Weibliche Arbeitserfahrungen in der DDR

Rezension von Albrecht Wiesener

Annegret Schüle:

Die „Spinne“.

Die Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit im VEB Leipziger Baumwollspinnerei.

Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2001.

290 Seiten, ISBN 3–9345665–87–5, DM 54,00 / € 27,00

Abstract: Annegret Schüle kommt in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die DDR-Diktatur das Leben von Frauen mehr veränderte als das der Männer. Ihre auf Interviews basierende Untersuchung fokussiert den (Berufs-)Alltag von Frauen in der Leipziger Baumwollspinnerei. Anhand der drei Kategorien „Generation“, „Frauenarbeit“ und „Vergemeinschaftung im Betrieb“ diskutiert sie die geführten Interviews , die Förderung weiblicher Erwerbstätiger einerseits und das Negativimage des Textilbetriebs andererseits. Die Autorin legt eine überzeugende Studie zur Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit vor und zeigt am konkreten Beispiel, wie die DDR-Gesellschaft in einer von Frauen getragenen familiarisierten Betriebskultur nicht aufgebrochen, sondern in einer eigentümlichen Verbindung von Geborgenheit und Unterordnung reproduziert wurde.

Dass die DDR-Gesellschaft eine patriarchale war und es auch bis zu ihrem Ende blieb, wie Annegret Schüle am Schluss ihrer Studie zur Leipziger Baumwollspinnerei und mit Verweis auf eine mittlerweile umfangreiche Forschung zur DDR-Geschichte festhält (vgl. S. 339), mag vielleicht nicht überraschen. Im Hinblick auf die hohe Erwerbsarbeitsquote von Frauen in der DDR und das davon bestimmte öffentliche Bild der Frau im Alltag bleibt sie trotz allem bemerkenswert. Die überdurchschnittliche Präsenz von Frauen im Arbeitsalltag führte in der DDR-Gesellschaft gerade nicht zu einer wesentlichen Veränderung der geschlechterspezifischen Rollenverteilung und Perzeptionsweisen, von einer Feminisierung der politischen Kultur ganz zu schweigen. Trotz allem aber, so Annegret Schüle, habe die DDR die Frauen mehr verändert als die Männer. Ein Bericht westdeutscher Journalisten charakterisierte schon in den sechziger Jahren ostdeutsche Weiblichkeit in beeindruckend metaphorischer Weise: „das Wunder DRÜBEN sind die Frauen“ (S. 13).

Die eigene Verwunderung darüber, dass die „persönliche Lebensvorstellung von Frauen und gesellschaftspolitische Leitvorstellungen der SED, […] in der DDR in verblüffendem Maße deckungsgleich geworden (waren)“ (S. 25f.), stellt für die Autorin den eigentlichen Ausgangspunkt ihrer „Entdeckungsreise“ in den ehemaligen VEB Leipziger Baumwollspinnerei dar. Im Mittelpunkt ihres Interesses stehen die alltäglichen Aspekte weiblicher Industriearbeit und deren Veränderung über den Zeitraum von vierzig Jahren: „Wie sah dieses Leben im Alltag aus? Wie war die Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern? Sind Frauen aufgestiegen, wie weit und mit welchen Kosten und Gewinnen? „ (S.26) Die besondere Situation der weiblichen Erwerbstätigen in der Baumwollspinnerei war durch mehrere Faktoren gekennzeichnet. Es handelte sich dabei nicht nur um Frauen mit schlechten Voraussetzungen für einen selbstbestimmten Lebensentwurf, sondern die Textilindustrie besaß zu keiner Zeit eine legitimatorische Funktion, wie sie beispielsweise die Chemieindustrie oder der Energiesektor für die Wirtschafts- und Sozialpolitik der DDR beanspruchen konnten. Gleichwohl blieb die Legitimation der sozialistischen Gesellschaft auch in der Baumwollspinnerei nicht außen vor. So verdeutlicht die Autorin in ihrer Einleitung, dass in der DDR gerade die Textilindustrie als eine traditionelle Frauenindustrie die Überlegenheit der neuen Gesellschaftsordnung dadurch verdeutlichen sollte, dass in ihr die doppelte Ausbeutung der Frauen aufgrund des Geschlechts und der Klassenzugehörigkeit endgültig überwunden sei. Wie dabei geschlechtsspezifische und soziale Konstellationen auf der Mikro- und Mesoebene des Betriebes die alltäglichen Aushandlungprozesse bestimmten, gehört zum Kern des Untersuchungsfeldes. Klasse und Geschlecht werden dabei in ihrer spezifischen Verbindung im industriellen Arbeitsprozess der Textilbranche zu notwendigen, keineswegs aber totalisierenden Bezugsrahmen der Untersuchung erklärt (vgl. S. 27).

