Feministische Philosophie in Zeiten des Post-Feminismus

Rezension von Sidonia Blättler

Herta Nagl-Docekal:

Feministische Philosophie.

Ergebnisse, Probleme, Perspektiven.

Frankfurt a. M.: Fischer 2000.

88 Seiten, ISBN 3–596–13855–8, DM 24,90 / SFr 23,00 / ÖS 182,00

Herta Nagl-Docekal und Cornelia Klinger (Hg.):

Continental Philosophy in Feminist Perspective.

Re-reading the Canon in German.

The Pennsylvania State University Press 2000.

336 Seiten, ISBN 0–271–01964–6, $ 22,50 / ca. DM 56,00

Abstract: Herta Nagl-Docekal versucht im Durchgang durch verschiedene Teildisziplinen der Philosophie eine Zwischenbilanz: Wie hat feministisch motivierte Forschung das Fach verändert, und welche Fragen stehen heute zur Klärung an? Wie überzeugend ist die weit verbreitete These, wonach wir uns gegenwärtig in einer „postfeministischen“ Ära befinden und feministische Forschung obsolet geworden ist? Die von Herta Nagl-Docekal und Cornelia Klinger zusammengestellte Aufsatzsammlung enthält repräsentative Texte von deutschsprachigen Philosophinnen und soll ein englischsprachiges Publikum über hiesige Theorieentwicklungen innerhalb der feministischen Philosophie informieren.

Doing philosophy as a feminist

Feministische Philosophie sei „ein Philosophieren am Leitfaden des Interesses an der Befreiung der Frau“. So charakterisierte die Wiener Philosophin Herta Nagl-Docekal programmatisch das Projekt, als sie vor zehn Jahren eine im deutschen Sprachraum viel beachtete Aufsatzsammlung herausgab, die unter dem Titel „Feministische Philosophie“ in zentrale Forschungsfelder, Ansätze und Debatten einführte.

Zehn Jahre später nun liegt von ihr unter dem selben Titel eine Monographie vor. In kritischer Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Positionen innerhalb eines breit gefächerten internationalen „feministischen“ und „postfeministischen“ Diskurses versucht sie eine Zwischenbilanz. Sie fragt danach, in welcher Weise feministisch motivierte Forschung das Fach Philosophie verändert hat und welche Fragen heute zur Klärung anstehen. Dass sie dabei am „Doing philosophy as a feminist“, wie eine eingespielte Wendung es nennt, festhält, signalisiert bereits der Titel. Der Vorstellung eines „Postfeminismus“, sofern sie nicht auf eine zunehmend differenziertere Argumentation verweist, die enge und simplifizierende Begriffsschemata zu überwinden versucht, sondern eine Abkehr von Problemen der Geschlechterhierarchie überhaupt markiert, erteilt sie eine entschiedene Absage. Angesichts der Tatsache, dass unsere Lebenswirklichkeiten nach wie vor von Geschlechterasymmetrien geprägt sind, betont sie unbeirrt die Notwendigkeit einer Reformulierung des feministischen Grundanliegens im Kontext heutiger Debatten.

