Reflexion der Praxis – Intervention der Theorie

Rezension von Martina Rauter

Mart Busche, Laura Maikowski, Ines Pohlkamp, Ellen Wesemüller (Hg.):

Feministische Mädchenarbeit weiterdenken.

Zur Aktualität einer bildungspolitischen Praxis.

Bielefeld: transcript Verlag 2010.

327 Seiten, ISBN 978-3-8376-1383-4, € 29,80

Abstract: Den gemeinsamen Ort für die Verhandlung von durchaus widersprüchlichen Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung bildet die feministische Mädchenarbeit in einer unabhängigen Bildungseinrichtung. Die Autor/-innen begegnen wiederkehrender Kritik mit gezielter Wachsamkeit für bestehende Benachteiligungsstrukturen. Das Argumentationsrepertoire findet in dekonstruktiven, queer-feministischen und intersektionalen Theorien wirksame Erweiterungen. Die Aneignung dieser kritischen Stimmen erlaubt die Aktualisierung des Wertes der feministischen Mädchenarbeit für eine bildungspolitische Praxis.

„Wir wollen mit dem Buch einen zur Diskussion anregenden Beitrag für eine queere, intersektionale, feministische und kritische Mädchenarbeit leisten.“ (S. 12, Hervorh. i. O.) Wir – das sind Mädchen- und Jungenarbeiter/-innen der unabhängigen Heimvolkshochschule Alte Molkerei Frille. Über nationale Grenzen hinweg gingen von dieser Einrichtung für politische Bildung in Ostwestfalen – bis sie mit Beginn des Jahres 2012 ihre Arbeit einstellen musste – immer wieder neue Impulse für eine Theorie und Praxis der geschlechterbezogenen Jugendarbeit aus. Die Praxis wird damit zum Ausgangspunkt. Die Autor/-innen verfolgen den Anspruch, im vorliegenden Buch die theoretische Reflexion derselben zu leisten und so Theorie und Praxis zusammen zu denken. Die Stärke – aus der Praxis zu kommen und damit Erfahrungen für die Analyse zur Verfügung zu stellen, Bezüge zu ermöglichen und Nachvollziehbarkeit für die eigene Argumentation herzustellen – wird allerdings nicht von allen gleichermaßen großzügig genutzt.

Gemeinsam ist den Beiträgen ihre Unterschiedlichkeit – womit in ihnen formal eingelöst wird, was inhaltlich Gegenstand der Auseinandersetzung ist: das viel diskutierte Spannungsfeld von Gleichheit und Differenz. So lässt sich Heterogenität an der Auswahl der Themen ebenso zeigen wie an gebrauchten Begriffen, theoretischen Zugängen und gewählten Textsorten. Es ergänzen sich Interviews mit Expert/-innen, Konzepte für Bildungsangebote, Handlungsempfehlungen, Erfahrungsberichte, ein politisches Manifest und wissenschaftliche Aufsätze. Wie gelungene Collagen fügen sich die Texte aus theoretischen Ausführungen, autobiographischen, essayistischen und erzählerischen Elementen zusammen.

Den gemeinsamen Ort für die Verhandlung von durchaus widersprüchlichen Positionen der Frauen- und Geschlechterforschung bildet die feministische Mädchenarbeit. Die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher theoretischer Perspektiven wird dabei einerseits als Normalfall dieser bildungspolitischen Praxis angenommen. Andererseits fordern die Autor/-innen eine Ergänzung der eigenen historisch in differenz- und gleichheitsfeministischen Ansätzen wurzelnden Konzepte. Zur Legitimation der Mädchenarbeit wird wiederkehrenden Angriffen (z. B. Debatten um ‚arme Jungs‘, Etablierung von Gender Mainstreaming statt Frauenförderung) durchgängig mit der These begegnet, dass Mädchen „zwar formal gleichgestellt, aber faktisch strukturell benachteiligt“ (S. 8) sind. Damit einher geht die Kritik an bestehenden Geschlechterhierarchien und einem Gesellschaftsmodell, das „permanent Gleichheit verspricht und permanent Ungleichheit schafft“. (ebd.)

Ceci n’est pas une fille

Der Einbezug dekonstruktiver Pädagogik und queer-feministischer Perspektiven konfrontiert die Mädchenarbeit fortwährend mit einem Gender-Paradox. So führt Michael Drogand-Strud aus: „Wenn wir Geschlecht betonen, rücken wir es ganz klar in den Vordergrund. Wir arbeiten dabei oft mit Setzungen, gerade auch in der konkreten Seminararbeit, wo wir von vornhinein Mädchen- und Jungengruppen bilden. Diese Setzungen holen uns dann andererseits immer wieder ein.“ (S. 291) Wie kann es gelingen, Kritik am heteronormativen System der Zweigeschlechtlichkeit zu üben, in dem Geschlecht als fragil und instabil rekonstruiert wird, und es gleichzeitig nicht als politische Kategorie für die Verwendung im Sinne eines strategischen Essentialismus zu verlieren?

