Neue feministische Perspektiven auf ‚Natur‘ und ‚Materie‘

Rezension von Heinz-Jürgen Voß

Elvira Scheich, Karen Wagels (Hg.):

Körper Raum Transformation.

Gender-Dimensionen von Natur und Materie.

Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2011.

258 Seiten, ISBN 978-3-89691-232-9, € 27,90

Abstract: Öko-feministische Perspektiven wurden häufig als ‚essentialistisch‘ gekennzeichnet, und auch heute grenzt man sich gern mit diesem Vorwurf gegen sie ab. Der aktuelle Band Körper Raum Transformation. Gender-Dimensionen von Natur und Materie macht dagegen deutlich, wie brauchbar Perspektiven mit öko-feministischem Ausgangspunkt für aktuelle feministische und dekonstruktivistische Praxen und wissenschaftliche Analysen sein können. Für den Band gilt generell, dass an queere und postkoloniale Perspektiven und solche der ‚Krüppelbewegung‘ angeschlossen wird.

Den Herausgeberinnen Elvira Scheich und Karen Wagels ist mit dem Band Körper – Raum – Transformation und der Auswahl der dort versammelten Beiträge eine Bestandsaufnahme und Aktualisierung feministischer Positionen geglückt, die sich mit ‚Natur‘ und mit ‚Materie‘ – im herkömmlichen Sinne der Begriffe – befassen. Sie schließen an die aktuellen feministischen Positionen an, die durch dekonstruktivistische und queer-feministische Auseinandersetzungen Erweiterung erfahren haben und die auch aus postkolonialer Perspektive und Sicht der ‚Krüppelbewegung‘ herausgefordert wurden. So bildet Donna Haraway mit ihrem Cyborg-Ansatz, Jasbir Puar mit ihrem Konzept der ‚Assemblagen‘ den aktuellen Hintergrund, vor dem die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit ‚Körpern‘ und ihrer Veränderlichkeit sowie der Verbindung von ‚Natur‘ und ‚Kultur‘ zu untrennbaren Hybriden in den Blick genommen werden kann. Erscheint es in marxistischen Betrachtungen bereits seit vielen Jahren als klar, dass Natur- und Menschheitsgeschichte unlösbar miteinander verwoben sind, so ist es ebenso augenscheinlich, dass vor dem Hintergrund staatlich angeregter vermehrter Organtransplantationen und besserer medizinischer Prothesen, die die Funktion von immer mehr Körperteilen recht brauchbar ersetzen können, die Auseinandersetzung mit ‚Hybrid-Körpern‘ erforderlich ist. Ebenso notwendig erscheint ein Blick auf die gesellschaftlichen Antworten, die aktuell gefunden werden – und ist es wichtig, sie als patriarchal und herrschaftlich zu demaskieren: War auf der geplanten V2-Rakete der Nazis als Emblem ‚die Frau im Mond‘ dargestellt, wodurch die Verbindung von Männlichkeit und bestimmten gesellschaftlichen Antworten besonders sichtbar wird, so wird mit den aktuellen Phantasien eines ‚Krieges ohne Opfer‘ – wobei lediglich gemeint ist, dass die Angreifenden auf Knöpfe drücken und damit selbst nicht direkt in Gefahr geraten, während aber selbstverständlich auf viele Tote auf der Gegenseite abgezielt wird – und den bereits im Einsatz befindlichen neueren Mikrowellen-Waffen und der Uran-Munition deutlich, dass andere Antworten notwendig sind, als bislang gesucht werden.

Kritik an patriarchalen gesellschaftlichen Antworten

Die Notwendigkeit anderer Antworten machen die Herausgeberinnen in der Einleitung plastisch deutlich: „Feministische Positionen sind deshalb ebenso skeptisch gegenüber einer Repräsentation der Erde als blue marble, jenem Foto des Planeten, das die Astronauten von Apollo 17 im Jahr 1972 aufnahmen […]. Die ‚globale Sicht‘ aus einer Entfernung von 45.000 km drückt die Haltung eines distanzierten Beobachters aus und ist kaum geeignet, die konkrete Unmittelbarkeit von Umweltfragen zu erfassen.“ (S. 15 f.) Hingegen bündelt sich gerade in diesem distanzierten Verhältnis der Kern der bisherigen Perspektiven auf gesellschaftliche Probleme: Wissenschaftler (und schließlich wenige Wissenschaftlerinnen), aus gut situierten Schichten, erblicken durch ein Mikroskop oder ein Teleskop die Welt; Militärs, die neue Erfindungen nutzen, blicken eben durch ein Visier (bzw. auf die Bildübertragung einer militärischen Drohne) und feuern distanziert auf jene Menschen, die sie nicht einmal mehr sehen oder schreien hören können – ein ‚sauberer Krieg‘.

Diese militärische Dimension greift Heike Raab in ihrem umfassenden Beitrag aus den Disability-Studies „Riskante Körper – von Monstern, Freaks, Prothesenkörpern und Cyborgs“ auf. Mit Blick auf die Entwicklung von Prothesen, die auf eine gewisse Normalisierung ‚riskanter Körper‘ abzielten, kommt sie auch auf den Ausgangspunkt dafür, diese Ergänzungen für menschliche Körperteile zu entwickeln: „Insofern markiert die Modernisierung der Prothetik im Ersten Weltkrieg nicht nur die Geburt der Rehabilitation, womit die Wiederherstellung einer verletzten funktionsfähigen Integrität des Körpers gemeint ist, vielmehr erweist sich die Prothese auch als Emblem für die Mechanisierung des Menschen. Meines Erachtens entsteht im Zuge dieser Wandlungsprozesse ein spezifisches Modell des riskanten Körpers, da […] neue Körpernormen durch den invaliden Soldatenkörper geschaffen werden, die als Körpermaschinen nahtlos in den industriellen Kapitalismus eingepasst werden sollen“ und in denen Männlichkeit „neu verhandelt wird.“ (S. 96)