Einem solchen Unternehmen fehlt zweifellos die Faszination des Neuen. Doch in vielerlei Hinsicht liegt gerade hierin sein Verdienst: Gegen den Zwang zur unentwegten Innovation, der oft weniger inhaltlichen Sachlagen als vielmehr einer internen Dynamik der diskursiven Selbstpositionierung im Wissenschaftsbetrieb entspringt, bezieht Nagl-Docekal auch ältere Forschungsbeiträge in die Diskussion mit ein. Dadurch wird deutlich, dass viele Fragestellungen und Thematisierungen möglicherweise nicht obsolet geworden sind, weil sie als gelöst oder überholt gelten können, sondern weil sie schlicht in Vergessenheit geraten sind. Um solche Problemstellungen erneut in den Blick zu bekommen und mit Bezug auf einen heutigen Forschungsstand zu erörtern, stellt sich Nagl-Docekal die Aufgabe, im Durchgang durch wichtige Teildisziplinen der Philosophie Diskurslagen zu klären, thematische und methodische Verschränkungen zu entflechten, Vereinseitigungen zu korrigieren und weit auseinander getretene und gegeneinander verfestigte Richtungen wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Diesem Unterfangen liegt eine dezidiert kantianische Orientierung zugrunde, die den moralischen Standpunkt gleicher Achtung und gleicher Rechte behauptet, womit auch eine klare geschlechterpolitische Zielsetzung vorgegeben ist. Während der Haupttext durch transparente Argumentation überzeugt, die zuweilen allerdings nur um den Preis von Verkürzungen und Komplexitätsreduktionen zu haben ist, präsentiert der umfangreiche wissenschaftliche Apparat die verästelten Diskussionen in Form von teilweise kommentierten Literaturverweisen.

Für eine Rehabilitierung der sex-gender-Differenz

In Anlehnung an Kant, der – allerdings ohne das Projekt auch durchzuführen – die Anthropologie in den Rang einer systematischen Grundlage aller Teilbereiche der Philosophie erhoben hat, beschäftigt sich das erste Kapitel mit Fragen einer „Anthropologie der Geschlechter“. Zur Klärung steht der Bedeutungsgehalt der Begriffe „Frau/Frauen“ und „Mann/Männer“ an. Dieser Einstieg ist nicht allein dem aktuellen Diskurs geschuldet, der an dieser Frage zu kollabieren droht, sondern der Einsicht, dass mit einer solchen Begriffsklärung wesentliche Vorentscheidungen für die weitere Theoriebildung getroffen werden. Ausgangspunkt bildet die Feststellung, dass die Begriffe „Frau“ und „Mann“ nach wie vor zentrale Kategorien der sozialen Ordnung bilden. Obwohl Nagl-Docekal in Übereinstimmung mit den meisten feministischen Kritikerinnen jede Begründungsstrategie zurückweist, welche die „Ordnung der Geschlechter“ (Claudia Honegger) durch Rekurs auf eine wie auch immer bestimmte Natur rechtfertigt, sieht sie in der „Differenzierung von natürlichen Gegebenheiten, einerseits, und handelnder Bezugnahme auf dieselben, andererseits, […] eine maßgebliche Grundlage für feministische Kritik“ (S. 27). Geschlechtlich differenzierte Körper oder eine geschlechtlich differenzierte Leiblichkeit, so ihr Argument, bilden eine Voraussetzung von Freiheit. Denn der Begriff der Freiheit lässt sich sinnvoll nur erläutern, wenn wir davon ausgehen, dass wir uns zu bestimmten Gegebenheiten, die nicht (unmittelbar) zur Disposition stehen, in unterschiedlicher Weise verhalten können. Aus der Erfahrung, dass sich solche Gegebenheiten historisch bzw. kulturell auch verändern (beispielsweise durch Deutungen und Praktiken), lässt sich kein prinzipielles Gegenargument gegen die Unterscheidung gewinnen. Sie besagt lediglich, dass der Begriff eines jeweils Gegebenen (die „Natur“) seinerseits einen historischen bzw. kulturellen Index trägt und nicht in Begriffen des Unveränderlichen beschrieben werden kann.

