Cyborg oder Göttin: Wie Technikforscherinnen ihr Verhältnis zu Technik sehen

Rezension von Ulrike Kissmann

Flis Henwood, Helen Kennedy, Nod Miller (eds):

Cyborg Lives?.

Women’s Technobiographies.

York: Raw Nerve Books 2001.

190 Seiten, ISBN 0–9536586–2–X , £10,00

Abstract: Die Autorinnen haben für die Beiträge eigene auto/biographische Erlebnisse ausgewählt, in denen der mediale Charakter von Technik deutlich wird. Die Geschichten erzählen also von Technik, die soziale Ordnung und Bedeutung vermittelt und auf diese Weise dazu beiträgt, Geschlechtergrenzen und andere Grenzen wie die zwischen „bekannt“ und „fremd“ oder „normal“ und „anormal“ herzustellen. Die Auto/Biographien sind durch Technik einerseits fremdbestimmt, andererseits zeigen die Autorinnen auch, wie Selbstbestimmung über diese Grenzen hinweg möglich ist. Sie benutzen Donna Haraways Cyborg Metapher (1985), um das Selbst in der Verflechtung von Sozialem und Technischem auto/biographisch zu rekonstruieren.

Das Individuum der Moderne erfährt sich nicht mehr als Einheit, sondern muss mit Bruchstücken seiner selbst leben. In der Erwerbswelt ist in den letzten Jahren der Begriff der Patchwork-Biographie entstanden. Er drückt die Orientierungslosigkeit aus, die das moderne Individuum in seinem Erwerbsleben und auch anderen Lebensbereichen erfährt. Mit fortschreitender Technisierung, Globalisierung und Mobilität der Gesellschaft wird ihm die Leistung abgefordert, den Zusammenhang trotz Vereinzelung und Unübersichtlichkeit herzustellen. (Vgl. Beck/Giddens/Lash 1996) Die Autorinnen des vorliegenden Bandes teilen diese Sicht der fehlenden Integration des Selbst: „[…] asking who is the ‚I‘ that experienced this particular technology […] there was, and is, no unified self.“ (S. 39) Die geforderte Integrationsleistung besteht allgemein darin, Erlebnisse aus der Vergangenheit zu strukturieren, um sie als Hintergrundfolie für gegenwärtige Handlungen zu benutzen. Das wäre dann eine Antwort auf die Frage: „Wie bin ich zu dem geworden, was ich heute bin?“ Außerdem muss das Individuum seine Handlungen auf die Eigenlogiken der jeweils relevanten Teilsysteme beziehen, aus denen sich die funktional differenzierte Gesellschaft (Luhmann 1985) zusammensetzt. Diese Situation entspricht der Frage: „Wo und wer bin ich eigentlich, dass ich so oder so handle?“ Beide angesprochenen Integrationsanforderungen werden durch biographische Selbstthematisierungen erfüllt. Es hilft also, wenn man von seinem Leben erzählt, denn in der Selbstthematisierung werden Erlebnisse sinnhaft geordnet. Die „biographische Strukturierung“ bzw. „biographische Arbeit“ (Fischer-Rosenthal 2000) ist sowohl ein Instrument der empirischen Sozialforschung als auch im Alltag ein Mittel, die eigene Identität zu konstruieren. Die Autorinnen von cyborg lives? women’s technobiographies benutzen die auto/biographischen Strukturierungen in beiderlei Hinsicht: Sie verwenden eigene Tagebuchaufzeichnungen und erzählen rückblickend von ihren Erlebnissen mit Technik. Gleichzeitig sind sie Wissenschaftlerinnen in „Sciences and Technology Studies“ (d. h. in der sozialwissenschaftlichen Naturwissenschafts- und Technikforschung) und rekonstruieren mit der nötigen Distanz und Selbstironie ihr Selbst. Der Begriff „technobiography“ wurde im Rahmen der Arbeiten zu dem Band geprägt und ist ein Amalgam von „auto/techno/biography“. In der deutschen Biographieforschung wird meistens anstelle von „Autobiographie“ vereinfachend von „Biographie“ bzw. „biographischer Strukturierung“ gesprochen, obwohl die erhobenen Daten autobiographische Darstellungen sind, die in der Auswertung dann verallgemeinernd als biographische (Selbst-) Darstellungen bezeichnet werden.

Cyborg lives?

