Geschlechtersegregiertes antikes Griechenland

Rezension von Kathrin Hönig

Tanja S. Scheer:

Griechische Geschlechtergeschichte.

München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag 2011.

180 Seiten, ISBN 978-3-486-59684-7, € 29,80

Abstract: Das Buch, Teilband einer Enzyklopädie, ist als praktisches Hilfsmittel konzipiert und enthält einen informativen Überblick über Geschlechterverhältnisse im antiken Griechenland sowie einen Einblick in die dazugehörigen Forschungskontroversen in der Alten Geschichte. Das Bild einer nach Geschlechtern streng segregierten Gesellschaft wird, auf der Grundlage revidierter Grundbegriffe der Geschichtsschreibung, teilweise relativiert.

In der Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike liegt mit Band 11 zur griechischen Geschlechtergeschichte der erste Teil des ursprünglich als „Antike Geschlechterverhältnisse“ angekündigten Handbuches vor; die römische Geschlechtergeschichte wird von derselben Autorin in Band 12 abgehandelt werden. Alle Bände der Reihe zeichnen sich durch eine dreiteilige Gliederung aus. Im ersten, dem Darstellungsteil, wird ein „enzyklopädischer Überblick“ über das jeweilige Thema gegeben, der zweite Teil befasst sich mit „Grundproblemen und Tendenzen der Forschung“, und der dritte enthält das nach Kapiteln geordnete Literaturverzeichnis. Die strikte Parallelität der Gliederung in den drei Teilen – die Kapitelüberschriften aus Teil I werden in den beiden anderen Teilen unverändert wieder aufgenommen – ermöglicht ein thematisch selektives Lesen. Interessiert man sich im vorliegenden Band beispielsweise für Sexualität, Ehe und Familie (Kapitel 4, Teil I), so findet man die Forschungskontroversen und die Literatur dazu jeweils im vierten Kapitel der Teile II und III. Auch die in der Randspalte aufgeführten Stichworte sind (weitgehend) parallel, was einen raschen Wechsel zwischen Darstellungs- und Forschungsteil erleichtert. Was dies betrifft, erfüllt die Reihe den Anspruch ihres Herausgebers Aloys Winterling, dem Publikum ein „praktisches Hilfsmittel“ (S. V) an die Hand zu geben. Allen Bänden der Enzyklopädie liegt zudem der methodische Ansatz „von der strukturgeschichtlichen Bedeutung städtischer Bürgerschaften für Gesellschaft und Kultur der klassischen griechisch-römischen Antike“ (ebd.) zugrunde. Die städtischen Bürgerschaften stehen entsprechend auch im Zentrum der von der Göttinger Althistorikerin Tanja Scheer verfassten griechischen Geschlechtergeschichte.

Unterschiedliche Lebensverläufe

Als Auftakt nimmt sich die Autorin Ulrich von Wilamowitz-Moellendorfs Behauptung aus dem Jahr 1893 vor, die einzige Frau, die für die griechische Geschichte eine Rolle gespielt habe, sei Athena gewesen. Diese Ansicht, dass „allein die Göttin Athena geschichtsfähige Vertreterin des weiblichen Geschlechts “ gewesen sei und dass „Geschichtsfähigkeit und Weiblichkeit“ einander offenbar ausschlössen (S. 1), wird die Autorin auf den folgenden Seiten im Darstellungsteil korrigieren, und sie wird im Forschungsteil auf so manche blinde Flecken der Geschichtsschreibung hinweisen. Insgesamt entsteht das Bild einer geschlechtermäßig streng segregierten Gesellschaft, wobei Sparta immer wieder die (schon für die alten Griechen exotische) Ausnahme bildet.