Zwar ist sich Nagl-Docekal bewusst, wie sie in einem kleinen Teilkapitel ausführt, dass ein Denken in binären Oppositionen stets von der Gefahr begleitet wird, dass die Operation des Unterscheidens mit einer „Verwerfung des Anderen“ einhergehen kann, d. h. mit einer Abwertung des zweiten Begriffs, durch den sich in einem zweistelligen Klassifikationsschema der erste Begriff bestimmt. Doch betont sie, dass die moralischen Probleme einer Praxis der pejorativen Zuschreibung und hierarchischen Unterordnung nicht durch die logische Form der Dichotomie als solche generiert werden. Auf der Grundlage dieser Vorüberlegungen setzt sie schließlich zu einer pragmatischen Rehabilitierung der Dichotomie von „Natur“ und „Kultur“ sowie der davon abgeleiteten Differenz von „sex“ und „gender“ an. Im Rahmen einer Rekonstruktion der sex-gender-Debatte, welche verschiedene theoretische und praktische Kontexte, in denen sie geführt wird, in die Betrachtung miteinbezieht, legt sie dar, inwiefern die Unterscheidung zwischen biologischem bzw. leibphänomenologischem und diskursiv erzeugtem Geschlecht nach wie vor ein geeignetes Instrumentarium der feministischen Theorie darstellt. Die Unterscheidung wendet sich gegen eine vorschnelle Entdifferenzierung, die in Form eines biologistischen Reduktionismus den Körper oder in Form eines kulturalistischen Reduktionismus den Diskurs in den Rang einer monokausalen Erklärungsinstanz erhebt. Sie erlaubt es, „herauszuarbeiten, dass gesellschaftliche Normen von leiblichen Bedingungen zu unterscheiden sind, auch wenn sie buchstäblich einverleibt werden können“ (S. 67), womit erst jener freiheitsrelevante Raum geschaffen wird, in dem sich Handlungsoptionen moralisch beurteilen lassen.

Gegen die Vorstellung einer spezifisch „weiblichen“ Form des Wissens

Das zweite Kapitel ist der Ästhetik gewidmet. In ihm wendet sich Nagl-Docekal so unterschiedlichen Themen wie der überkommenen These von der weiblichen Kulturunfähigkeit, der historischen Frauenforschung, dem Programm einer „écriture féminine“, welche sich rückblickend vor allem als „an enabling myth“ erweisen dürfte, sowie der philosophischen Kategorienbildung in der klassischen und zeitgenössischen Ästhetik zu. Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit erkenntnistheoretischen, wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspolitischen Fragen. Wie im Fall der Ästhetik so argumentiert Nagl-Docekal auch hier gegen die Vorstellung einer von allen Frauen geteilten „weiblichen Erfahrung“, die eine generelle Infragestellung wissenschaftlicher Rationalität und eine spezifisch „weibliche“ Form des Wissens begründen könnte. Stattdessen fragt sie nach Möglichkeiten, den Begriff der „Objektivität“ im Hinblick auf das Androzentrismusproblem so zu rekonzeptualisieren, dass die Situiertheit des Denkens sowie normative Aspekte der Forschungspraxis mitreflektiert werden.

Das letzte Kapitel schließlich diskutiert ausführlich und differenziert moralphilosophische, rechtsphilosophische und politiktheoretische Ansätze. Es expliziert jene gerechtigkeitstheoretischen Prinzipien, welche die Argumentation auch der vorangehenden Kapitel bestimmt haben. Zentral geht es Nagl-Docekal darum, ein angemessenes Verständnis der Diskriminierung von Frauen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht zu erarbeiten. Es soll sensibel sein für Differenzen zwischen Frauen, die strukturelle Vielfalt von Unterdrückung und Marginalisierung berücksichtigen und der Einsicht gerecht werden, dass kulturelle Praktiken von beiden Geschlechtern getragen werden und also auch Frauen in die Schaffung und den Erhalt von Bedingungen involviert sind, die Frauen benachteiligen. Auf dieser Grundlage wendet sie sich der heftig umstrittenen Frage zu, wie ein feministisches Subjekt, das im Modus des „Wir“ agiert, angesichts der vielfachen Vorbehalte noch beschrieben werden kann.