Möglichkeiten einer heteronormativitätskritischen „Mädchen_arbeit“ loten Ines Pohlkamp und Regina Rauw aus. Sie konzipieren diese als Praxis, die Normalitäten hinterfragt und immer auch die Diskussion um Macht sowie die Selbstreflexion der eigenen Position bzw. sexuellen Orientierung umfasst. Schließlich kündigen sie Lust und Beunruhigung beim gemeinsamen Hinterfragen der Normalität an und fordern zu „Gelassenheit gegenüber vielfältigen Geschlechterkonzepten“ (S. 33) auf. Inhaltlich anschließend zeigt Pohlkamp am Beispiel der „Friller Mädchen_arbeit“, wie diese Transgender als das Andere konstruiert. Sie beschreibt Strategien, die in der pädagogisch-politischen Praxis Anwendung finden, um ein Mehr und Dazwischen der Geschlechter auszuschließen. „TransRäume“ als offene Geschlechterräume in der „Mädchen_arbeit“ sieht die Autorin als Orte, an denen das eigene Mädchen- und Frausein in Frage gestellt und die Kategorie Geschlecht überschritten werden kann.

Mehrfach privilegiert und mehrfach benachteiligt

Die Aufnahme intersektionaler Zugänge in die geschlechtsbezogene Bildungsarbeit öffnet den Blick für die vielfachen Zugehörigkeiten und sozialen Verortungen von Menschen. Die Ent-Dramatisierung des Geschlechts erhöht die Sichtbarkeit anderer Kategorien (Ethnie, Klasse, Hautfarbe, Alter etc.) und ihrer Interdependenzen. Gleichzeitig thematisieren die Autor/-innen, vor allem im Vergleich zu ihren Zielgruppen, eigene Privilegierungen, die sich entlang der Achsen von Ungleichheit ergeben. In den Beiträgen wird in unterschiedlicher Länge auf ausgewählte Kategorien und Merkmale eingegangen – wobei Schwerpunktsetzungen, vermutlich auf Grund aktueller Herausforderungen der professionellen Alltagspraxis, auszumachen sind. Diskutiert wird, warum gerade diese Kategorien zu diesem Zeitpunkt verstärkt verhandelt werden (sollen), nicht thematisiert wird, warum manchen im Rahmen des Sammelbandes kein Diskussionsraum eröffnet wird.

Ellen Wesemüller argumentiert für die Einführung einer klassenreflektierenden Mädchenarbeit. Die Herrschaftskategorie Klasse, so Wesemüller, wird in der Mädchenarbeit zumindest konzeptuell ausgeblendet, obwohl sich die realen Klassengegensätze in der ökonomischen Realität verschärfen. Ines Pohlkamp und Malgorzata Soluch machen sich auf die Suche nach Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe für sozial benachteiligte Mädchen. Dabei betonen sie den strukturellen Ausschluss der Mädchen und die Vernachlässigung ihrer Einzigartigkeit, wodurch diese insbesondere in ihren Ressourcen nicht wahr und ernst genommen werden.

Fidan Yiligin beschreibt den Entwicklungs- und Experimentierprozess, der mit der Entscheidung der Alten Molkerei Frille einherging, „das weiß-deutsche Bildungshaus für People of Color zu öffnen und die Mädchenarbeit unter diesem Aspekt weiterzuentwickeln“. (S. 107 f., Hervorh. i. O.) Sie plädiert für die Arbeit in transkulturellen Teams und für Empowermenträume, welche die Thematisierung von Diskriminierungserfahrungen ermöglichen. Rassismuskritische Mädchenarbeit in Frille wird in zwei weiteren Beiträgen aus unterschiedlichen Blickwinkeln gezeigt. Während Yiligin das Konzept anhand eines Peer-Education-Projekts veranschaulicht, thematisieren Jennifer Vogt und Svenja Reimann die rassismuskritische Arbeit aus weiß-deutscher Perspektive. Ihr Erfahrungshorizont entspricht gerade in Bezug auf erlebten Rassismus nicht jenem der am Seminar teilnehmenden Mädchen. Die Autorinnen werfen die Frage auf, wie weiße Deutsche ihrer Verantwortung in rassistischen Verhältnissen pädagogisch und politisch nachkommen können.

Im Interview von Laura Maikowski mit Sabine Pacalon reflektieren diese ein Modellprojekt, in dessen Rahmen ein Konzept für außerschulische geschlechtssensible Bildungsarbeit für „Taube“ Jugendliche entwickelt und erprobt wurde. Nur in diesem Beitrag wird die Interdependenz von Andersbefähigung und Geschlecht diskutiert – eine Leerstelle, welche die Theorie und Praxis der feministischen Mädchenarbeit zur verstärkten Auseinandersetzung mit den Disability Studies aufruft.