Von Geburt an werden in den griechischen Stadtstaaten, den poleis, Knaben und Mädchen unterschiedlich behandelt: „Bereits die Botschaft einer Geburt wurde geschlechtlich differenziert nach außen getragen. Für einen neugeborenen Knaben hängte man einen Olivenkranz, für eine Tochter eine Wollbinde an die Eingangstür des Hauses.“ (S. 14) Auch wenn das gesellschaftlich vorgegebene Lebensziel für beide Geschlechter das gleiche war, nämlich das „Eingehen einer gültigen Ehe und die Hervorbringung der richtigen Anzahl erbberechtigter Kinder, welche die Versorgung der Eltern, die Fortsetzung des Haushaltes und damit letztlich die Stabilität der Polis garantieren sollten“ (S. 15), so unterschieden sich doch die Wege zu diesem Ziel deutlich voneinander. Mädchen wuchsen streng kontrolliert und weitgehend abgeschirmt von außerfamiliärer Öffentlichkeit im Haus auf und wurden früh, d. h. mit Eintreten der Geschlechtsreife im Alter von 14 – 15 Jahren verheiratet. „Ideologisch begründen ließ sich das frühe Heiratsalter der Mädchen mit der angeblich mangelhaften weiblichen Selbstbeherrschung, die sich, so glaubte man, besonders deutlich im sexuellen Bereich zeigte.“ (S. 17) Knaben bewegten sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Hauses, erhielten je nach sozialem Stand und Vermögen eine Schulbildung und gingen im Pubertätsalter in der Regel eine Beziehung zu einem älteren Mann ein. Diesen „päderastischen Beziehungen sprach man ausgeprägte erzieherische Wirkung zu. Der Liebhaber ließ den Knaben nicht nur im Bereich der Sexualität am Erwachsenenleben teilhaben, sondern führte ihn ganz allgemein in die Welt der Erwachsenen ein“ (S. 16). Erst im Alter von ca. 30 Jahren heiratete ein griechischer Mann. Zusammenfassend charakterisiert Scheer Erziehung in der Antike als „Einübung des geschlechtsspezifischen Habitus, welcher nach sozialer Stellung differieren konnte“ (S. 13).

Diese hier nur für Erziehung und Ehe beschriebenen unterschiedlichen Lebensverläufe der Geschlechter ziehen sich durch praktisch alle lebensweltlichen Bereiche, vom Haushalt mit seiner geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung über den sportlichen zum militärischen Bereich bis in den politischen Raum. Auch in den für Frauen und Männer unterschiedlichen Tugenderwartungen, im medizinischen, im mythischen oder philosophischen Diskurs wird die Geschlechterdifferenz stets deutlich ausgedrückt.

Weggesperrte Athenerinnen?

Dieses scheinbar klare Bild einer geschlechtlich segregierten und hierarchischen Gesellschaft relativiert Scheer jedoch an einigen Stellen. So etwa anlässlich der von der historischen Zunft diskutierten Frage, ob die Athenerinnen tatsächlich ihr Leben lang im Haus verbracht hätten und dort teilweise sogar im Frauengemach, der gynaikonitis, eingesperrt gewesen seien. Gemäß Scheer hat dieses Bild „in der Praxis […] keinen Bestand. Die jugendlichen Töchter eines athenischen Bürgerhaushaltes waren vermutlich in ihrer räumlichen Selbstbestimmung tatsächlich eingeschränkt. In kleinbäuerlichen Verhältnissen – und in solchen lebte die Mehrheit nicht nur der athenischen Polisbürger – konnte es sich ein Oikos jedoch schlicht nicht leisten, die Arbeitskraft der weiblichen Mitglieder aus ideologischen Gründen auf das Haus zu beschränken. Attische Bäuerinnen arbeiteten zumindest zeitweise sicherlich ‚draußen‘ mit“ (S. 36). Auch für den Bereich des Religiösen sieht die Autorin „die übliche Rollenverteilung zumindest aufgebrochen“ (S. 48). Frauen und Männer hätten an den öffentlichen Kulten und Polisfesten gemeinsam teilgenommen; diese Anlässe hätten Mädchen und Frauen die Möglichkeit eines „öffentlichen Auftritts“ (ebd.) geboten. In Priesterinnen und Prophetinnen schließlich, die sie als „Beamtinnen der Polis“ versteht, sieht Scheer den „Sprengsatz für traditionelle Vorstellungen vom politischen Geschlechterverhältnis in Griechenland“ (S. 52); diese leiteten sich von dem gut bezeugten „formalen Ausschluss der Frauen aus den politischen Institutionen“ (S. 49) her. Für ein verändertes Verständnis des politischen Geschlechterverhältnisses bedürfe es freilich vor allem eines veränderten Verständnisses des Politischen, von dem das Kultische nicht mehr abgegrenzt werde. Damit einher ginge eine „Neudefinition des öffentlichen Raumes, verstanden als Bühne für Aktivitäten, welche weit über die Teilnahme am engen Feld formaler Teilhabe an politischen Institutionen hinausreichen“ (S. 53). Aus einer solchen Perspektive, so Scheer, werde „Grundsätzliches im Verständnis antiker Geschlechterverhältnisse“ (ebd.) revidiert.