Erinnerungsinterviews dienen der Autorin zunächst als genereller Zugang zur weiblichen Erfahrung des Arbeitsalltags in der Baumwollspinnerei. Gleichzeitig konturieren die Erzählweisen und Themenabfolgen der Interviewpartnerinnen die Struktur der eigenen Untersuchung. So schienen die interviewten Arbeiterinnen der Autorin aus verschiedenen Betrieben von ihrem Arbeitsleben zu berichten, und zwar nach Alter und Betriebszugehörigkeit geschieden differierend (vgl. S. 37). Die daraus abgeleiteten Kategorien „Generation“, „Frauenarbeit“ und „Vergemeinschaftung im Betrieb“ strukturieren die inhaltliche Darstellung der Studie und werden kritisch auf die Erinnerungen der interviewten Arbeiterinnen rückbezogen. In Anbetracht der vielschichtigen Erinnerungsmuster bevorzugt die Autorin demzufolge einen induktiven Zugriff auf das Arbeitsleben ihrer Interviewpartnerinnen.

Generationenvergleich

Die Frage nach unterschiedlichen Generationszusammenhängen und die nach dem betrieblichen Aufstiegsverhalten der Arbeiterinnen stehen im Mittelpunkt des ersten Kapitels „Mächtige Mütter und unwillige Töchter“ (S. 75). Die Herleitung von Begrifflichkeiten wie „Generationszusammenhang“ und „Generationslagerung“ hilft den Leser/-innen, die von der Autorin vorgenommene Unterteilung in die Mütter- und Töchtergeneration im Betrieb nachzuvollziehen (S. 76). Sie wirft anderseits aber auch die Frage auf, ob für die Untersuchung von Generationszusammenhängen nicht ein größeres Sample an Interviewpartnerinnen notwendig gewesen wäre, denn die Kerngruppen der Müttergeneration (1929 – 40) und der Töchtergeneration (1949 – 65) umfassen jeweils nur vier Frauen. Trotz des Defizits an Interviewmaterial überzeugt die Diskussion zentraler generationeller Unterschiede in der weiblichen Arbeitserfahrung im Betrieb. Eine hohe Aufstiegsbereitschaft und Betriebsbindung fanden sich eher in der ersten Generation, während der jüngeren Generation der „unwilligen Töchter“ zumindest formal mehr Türen in der Gesamtgesellschaft offen standen und sie aus den generell größeren Möglichkeiten größere Ansprüche ableiteten“ (S. 122). Dieser offensive Umgang mit den Herausforderungen in der Baumwollspinnerei zeigte sich unter den jüngeren Arbeiterinnen vor allem in der Zurückweisung unzumutbarer Arbeitsbedingungen sowie in der hohen Fluktuation. Die alltägliche Schwerstarbeit an den Maschinen mit unzureichendem Material stellte für beide Generationen eine Belastung dar. Sozialistischer Wettbewerb, sozialpolitische Erleichterungen und innerbetriebliche Qualifikation verschafften in zunehmendem Maße den Arbeiterinnen die Möglichkeit, trotz dieser Belastungen ihre Chance in der Baumwollspinnerei zu suchen. Diese Bereitschaft zeigte sich in der Müttergeneration der Kriegs- und Vorkriegsgeborenen, für die Töchtergeneration galten selbst die hohen Verdienstmöglichkeiten der aufgestiegenen Arbeiterinnen in den siebziger und achtziger Jahren nicht mehr als Anreiz, sich auf den beschwerlichen Aufstieg innerhalb der Baumwollspinnerei einzulassen. Thesenartig fasst Annegret Schüle am Ende des Kapitels zusammen: „Frauen, deren Ansprüche durch die Maschinenarbeit nicht erfüllt wurden, sind in der ersten Generation aufgestiegen, in der zweiten Generation ausgestiegen. „ (S. 104)

Frauenräume

Das Kapitel „Frauenerfahrungen und Frauenbilder“ rekapituliert das schon in der Einleitung skizzierte Negativbild weiblicher Industriearbeit und dessen historische Entwicklung. Ausführlich schildert die Autorin den schlechten Ruf der Leipziger Baumwollspinnerei und vergleicht die mit dem Frauenbetrieb verbundenen Assoziationen mit anderen Beispielen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert (vgl. S. 127 ff.). Besonders hartnäckig schien sich die Vorstellung sexueller Freizügigkeit der Arbeiterinnen in der Leipziger Baumwollspinnerei zu halten. Von Gerüchten über Prostitution und orgienhafte Veranstaltungen in der Zeit vor 1945 wussten auch noch die älteren Interviewpartnerinnen zu berichten (vgl. S. 131), und selbst die jüngste Interviewpartnerin weiß um die sexuelle Implikation des Negativbildes (vgl. S. 141).

