeiten in den antiken Gesellschaften auseinandersetzt (vgl. etwa: Hartmann 2007, 2002, Hartmann/Hartmann/Pietzner 2007).

Schließlich sollte auch die begriffliche Schärfe, wie sie im Band bezüglich ‚Weiblichkeit(en)‘ und etwa ‚Homosexualität‘ für die wissenschaftliche Debatte um die Antike angeregt und deutlich wird, auch für andere heute inhaltlich ‚stark aufgeladene‘ Begriffe umgesetzt werden, so für „Reproduktion der Bevölkerung“, „Staat“, „Natur“, „Fortpflanzung“. Was wird darunter zu welchem Zeitabschnitt und an welchem Ort der Antike verstanden und wie unterscheiden sich die Definitionen von den heutigen? Sind die Begriffe überhaupt für die Auseinandersetzung mit antiken Quellen hilfreich, weil sie bei heutigen Lesenden starke ‚moderne‘ Assoziationen aufrufen? Und wie lässt sich durch aktuell Forschende die begriffliche Schärfe schließlich auch für die Definitionen von ‚Frau‘, ‚Mann‘ umsetzen, damit nicht der Eindruck der Übertragbarkeit der heutigen (westlichen) Kategorien (mit bestimmten Anforderungen) auf andere historische Zeiträume entsteht?

Literatur

Hartmann, Elke. (2007). Frauen in der Antike: Weibliche Lebenswelten von Sappho bis Theodora. München: C.H. Beck.

Hartmann, Elke. (2002). Heirat, Hetärentum und Konkubinat im klassischen Athen. Frankfurt am Main u. a.: Campus.

Hartmann, Elke/Hartmann, Udo/Pietzner, Katrin (Hg.). (2007). Geschlechterdefinitionen und Geschlechtergrenzen in der Antike. Stuttgart: Franz Steiner.

Heinz-Jürgen Voß

Hochschule Merseburg

Prof. Dr. phil., Dipl. Biol., seit Mai 2014 Forschungsprofessur „Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung“, forscht und publiziert zu sexualwissenschaftlichen Themen sowie zu Biologie- und Medizingeschichte und -ethik

Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de

E-Mail: voss_heinz@yahoo.de

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