Veränderungen durch technische Entwicklungen reflektieren – und den konkreten Menschen im Blick behalten

Bereits an dieser Stelle wird der Ertrag des Bandes für ein neues Nachdenken ersichtlich. Von den Autorinnen werden je auf unterschiedliche Weise und mit einem verschiedenen thematischen Fokus die neuen feministischen, queeren, postkolonialen und disability-Konzepte eingebracht. Das gemeinsame Anliegen der Autor/-innen bündelt sich in Fragen nach dem konkreten Menschen und in Überlegungen, wie durch technische Neuerungen ein anderer Blick erzeugt wird, bzw. das Gewicht zwischen verschiedenen Menschen und ihrer Würde verschoben wird – eben beim Blick durch das Visier: Der Mensch dahinter ist geschützter denn je, der davor unvergleichbaren Waffen ausgeliefert. Und das macht etwas mit Menschen: Was bewegt Menschen, sich terroristisch zu betätigen, und wie verschränken sich bei ihnen Identitäten, wie Jasbir Puar fragte (S. 23).

Und wie werden Embryonen, die wir auf Ultraschallbildern erblicken, erst durch das Bildgebungsverfahren gut plastisch sichtbar, so dass Debatten, sie seien eine Person und müssten besonders geschützt werden, mit besonderer Intensität diskutiert und sogar gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau auf ihren Körper gewendet werden können? Eva Sänger verdeutlicht in ihrem vielfältig reflektierten Beitrag „Sonograms that matter: Zur Sichtbarmachung des Fötus in der Schwangerschaft“, im Anschluss an die Betrachtungen Barbara Dudens und Judith Butlers, wie der Embryo durch die Verbildlichung und den Sichtbarmachungsprozess erst hervorgebracht wird. Durch die Bildlichkeit kann überhaupt erst eine gewisse Art der Nähe und der Beschreibung des Embryos als vermeintliche ‚Person‘ greifen. Sänger macht klar: „Allerdings gilt gerade für wissenschaftliche Bilder, dass sie keine Abbilder eines unsichtbaren Phänomens sind. Referentialität, also die Beziehung zwischen einem Bild und einem externen Referenten, wird im Herstellungsprozess des Bildes auf der Grundlage von Berechnungen und Messungen erzeugt. Wissenschaftliche und medizinische Bilder sind Ergebnisse von Bildverfahren, die auf der Verarbeitung von Daten durch mathematische Algorithmen beruhen. […] Die Paradoxie wissenschaftlicher Bilder besteht mithin darin, dass sie mit dem Anspruch auftreten, etwas sichtbar zu machen, jedoch dieses etwas, auf das sie sich beziehen, in dieser Form jeweils erst herstellen“. (S. 127 f.)

In den übrigen Beiträgen, die in englischer oder deutscher Sprache verfasst sind, wenden sich renommierte internationale Wissenschaftlerinnen unter anderem Fragen der Tier-Mensch-Beziehung, der Mensch-Maschine-Beziehung, den Gender-Perspektiven auf Waldarbeit und der besonderen Situation exzellenter und dennoch benachteiligter migrierter Wissenschaftlerinnen aus den ehemals sozialistischen Ländern in der Bundesrepublik Deutschland zu. Alle Aufsätze sind impulsgebend, allerdings ist der Raum in einer Rezension beschränkt. Ein Beitrag soll aber noch explizit angesprochen werden: Nanna Lüth arbeitet in „Die Lindellmaschine“ heraus, wie emanzipatorische Sachverhalte in äußerst technisch wirkenden künstlerischen Grafiken dargestellt werden können. Dadurch, dass auf den zweiten Blick die abstrakten Abbildungen von John Lindell als männliche Genitalien erscheinen und in einen explizit schwulen Zusammenhang gesetzt werden, konnte er bei Betrachterinnen und Betrachtern unerwartete Wirkungen entfalten. Zur Zeit des Entstehens der Grafiken während der Aids-Krise, in der Homosexuelle stärker reglementiert werden sollten, entwickelten sie damit ein bedeutendes emanzipatorisches Potential. In anderen Zeiten und Kontexten könnten sich weitere, anders gestaltete, emanzipatorische Leseweisen ergeben.

Fazit

In diesem Band gelingt es, den Vorwurf, dass öko-feministische Perspektiven essentialistisch wären (oder sein müssten), zu entkräften. Es wird aufgezeigt, wie bisherige gesellschaftliche Entwicklungen und auch der Einsatz von Technik patriarchal geprägt sind. Feministisch würden andere gesellschaftliche Antworten gefunden werden. So heterogen sich die Beiträge inhaltlich darstellen, so plastisch wird damit die Breite der notwendigen Debatten – und so klar erweist sich, wie wertvoll es ist, unterschiedliche Theoriestränge auch in die eigene Arbeit einzubeziehen. Der Band provoziert zum Weiterdenken – und ist so sowohl Lai/-innen für einen Überblick als auch Spezialist/-innen wärmstens zu empfehlen.

URN urn:nbn:de:0114-qn:1019:1

Dr. Heinz-Jürgen Voß

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

wissenschaftliche_r Mitarbeiter_in am Institut für Geschichte und Ethik der Medizin

Homepage: http://www.heinzjuergenvoss.de

E-Mail: heinz-voss@freenet.de

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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