Ohne geht es nicht: Jungenarbeit und reflexive Koedukation

Mädchenarbeit wird im vorliegenden Band als ein Teil geschlechtsbezogener Pädagogik konzipiert. Sie wird ergänzt durch Jungenarbeit, reflexive Koedukation und, je nach Beitrag, das Konzept des Crosswork. Alle Autor/-innen teilen das Anliegen, die Kooperation zwischen Jungen- und Mädchenarbeit bzw. Jungen- und Mädchenarbeiter/-innen auszubauen, mit dem gemeinsamen Ziel, mehr Handlungsspielräume für alle Geschlechter zu erreichen.

Mart Busche und Laura Maikowski zeichnen in einem Beitrag zur reflexiven Koedukation die Diskussion nach, die geschlechtshomogene Gruppen als notwendige Voraussetzung für gelungene Mädchenarbeit in Frage stellt. Sie überlegen, wie koedukative Räume aussehen müssen, um kontra-stereotypes Erleben in Bezug auf das Geschlecht zu fördern. In diesem Zusammenhang suchen sie nach der Balance zwischen (Über-)Betonung und De-Thematisierung von Geschlecht in koedukativen Settings. Busche macht in einem weiteren Aufsatz die Erfahrungen einer als weiblich wahrgenommenen „Teamer_in“ zugänglich, die von der Mädchen- zur Jungenarbeit wechselte, und plädiert für die Öffnung der Jungenarbeit für Nicht-Männer. Als Voraussetzungen dafür werden entsprechende Qualifizierung und die Reflexionsbereitschaft aller Beteiligten benannt. Michael Cremers und Mart Busche beleuchten die intersektionale Perspektive in der Jungenarbeit, beispielhaft auch an der Verschränkung der Ungleichheitskategorien Klasse und Geschlecht. Björn Nagel beschäftigt sich mit Bildern von Mädchen in der Jungenarbeit. Er vertritt die These, dass geschlechtsbezogene Pädagogik an den Verhältnissen der Geschlechter ansetzen muss und eine kritische Haltung erfordert, die sich permanent der Reproduktion von stereotypen Mädchen- und Jungenbildern widersetzt.

Für Mädchenarbeit streiten

In den letzten drei Beiträgen des Bandes schildern die Autor/-innen Rück- und Ausblicke. So berichten Regina Rauw und Michael Drogan-Strud über Erfahrungen aus mehr als zwanzig Jahren mit einer Weiterbildungsreihe für angehende Mädchen- und Jungenarbeiter/-innen. In einem intergenerationellen Gespräch kommen diese anschließend selbst zu Wort und diskutieren ihre pädagogische und politische Praxis in der Alten Molkerei Frille. Noch einmal beleuchten sie dabei zentrale Themen des Bandes und halten fest an Wertschätzung und Hartnäckigkeit. Die Sammlung schließt mit Mart Busches und Ellen Wesemüllers „Manifest für Mädchen_arbeit“, das sie selbst im Vergleich zu anderen politischen Streitschriften als anmaßend beschreiben. Vielmehr jedoch ist es notwendig.

Gerade die Arbeit im Dazwischen, wie hier von Praxis und Theorie, macht angreifbar für Kritik von beiden Seiten. Während die Praxis Utopien vermutet und die Anwendbarkeit bzw. den Nutzen von Geschriebenem in Frage stellt, orten rein wissenschaftstheoretische Zugänge schnell Mängel in Bezug auf die begriffliche und forschungsmethodische Exaktheit oder die Einordnung in eine bestehende Systematik. Dementsprechend ist der vorliegende Sammelband kein Praxishandbuch, mit dem sich engagiert ‚losarbeiten‘ lässt. Auch wer ein einheitliches Gesamtkonzept der neuen feministischen Mädchenarbeit unter dekonstruktiven, queer-feministischen und intersektionalen Vorzeichen erwartet, wird enttäuscht. Der Gewinn des Sammelbandes liegt vielmehr in der Bestandsaufnahme der Fragen und Problemfelder gegenwärtiger feministischer Mädchenarbeit im deutschsprachigen Raum. So ist es nur konsequent, dass alle Beiträge über eine zentrale Frage verbunden sind: Wie kann feministische Mädchenarbeit heute funktionieren? Auch wenn der Sammelband die Antwort schuldig bleibt, vermögen es die Autor/-innen ohne Zweifel – in der Auseinandersetzung mit und der Aneignung von kritischen Stimmen – den Wert der feministischen Mädchenarbeit für eine bildungspolitische Praxis zu aktualisieren, indem sie zeigen, warum diese unentbehrlich bleibt und in welche Richtungen sich das Weiterdenken lohnen könnte.

Martina Rauter, M.A.

Mädchenzentrum Klagenfurt

Projektmitarbeiterin in der feministischen Mädchenarbeit (Mädchenzentrum Klagenfurt); Lektorin (Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Bundesbildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, Pädagogische Hochschule Kärnten)

E-Mail: martina.rauter@me.com

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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