Das Buch entstand im Anschluss an die seit 1996 stattfindenden Treffen einer Diskussionsgrupe am „Department of Innovation Studies“ an der Universität East London. Die Gruppe setzte sich aus Wissenschaftlerinnen (und zeitweilig auch aus einigen Wissenschaftlern) unterschiedlicher Disziplinen und Nationalitäten zusammen. Das erste von insgesamt vier Kapiteln beinhaltet die theoretischen Grundlagen und wurde von einem Autorinnenkollektiv aus fünf Wissenschaftlerinnen verfasst. Flis Henwood, Gwyneth Hughes, Helen Kennedy, Nod Miller und Sally Wyatt grenzen sich darin gegen frühere feministische Literatur ab, die die Beziehung von Frauen und Technik in binären Kategorien wie „unterdrückend“ oder „befreiend“ beschrieben hat. Darin wurden sie entweder als der naturnahe Gegenpol zu einer männlichen und unterdrückenden Technik konzipiert, oder ihnen wurde die alleinige Aufgabe zugesprochen, durch ihren Einfluss auf Technik die Menschheit von Naturzerstörung zu befreien. Bis in die 80er Jahre und teilweise auch noch heute wird Frauen in der feministischen Diskussion also ein eigener, d. h. frauenspezifischer Zugang zu Technik zugeschrieben. Diese Sichtweise von „Frauen und Technik“ findet ihre theoretische Entsprechung im Differenzmodell der Geschlechterforschung, das das natürliche Geschlecht (sex) von dem sozialen Geschlecht (gender) trennt. Die Kritk an dieser Trennung eröffnete in den 90er Jahren in der feministischen Technikforschung eine neue Perspektive auf das Verhältnis von Geschlecht und Technik (vgl. Bath 2000). Die amerikanische Wissenschaftsoziologin Donna Haraway hat Mitte der 80er Jahre mit dem Cyborg-Manifest dazu beigetragen, dass die Grenzziehung von Natur und Kultur bzw. die von natürlichem und sozialem Geschlecht grundlegend in Frage gestellt werden konnte. Im Gegensatz zu dem Dualismus von „männlicher“ Technik und „weiblicher“ Natur sieht sie Technik als integrativen Bestandteil der täglichen Erfahrung von Frauen: „The machine is us, our processes, an aspect of our embodiment. We can be responsible for machines; they do not dominate or threaten us.“ (Haraway 1985, S. 99; zitiert nach Henwood, Kennedy, Miller, S. 16). Haraway betrachtet die Verschiebung und Auflösung von Grenzen, etwa die zwischen Organismus und Maschine, als charakteristisch für das ausgehende 20. Jahrhundert. Ihr Cyborg ist ein solches hybrides Wesen, das aus der Gender-Welt hinaus- und in eine Post-Gender-Welt hineinweist. Man kann „die Cyborg“ also als Handlungsstrategie für Frauen auffassen, mit Grenzen umgehen zu lernen und ihre Wirkung aufzulösen. Die insgesamt acht Autorinnen von Cyborg lives? women’s technobiographies untersuchen in den folgenden Kapiteln, inwieweit diese Handlungsstrategie in den einzelnen Auto/Biographien eingesetzt wurde bzw. ob es überhaupt sinnvoll ist, von einer Aufhebung von Grenzen zu sprechen.

In den drei Kapiteln, die auf das Grundlagenkapitel folgen, werden die Auto/Biographien bzw. Ausschnitte aus ihnen vorgestellt. Die beiden mittleren Kapitel bilden den Schwerpunkt des Buches: In „Encountering technology: consumption, identity und everyday life“ erzählen die Auto/Biographinnen (Flis Henwood, Linda Leung, Jules Cassidy und Sally Wyatt) von ihrem alltäglichen Umgang mit Technik. In diesem Kapitel sind sie Nutzerinnen von Technik, während in „Becoming technologists: on taking up (and making up) technological identities“ Technikerinnen vorgestellt werden (Helen Kennedy, Gwyneth Hughes, Linda Leung und Nanda Bandyopadhyay). Letztendlich zeigt die enge Verflechtung von Sozialem und Technischem in den Identitätskonstruktionen der Auto/Biographinnen, dass eine eindeutige Grenzziehung von Nutzerinnen und Technikerinnen schwierig ist. Flis Henwood beweist in ihrem Umgang mit den medizinischen Untersuchungsverfahren während ihrer Schwangerschaft genauso technische Kompetenz wie Helen Kennedy als HTML-Expertin. Technische Kompetenz wird in beiden Fällen über weitere soziale Zuschreibungen ko-konstruiert. Henwoods Identität als technisch komptent ist jenseits fester Rollen wie Nutzerin, Patientin oder Schwangere. Ihre Identität wird in jedem Kontakt mit dem medizinischen Personal neu verhandelt und steht in welchselseitigem Verhältnis zu der Konstruktion von „normaler“ Mutterschaft als heterosexueller Mutterschaft, von der sie abweicht. Genauso beschränkt sich die Multimedia-Identität von Kennedy nicht auf die feste Zugehörigkeit zu einer Expertengruppe, sondern stellt sich auch als Ko-Konstruktion von Geschlechter- und anderen Zuschreibungen dar: „What started out as a gender story became something else, a story about the performance of multimedia identity more generally, as other themes emerged, notably age, subculture and the feeling of insecurity […]“ (S. 102). Am Ende jeden Beitrags geht die jeweilige Auto/Biographin der Frage nach, ob sie sich als Cyborg oder Göttin bezeichnen würde. Die Autorinnen folgen damit Haraways Beispiel, die ihr Cyborg-Manifest mit den Worten schließt: „[I would] rather be a cyborg than a goddess.“ (Haraway 1985, S. 101, zitiert nach Henwood, Kennedy, Miller, S. 18).