Kategorie Geschlecht in der alten Geschichte – Probleme der Geschichtsschreibung

Von der Ansicht der Nicht-Geschichtsfähigkeit der Frauen bei Wilamowitz-Moellendorf bis zu einer griechischen Geschlechtergeschichte auf der Grundlage eines erweiterten Politikbegriffes ist es forschungsgeschichtlich ein weiter Weg. Dies zeigt der umfangreiche Teil II des Buches. Es wird deutlich, wie abhängig die historische Forschung von akzeptierten Paradigmen (z. B. Ereignisgeschichte versus Strukturgeschichte), etablierten Forschungsfeldern (z. B. Politik-, Verfassungs- und Rechtsgeschichte) oder Begriffsverständnissen ist, die den Blick jeweils einengen, aber auf spezifische Weise auch freigeben. Auf nur wenigen Seiten zeichnet Scheer zu Beginn die wissenschaftshistorische Entwicklung, die die Einführung der Kategorie Geschlecht auch in der Geschichtswissenschaft ermöglicht hatte, knapp, aber verständlich nach. Danach folgt die Diskussion der im Darstellungsteil abgehandelten Themen. Dabei erbringt die Autorin bei der neutralen Darstellung der Forschungskontroversen eine gewaltige Syntheseleistung.

Etwas unterbelichtet bleibt dabei m. E. das Quellenproblem. Es ist eines der zentralen Probleme für die (nicht nur eine Geschlechtergeschichte betreffende) Geschichtsschreibung der Antike. Zum einen stammen die meisten der überlieferten Texte von Männern, zum anderen sind jene sehr disparat, sowohl in Bezug auf die Textsorte als auch in Bezug auf Vollständigkeit. Es ist schade, dass dem Quellenproblem kein eigenes Kapitel gewidmet wurde oder es nicht wenigstens ausführlicher behandelt wurde. Schließlich dürfte es historisch interessierten Laien oder interdisziplinär interessierten Wissenschaftler/-innen benachbarter Fächer, an die sich die Reihe u. a. ausdrücklich richtet (S. V), nicht unbedingt klar sein, welche unterschiedlichen Arten von Quellen von Althistoriker/-innen genutzt werden (von Vasenbildern über Grabinschriften, philosophischen oder medizinischen Traktaten, Gerichtsreden bis hin zu Gedichten, Komödientexten u. a.) und welche Schwierigkeiten sich bei ihrer Interpretation und Bewertung ergeben. Immerhin verweist Scheer auf die methodische Anforderung, „in den überwiegend von männlichen Autoren verfassten Quellen einen eigenen weiblichen Blick aufzufinden sowie das Schweigen über bestimmte Themen als Aussage zu werten“ (S. 59).

Damit in Zusammenhang steht auch die in der Alten Geschichte diskutierte Frage, „ob Geschlechterforschung zur antiken Welt sich auf die Diskurse konzentrieren und auf die Rekonstruktion sozialhistorischer Realitäten von vorneherein verzichten sollte oder ob nicht doch Fragen nach der Lebenswelt möglich, berechtigt und auch beantwortbar sein können“ (ebd.). Die Diskussion darüber, so Scheer, sei noch im Gange. Es ist nicht klar, wo sich die Autorin in dieser Debatte positioniert. Doch scheint im Darstellungsteil eine leichte Tendenz zum Diskursiven erkennbar. Vielleicht ist das auch der Grund, warum der ansonsten informative Text ein merkwürdig blasses Bild von der antiken Lebenswelt vermittelt. Sie wird nicht wirklich plastisch, und nur selten hat man den Eindruck, es gehe um konkrete Menschen aus Fleisch und Blut. Hingegen wird sehr deutlich, dass weder die griechische Frau als Frau noch der griechische Mann als Mann geboren wurden, sondern, um es mit Simone de Beauvoir zu sagen, dass sie dazu gemacht wurden. Die Mechanismen dieser ‚Abrichtung‘ sowie die dabei vermittelten Modelle von Weiblichkeit und Männlichkeit werden von Tanja Scheer klar herausgearbeitet.

Fazit

Der Band ist eine Enzyklopädie im Wortsinne: Knapp, aber umfassend und systematisch orientiert Teil I über griechische Geschlechterverhältnisse (wobei die Realität von Sklaven/-innen und Metöken leider sehr zu kurz kommt, was jedoch an den Quellen liegen mag). Die Teile II und III dürften vor allem für Studierende interessant und nützlich sein. Wer hingegen ‚näher ran‘ möchte an die antike Lebenswelt, wird nicht umhin kommen, Originaltexte zu lesen und sich notabene auch der damit verbundenen Fremdheitserfahrung auszusetzen.

URN urn:nbn:de:0114-qn:1031:4

Dr. Kathrin Hönig

Universität St. Gallen

Lehrbeauftragte für Philosophie

E-Mail: kathrin.hoenig@unisg.ch

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