Diese Gerüchte verstärkten das Negativbild der Arbeit in der Baumwollspinnerei über den Betrieb hinaus. Annegret Schüle skizziert in diesem Zusammenhang kurz die möglichen Assoziationen, die sich mit dem Betriebsnamen „Spinne“ innerhalb und außerhalb des Betriebes verbunden haben könnten, wobei vor allem ihr Rekurs auf die Spinne als dominante und schicksalhafte weibliche Figur in der Mythologie angesichts des Negativbildes in der Baumwollspinnerei überzeugt. Gegenüber der Beharrungskraft derartiger Imagebildungen erwiesen sich alle Versuche der Werk- und Parteileitung, ein positives Image des Frauenbetriebes zu propagieren, als machtlos. Die Baumwollspinnerei wurde als der Frauenbetrieb wahrgenommen und die tradierten Zuschreibungen von Frauenindustrie auf ihn projiziert, wie die Autorin zusammenfasst (vgl. S. 148). Die Interviews zeigten dagegen unterschiedliche Weisen des Umgang mit dem schlechten Ruf. Während sich ältere Frauen eher von der negativ besetzten Vergangenheit der Baumwollspinnerei absetzten, schützten sich die jüngeren Frauen vor dem Abwertungsdiskurs dadurch, dass sie sich von der Erfahrungswelt der älteren Frauen abgrenzten (vgl. S.142).

Welcher Natur die Geschlechterkonflikte in einem Frauenbetrieb waren, zeigt Annegret Schüle am Beispiel der weiblichen Vorgesetzten und der einzigen männlich dominierten Berufsgruppe in der Baumwollspinnerei, den Mechanikern. Einerseits verdeutlichte sich in den Auseinandersetzungen zwischen weiblichen Vorgesetzten und männlichen Meistern bzw. Arbeitern der mühsame Kampf von Frauen um Anerkennung ihrer Leitungstätigkeit insbesondere in technischen Belangen (vgl. S. 164 ff.). Anderseits kam es zu alltäglichen Konflikten zwischen Produktionsarbeiterinnen und den für die Reparaturen zuständigen Mechanikern. Letztere verfügten über deutlich größere Freiräume im Arbeitsprozess als die unter Wettbewerbsdruck arbeitenden Frauen und ließen sich mit Hilfeleistungen oft genug Zeit. Dass das Verhältnis zwischen den Frauen an den Maschinen und den Mechanikern bis zum Ende der DDR gespannt blieb, mag daher kaum überraschen (vgl. S. 169 f.). Insgesamt lassen die interviewten Frauen erkennen, dass der entscheidende Anteil an sozialer Kommunikation im Betrieb von den Arbeiterinnen und dabei vor allem von den Leiterinnen erbracht werden musste. Annegret Schüle bezeichnet dies als „weibliche Beziehungsarbeit“, die die traditionell weibliche Aufgabenzuschreibung nicht aufhob, sondern nur modifizierte: „Die Frauen kümmerten sich mehr um die Menschen, weniger um die Technik. „ (vgl. S. 179) In der Konsequenz bedeutete dies, dass Frauen in Leitungsfunktionen häufig mit politischer Vorgaben „von oben“ identifiziert wurden, vor allem in der männlichen Perzeption. Waren aufgestiegene Frauen eher bereit, die institutionelle Politisierung des Arbeitsalltags in der Baumwollspinnerei mitzutragen, so verhielten sich männliche Arbeiter politisch eher defensiv (vgl. S. 186).

Hinsichtlich der Emanzipationschancen in der Baumwollspinnerei verdeutlicht sich für Annegret Schüle der hohe Stellenwert der Erwerbsarbeit in der DDR. Insbesondere für die allein erziehenden Interviewpartnerinnen zeigte sich, dass die Arbeit Möglichkeiten schuf, die – wenn auch subtile – gesellschaftliche Ausgrenzung durch berufliche Integration zu umgehen (vgl. S. 202).

