Work in progress

Rezension von Anita Runge

Gudrun Loster-Schneider (Hg.):

Geschlecht – Literatur – Geschichte I.

St. Ingbert: Röhrig Verlag 1999.

272 Seiten, ISBN 3–86110–190–4, DM 48,00

Abstract: Der Band versammelt thematisch und methodisch heterogene Beiträge aus der Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaft. Gemeinsamer Bezugspunkt ist ein diskursanalytisch aufgefaßter gender-Begriff. Den aktuellen Stand der Diskussion reflektieren zwei Beiträge, die die Campus-(Kriminal-)Romane von Amanda Cross und Antonia S. Byatt als „Meta-Texte“ feministischer Theoriebildung interpretieren.

Es mag verlegerische Gründe dafür gegeben haben, diesen Sammelband mit einem Titel von kaum zu überbietender Allgemeinheit zu veröffentlichen und ihn mit einer Numerierung als Beginn eines Fortsetzungsunternehmens zu kennzeichnen. Wer die Lektüre jedoch entsprechend mit der Erwartung beginnt, den ersten Band eines Grundlagenwerkes zur literatur- und geschichtswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung vor sich zu haben, sieht sich enttäuscht: Bei der Betrachtung des Inhaltsverzeichnisses drängt sich der Verdacht auf, daß für ein heterogenes Spektrum von Beiträgen ein möglichst offenes Oberthema gesucht werden mußte. Ob unter diesem Thema weitere Bände folgen, wird nicht deutlich.

Die Irritation, die dieser erste Eindruck hinterläßt, ist bedauerlich, denn im einzelnen hat der Band einiges zu bieten. Er dokumentiert Vorträge eines interdisziplinären Symposions zur Frauen- und Geschlechterforschung, das 1997 unter dem Titel ‚Wer hat Angst vor Virginia Woolf?‘ an der Universität Mannheim stattfand. Präsentiert werden thematisch und methodisch mehr oder weniger unverbundene Einzelstudien, die Ergebnisse aus laufenden oder gerade abgeschlossenen Qualifikationsverfahren zusammenfassen. Zu begrüßendes Ziel der Publikation ist also die Förderung junger Wissenschaftlerinnen, und dieser Aspekt kommt auch dadurch zum Ausdruck, daß die Drucklegung des Bandes überwiegend durch Spenden von Privatpersonen ermöglicht wurde, die sich für die beteiligten Wissenschaftlerinnen engagieren wollten.

Unter den Einzelstudien hat die Literaturwissenschaft ein starkes Übergewicht: Fünf Aufsätze beschäftigen sich mit deutschsprachigen, zwei mit englischen, zwei mit nordamerikanischen Autorinnen bzw. Autoren. Lediglich je ein Beitrag stammt aus der Geschichts- bzw. Sprachwissenschaft.

Methodische Vielfalt

Die Herausgeberin Gudrun Loster-Schneider, deren 1995 erschienene Habilitationsschrift Sophie La Roche. Paradoxien weiblichen Schreibens im 18. Jahrhundert Maßstäbe für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit weiblicher Autorschaft im 18. Jahrhundert setzte, macht in ihrem einführenden Beitrag den Versuch, einen Rahmen für die versammelten Aufsätze zu formulieren. Ihr Ausgangspunkt ist eine Skizze der Erfolgsgeschichte der feministischen Literaturwissenschaft seit den späten 70er Jahren. Sie beschreibt das Forschungsfeld im germanistischen und anglistischen Bereich nach dem bekannten Muster sich ablösender Paradigmen. Der, wie sie betont, in ansehnlicher Zahl vorhandenen „Propädeutisch-methodologischen Einführung[en]“ (S. 18) fügt sie eine hinzu, in der ein weiteres Mal der Weg vom politischen Feminismus und der ideologiekritisch motivierten Frauenforschung über deren Integration in die Geschlechterforschung bis hin zu Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus verfolgt wird.

Eine eigene Position nimmt die Herausgeberin dabei nicht ein; sie verortet den Sammelband allgemein im Bereich der gender studies und bestimmt als gemeinsamen Nenner aller Beiträge „die Definition von Geschlecht als einem funktionalen, interdiskursiv generierten, soziokulturellen Konstrukt.“ (S. 29) Das methodische Spektrum der Aufsätze, das sich unter dieser Definition wiederfindet, könnte allerdings heterogener kaum sein. Entgegen der im einleitenden Beitrag an der Struktur des Paradigmenwechsels orientierten Darstellung der wissenschaftlichen Entwicklung dokumentiert der Band ein scheinbar konkurrenzloses und konfliktfreies Nebeneinander von Methoden und Theoremen aus verschiedenen Phasen und Richtungen der Frauen- und Geschlechterforschung seit den 70er Jahren.