Das letzte und vierte Kapitel des Bandes umfasst den Beitrag von Nod Miller, die sich nicht mit einer Cyborg identifiziert und stattdessen für sich das Bild der Göttin wählt. Da es der kritischste Beitrag zu der Cyborg-Metapher ist, wurde er als Schlusskapitel verwendet. Insgesamt hat die Entscheidung zwischen Cyborg oder Göttin sowohl den Hintergrund, ein Resümee der eigenen Lebensgeschichte zu ziehen, als auch zu benennen, inwieweit sich Gendergrenzen oder andere Grenzen auflösen lassen. In „Plugging into the mother country“ entscheiden sich Jules Cassidy und Sally Wyatt dafür, weder Cyborg noch Göttin zu sein. In ihrem Beitrag wird die soziale Bedeutung von englischen Schuko-Steckern („plugs“) auto/biographisch rekonstruiert. Die beiden Auto/Biographinnen stammen ursprünglich aus Kanada bzw. Australien. Nach ihrer Migration ins „mother country“ bekamen die elektrischen Steckverbindungen für sie die Bedeutung, als ehemalige Empire-Angehörige von einheimischen Engländern unterschieden werden zu können. Den „Engländern“ wurde durch die Vermittlung der „plugs“ technische Kompetenz zugeschrieben, während die ehemaligen Empire-Angehörigen als technisch inkompetent hingestellt wurden, da sie sich nicht mit den englischen Steckverbindungen auskannten. Auch unter Feministinnen wurde zwischen kompetenten und inkompetenten Frauen unterschieden. Der Umgang mit den „plugs“ hatte also zur Folge, dass die soziale Ordnung zwischen England und Empire qua technischer Kompetenz sicher gestellt wurde. Die soziale Konstruktion von technischer Kompetenz ist also einerseits eine Möglichkeit, Grenzen zwischen „männlich“ und „weiblich“ oder zwischen „Kolonialherren“ und „Kolonialisierten“ herzustellen. Andererseits machen die Erlebnisse von Cassidy und Wyatt deutlich, dass technische Kompetenz in Frauenhand dazu beitragen kann, neue Hierarchien auch unter Frauen zu schaffen: „It is for this reason that we suggest that the cyborg metaphor does not always have positive connotations: it can be used to divide women, precisely around the issue of technical competence.“ (S. 75) Dieses Beispiel von Cyborg wandelt die Grenzen also nur um, lässt die durch Technik vermittelte soziale Ordnung aber intakt.

Cyborg lives? women’s technobiographies bereichert die aktuelle feministische Diskussion über das Geschlechter-Technik-Verhältnis, indem die Tragweite der Cyborg-Metapher anhand von Fallbeispielen empirisch untersucht wird. Besonders innovativ ist auch, dass die Bedeutungen von Technik auto/biographisch rekonstruiert werden. Damit wird deutlich, dass für die Anwendung von Technik der Hintergrund bzw. die Geschichte der Anwenderin relevant ist. Insgesamt also ein sehr empfehlenswertes Buch!

Literatur

Bath, Corinna: The Virus might infect you. Bewegt sich das Geschlechter-Technik-Gefüge? In: metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis. 9. Jhg., 2000, H. 17, S. 48–66.

Beck, Ulrich/Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung: Eine Kontroverse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1996.

Fischer-Rosenthal, Wolfram: Biographical work and biographical structuring in present-day societies. In: Bornat, J./Chamberlayne, P./Wengraf, T. (Hg.): The Turn to Biographical Methods in Social Science. London: Routledge 2000.

Haraway, Donna: A manifesto for cyborgs: Science, technology and socialist feminism in the 1980s. In: Socialist Review, 80, 1985, S. 65–108. Deutsch: Donna Haraway: Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen. Hg. und eingeleitet von: Hammer, Carmen/Stieß, Immanuel. Frankfurt a. M./New York: Campus 1995.

Luhmann, Niklas (Hg.): Soziale Differenzierung: Zur Geschichte einer Idee. Opladen: Westdeutscher Verlag 1985.

URN urn:nbn:de:0114-qn023186

Dr. Ulrike Kissmann, Dipl.-Phys., M.A., M.Sc.

Berlin

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