Die fürsorgliche Betriebsfamilie

Die Brigaden als gemeinschaftsstiftende Institutionen der Arbeitswelt in der DDR finden sich auch in den Interviews von Annegret Schüle wieder. Den Schwerpunkt ihrer Untersuchung bildet dabei allerdings weniger der innerbetriebliche Wettbewerb um Prämien und Sozialleistungen, sondern das Brigadeleben allgemein (vgl. S .230 ff.). In Anbetracht der Vielzahl von reinen Frauenbrigaden in der Baumwollspinnerei fragt Annegret Schüle danach, wie Frauen diese Institution im Sinne ihrer eigenen Interessen gestalteten. Auch wenn die Autorin anhand der Interviews verdeutlichen kann, dass die innerbetriebliche Interessenpolitik in der Bewertung der Brigaden zugunsten erlebter Vergemeinschaftung zurücktritt, kann ihre Argumentation für eine spezifisch weibliche Identifikation und Ausgestaltung der Brigaden in der Baumwollspinnerei nicht überzeugen (vgl. S. 249). Letzteres lässt sich ohne gleichwertige Vergleichsfälle kaum nachweisen, zudem führt die Diskussion lebensweltlicher Bedürfnisse der Frauen und traditionell weiblicher Versorgungsaufgaben über die betriebliche Sphäre hinaus (Ebd.). Dass in den Brigaden in zunehmendem Maße lebensweltliche Bedürfnisse und Aspekte kultureller Vergemeinschaftung (Brigadeabende und Ausflüge) gegenüber sozialen Interessenkonflikten in den Vordergrund traten, war –betrachtet man die Forschung zur Sozialgeschichte der DDR – kein alleiniges Phänomen von Frauenbetrieben (vgl. S. 244). Gegenteiliges dürfte anhand einer einzelnen Betriebsstudie kaum nachzuweisen sein. Interessant erweist sich dagegen die Frage nach dem Umgang mit „renitenten Arbeiterinnen“ und ausländischen Arbeitskräften. Die Auseinandersetzung mit Kolleginnen, die sich der Arbeit entzogen oder Rauch- und Trinkverbote nicht einhielten, wurde vor allem auf den unteren Ebenen der Betriebshierarchie geführt. Dabei zeigten sich die schon zu Beginn der Studie angeführten Generationsunterschiede erstaunlich wirkungsmächtig. Dem Matriarchat der älteren Generation widersetzten sich die jungen Lehrlinge durch Desinteresse und offene Verweigerung (vgl. S. 275). Dass Arbeitskollektive Familienfunktionen im übertragenen Sinne übernehmen konnten, verdeutlichte sich auch im Umgang mit ausländischen Arbeitskräften. Die von Annegret Schüle befragten Frauen aus der Baumwollspinnerei erinnern vor allem die schwierige Integration der ausländischen Arbeitskräfte in die Betriebsfamilie (vgl. S. 286). Das Überlegenheitsgefühl der deutschen Arbeiterinnen erklärt sich für die Autorin zum einen aus der schlichten Unkenntnis der Lebensbedingungen der Frauen aus Vietnam, Mosambik und Angola. Darüber hinaus verklärte der Blick auf die Probleme mit den ausländischen Arbeitskräften die eigene, auch für deutsche Arbeitskräfte oft unzureichende Situation am Arbeitsplatz. Fehlende Gestaltungsmöglichkeiten wurden auf diese Weise durch fürsorgliche Zurechtweisung der Neuankömmlinge kompensiert (vgl. S. 289).

Annegret Schüle ist eine überzeugende Studie zur Erfahrungsgeschichte weiblicher Industriearbeit gelungen. Die Vielschichtigkeit weiblicher Arbeitserfahrungen in der Leipziger Baumwollspinnerei wird dabei anhand der Frage nach Geschlechterdifferenz, Aufstiegsmustern und Vergemeinschaftungsformen eindrucksvoll beschrieben. Eine stärkere Einbeziehung betriebsgeschichtlicher Quellen hätte der Argumentation an einigen Stellen des Buches sicher mehr Stichhaltigkeit verschafft. Dennoch verdeutlicht sich anhand der Untersuchung allemal, dass die patriarchal-paternalistische Verfasstheit der DDR-Gesellschaft in der von Frauen getragenen familiarisierten Betriebskultur nicht aufgebrochen, sondern in ihrer eigentümlichen und ambivalenten Verbindung von Geborgenheit und Unterordnung reproduziert wurde (vgl. S. 349). Auch auf der Ebene der Geschlechterbeziehungen blieb die DDR eine „Diktatur der Grenzen“.

URN urn:nbn:de:0114-qn023125

Albrecht Wiesener

Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

E-Mail: wiesener@zzf-pdm.de

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