Schon eine Auflistung der thematischen Schwerpunkte der Beiträge läßt die unterschiedlichen Ausgangspunkte deutlich werden: Es wird ein Bogen gespannt von der Frage nach möglicher weiblicher Eigenständigkeit bei einer Fürstentochter des 15. Jahrhunderts über die Themen „Lust an der Angst“ in der Schauerliteratur von Autorinnen des 18. Jahrhunderts; (brüchige) „Subjektive Idealität“ der männlichen Figuren bei Stifter; „Frauenfiguren im Bildungsroman“ bei Wilhelm Raabe; „bürgerliche Anpassung – emanzipatorischer Aufbruch“ in Fanny Lewalds Autobiographie; „Frauenfrage“ und Entwurf weiblicher Genialität bei Ebner-Eschenbach; „literarische Repräsentation des New Woman-Typus“ bei Thomas Hardy; „Geschlechterinszenierungen“ bei D. H. Lawrence, „Visualität und weibliche Identität“ bei Margaret Atwood; „postmodern condition“ in Possession von Antonia S. Byatt bis hin zum „geschlechtsspezifischen Kommunikationsverhalten“.

Leider läßt jedoch eine Reihe von Beiträgen eine eingehendere Reflexion des gewählten Interpretationsansatzes vermissen. Dies ist um so gravierender, als teilweise die Ergebnisse von noch nicht abgeschlossenen Qualifikationsarbeiten und damit work in progress präsentiert wird. Dem Ziel einer Förderung des weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchses wäre durch entsprechende klarere Anforderungen an die Einzelbeiträge besser gedient gewesen. Insbesondere die thematisch nahe beieinander liegenden Beiträge zur Autobiographik oder zu den weiblichen Figuren in Romanen des 19. Jahrhunderts hätten dabei vom wissenschaftlichen Dialog profitieren können. Die Dokumentation der Vorträge in der vorliegenden Form legt stattdessen den – möglicherweise vollkommen unzutreffenden – Eindruck nahe, daß es auch in den Diskussionen des Mannheimer Symposions nicht gelungen ist, auf der Grundlage der Vielfalt von Themen und Methoden einen gemeinsamen Erkenntnisgewinn zu erzielen.

Theorie und Literatur

Für die an Theorie und Methode der Frauen- und Geschlechterforschung Interessierten bietet der Band zwei Aufsätze, in denen literarische Texte als „Metatext[e] feministischer Theorie“ (S. 12) interpretiert werden. Die Herausgeberin selbst veranschaulicht in ihrem einleitenden Beitrag ‚Wer hat Angst vor Virginia Woolf?‘ am Beispiel eines Kriminalromans von Carolyn Heilbrun (alias Amanda Cross), wie ein literarischer Text sowohl auf thematischer als auch auf der Verweis- und Figurenebene den rund 20jährigen Diskurs der feministischen Literatur- und Kulturwissenschaft reflektiert. Loster-Schneider listet die eindrucksvolle Bandbreite der von Heilbrun zitierten oder metaphorisierten Theoreme auf und zeigt, wie komplex und differenziert deren Literarisierung im Kriminalroman ist. Leider scheint sie sich gezwungen zu sehen, diesen Befund wieder zurückzunehmen, indem sie – gegen die von ihr selbst dokumentierte Vielstimmigkeit des Textes – um eine eindeutige Positionierung der Autorin bemüht ist und diese am vermeintlich avancierteren theoretischen Niveau des Dekonstruktivismus mißt. Das Ergebnis: Aus dessen Perspektive sind die „fiktive feministische Literaurwissenschaftlerin Kate Fansler und ihre Schöpferin Cross/Heilbrun Vertreterinnen der phallologozentrisch-männlichen Position“ (S. 29)

Daß literarische Texte gerade nicht in der Veranschaulichung einer „Position“ aufgehen müssen, vielmehr mit Hilfe ästhetischer Mittel deren Grenzen und Probleme ausloten, deutet der vorletzte Beitrag des Bandes an. Diana Lelle interpretiert Antonia S. Byatts Roman Possession als literarische Veranschaulichung eines poststrukturalisch-dekonstruktivistischen „Theoriedesign[s]“ (S. 236) und zugleich als Auseinandersetzung mit den Folgen, die das Arbeiten mit dieser Theorie für das berufliche und private Leben einer Wissenschaftlerin zeitigt. Allerdings kommt der letztgenannte Aspekt zu kurz bzw. wird lediglich unter dem Aspekt eines psychologischen Verständnisses für die Probleme der weiblichen Hauptfigur abgehandelt. In welchem Ausmaß das in dieser Figur inkorporierte „Theoriedesign“ Gegenstand eines (selbst-)ironischen Spiels wird, interessiert die Interpretin weniger als das Auffinden von verwendeten Versatzstücken jener Theorie. Das ist schade, denn so verschenkt der Beitrag (und damit der ganze Band) die Chance, eine Diskussion darüber zu eröffnen, ob literarische Texte möglicherweise geeigneter sind, „Differenzen und Transformationen“ (S. 18) feministischer Theoriebildung zu reflektieren als „propädeutisch-methodologische Einführungen“.

URN urn:nbn:de:0114-qn011141

Dr. Anita Runge

ZE Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin.

(Die Angaben zur Person beziehen sich auf den Stand zum Veröffentlichungsdatum.)

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