Vom Standpunkt einer universalistischen Moral dürfte sich die Beschreibung als wenig kontrovers erweisen: „Diskriminierung aufgrund der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht ist ein Problem, das nicht allein die Betroffenen angeht, sondern alle jene, die darum bemüht sind, ihr Verhalten an moralischen Grundsätzen zu orientieren. Daraus folgt, dass […] das feministische ‚Wir‘ weiter zu fassen [ist], als dies üblicherweise geschieht – auch über die Gesamtheit der von Diskriminierung betroffenen Frauen hinaus.“(S. 199) Unter der realistischen Voraussetzung jedoch, dass feministische Politik meist eine Angelegenheit von Frauen ist, gestaltet sich die Frage schwieriger. Denn nun rückt das Problem einer gemeinsamen „Betroffenheit“ in den Blick. Wie ist sie zu verstehen? Nagl-Docekal erblickt die grundlegende Gemeinsamkeit im „Faktum der Diskriminierung“, das, weil es in der Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht begründet sei, alle Frauen betreffe. Gleichzeitig jedoch weiß sie, dass die Auswirkungen von ungerechten Verhältnissen höchst unterschiedlich sind. Sie brauchen keineswegs jede einzelne Frau negativ zu tangieren, und sie betreffen schon gar nicht alle Frauen in gleicher Weise. Daraus ergibt sich einerseits, dass der Begriff eines feministischen „Wir“ in einem sehr basalen Sinn durch Offenheit für andere Erfahrungen und neue Anliegen charakterisiert sein muss. Es stellt sich andererseits aber auch die Frage, ob sich aufgrund der Diversität von Lebenslagen überhaupt noch so etwas wie ein Anspruch auf Solidarität von Frauen mit Frauen erheben lässt. Der allgemeine Standpunkt der Gerechtigkeit allein vermag ihn nicht zu begründen. Denn er sagt nichts darüber aus, für welche benachteiligten Gruppen sich Menschen im konkreten Leben, d. h. unter der empirischen Restriktion begrenzter Ressourcen und Kapazitäten einsetzen sollen. Dass Herta Nagl-Docekal diese letzte Frage nicht stellt, ist vielleicht Ausdruck einer großen Selbstverständlichkeit, mit der sie am feministischen Ziel einer Ordnung festhält, in der jede Frau über Rechte und Chancen verfügt, ihren Weg selbst zu bestimmen.

Feministische Philosophie in deutschsprachigen Ländern

Es ist ein Merkmal des gegenwärtigen feministischen Diskurses, und dies bestätigt auch die von Nagl-Docekal diskutierte Literatur, dass er wesentlich durch eine Auseinandersetzung mit angelsächsischen Positionen bestimmt ist. Umgekehrt, so lautet eine häufig zu hörende Klage, werden deutschsprachige Theorieentwicklungen von Kolleginnen in England, Kanada und den Vereinigten Staaten kaum als solche wahrgenommen, obwohl zahlreiche Texte in englischer Übersetzung zugänglich sind. Das mag unter anderem daran liegen, dass es hierzulande im Fach Philosophie – anders als in andern Fächern – noch kaum gelungen ist, feministische Theorie an den Universitäten institutionell zu etablieren. Um ein angemesseneres Bild der hiesigen feministischen Philosophie, ihren Methoden und analytischen Kategorien zu vermitteln, haben Herta Nagl-Docekal und Cornelia Klinger eine Aufsatzsammlung mit dem Titel „Continental Philosophy in Feminist Perspective“ herausgegeben. Der Band konzentriert sich auf einen repräsentativen Teilbereich der deutschsprachigen feministischen Philosophie. Eingeleitet durch einen Essay der Herausgeberinnen, versammelt er Texte, die sich mit dem philosophischen Kanon aus der Zeit der Aufklärung bis heute beschäftigen. Den deutschsprachigen Leserinnen könnte er vielleicht Anstoß sein, Analyse und Kritik von Begriffen, Metaphern und symbolischen Strukturen in Form einer konkreten Beschäftigung mit der Geschichte der Philosophie fortzusetzen.

URN urn:nbn:de:0114-qn023174

Sidonia Blättler

Institut für Philosophie, Freie Universität Berlin

E-Mail: sidblae@zedat.fu-berlin.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.