Forschungsgeschichtliche Überblicksdarstellung

Rezension von Irmela von der Lühe

Jutta Osinski:

Einführung in die feministische Literaturwissenschaft.

Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998.

216 Seiten, ISBN 3–503–03710–1, DM 29,80 / sFr 27,50 / ÖS 218,00

Abstract: Jutta Osinskis Band zeigt, in welchem Maße feministische Literaturwissenschaft einseitige, männerdominierte Fragestellungen ihrerseits in Frage zu stellen vermag, und in welchem Maße sie sich zugleich selbst auf ihre theoretischen Paradigmen und methodischen Implikationen hin zu befragen hat.

Man müßte die feministische Literaturwissenschaft erfinden, wenn es sie nicht gäbe. Von dieser Ansicht geht der vorliegende Band aus (S. 10), dem aber zugleich die Skepsis gegenüber letzten Wahrheiten in Fragen der Literatur- und Geschlechterforschung zugrunde liegt. Diese kritisch-engagierte Perspektive auf ein Forschungsgebiet, das seit gut zwanzig Jahren Konjunktur hat, eine Vielfalt von ‚Methoden‘ (von der sozialgeschichtlich-ideologiekritischen zur psychoanalytischen, von der diskursanalytischen zur dekonstruktivistischen), Etikettierungen (von der Frauenforschung zu den „Gender Studies“) und thematisch oder theoretisch je unterschiedlich akzentuierte Einzelstudien hervorgebracht hat, bestimmt das gesamte Buch. Im anspruchsvollen Wortsinne kann es damit tatsächlich als Einführung dienen.

Es will die thematisch vergleichbaren Arbeiten von Toril Moi (1989), Karin Fischer (1992), Renate Kroll (1995) und Lena Lindhoff (1995) nicht ersetzen, es bietet indes anders als die genannten eine ebenso instruktive wie anschauliche Verknüpfung zwischen Überblicksdarstellung und Detailanalyse. Der in der Einleitung geäußerten Ansicht folgend, stehen am Anfang (S. 11ff.) zwei exemplarische Textanalysen (Gottfried Keller: Der Landvogt von Greifensee; Ida Hahn-Hahn: Gräfin Faustine, an denen die vorgebliche Objektivität einer geschlechterneutralen Lektüre demontiert und der Erkenntnisgewinn einer „geschlechterbewußten“ Lesart literarischer und wissenschaftlicher Texte demonstriert wird. Die beiden großen Themenfelder feministischer Literaturwissenschaft, die Analyse von Geschlechtsrollenzuschreibungen in literarischen Texten von Männern und Frauen und die systematische Erforschung von Leben und Werk wenig bekannter bzw. vergessener Autorinnen, werden also schon zu Beginn beispielhaft beschrieben und ihre methodischen und systematischen Implikationen benannt. Auch in den folgenden Kapiteln versucht die Verfasserin immer wieder, theoretische Prämissen anläßlich einzelner Texte bzw. Deutungsvorschläge zu erläutern bzw. zu verifizieren (vgl. S. 85ff. über Shoshana Felmans Aufsatz „Rereading Femininity“ und Balzacs Erzählung „La fille aux yeux d’or“). Dem liegt die einleuchtende, indes nicht mehr durchweg akzeptierte Überzeugung zugrunde, daß literatur- und geschlechtertheoretische Positionen ihre Plausibilität nicht ausschließlich und schon gar nicht vordringlich aus sich selbst, sondern aus ihrer Fähigkeit beziehen, Texte und Lektürepraktiken zu erhellen, Perspektiven zu korrigieren, Leerstellen der Überlieferung bzw. des Verstehens als solche sichtbar zu machen.

Eben diesen Anspruch wendet Jutta Osinski auch auf ihren Gegenstand an. Sie zeigt, in welchem Maße feministische Literaturwissenschaft einseitige, männerdominierte Fragestellungen ihrerseits in Frage zu stellen vermag, und in welchem Maße sie sich zugleich selbst auf ihre theoretischen Paradigmen und methodischen Implikationen hin zu befragen hat. Aus gutem Grund bietet daher das umfangreiche erste Kapitel (S. 23–124) eine nach Dezennien gegliederte Entwicklungs- und Problemgeschichte des Themas. „Über die internationale Frauenbewegung, die Rezeption von Simone de Beauvoirs „Das andere Geschlecht“ (1949/1951), die Entstehung der „Weiberräte“, die Frauenpolitik der DDR, das heißt über die Entwicklung des politischen Feminismus der letzten 50 Jahre wird knapp informiert; es folgen – orientiert an wichtigen Namen und Positionen (Kate Millet, Juliet Mitchell, Hélène Cixous, Luce Irigaray; women‘s studies, écriture féminine etc.) – Informationen zur theoretischen und gedanklichen Grundlegung der Geschlechterforschung seit den 70er Jahren. Dies mag den Kennerinnen oder gar Protagonistinnen ein wenig schematisch erscheinen; natürlich ist auch die Einteilung in Jahrzehnte nicht durchweg stimmig (so hat zum Beispiel S. Bovenschens Die imaginierte Weiblichkeit (1979) weit in die 90er Jahre gewirkt), dennoch wird durch eine solche Darstellung ein wichtiges Anliegen der Geschlechterforschung auf diese selbst angewandt: der Nachweis des interessen- und kontextgebundenen Paradigmenwandels im Umgang mit Theorien und Modellen.

Nicht nur Geschlecht als soziale und kulturelle Kategorie, auch die forschungsgeschichtliche Darstellung im vorliegenden Band erweist sich als Konstruktion (S. 9). Als Konstruktion allerdings nicht im Sinne von Fiktion oder willkürlicher Setzung, sondern als sozial und mental, politisch oder wissenschaftstheoretisch gesteuerter, das heißt als ein sich stets verändernder Prozeß der Verständigung. Es ist ein Vorzug des Buches, daß es die seit den 80erJahren einsetzende (Über)-Theoretisierung der feministischen Literaturwissenschaft im Anschluß an poststrukturalistische Subjekt- und Differenztheorien (S. 78ff.) ausgesprochen verständlich, fair und zudem unter Verzicht auf jene metaphorisierende Metasprache nachzeichnet, die insbesondere seit der feministischen Derrida-Lektüre und der deutschen Butler-Diskussion als Garant besonderer Wissenschaftlichkeit bzw. luziden Theoriebewußtseins gelten.

Auch das zweite große Kapitel (S. 125ff.), in dem in systematischer Perspektive „Grundmodelle“ (S. 137ff.) einer feministischen Literaturwissenschaft vorgeführt werden, ist zur einführenden Orientierung sehr gut geeignet. Es verbindet die historische mit der systematischen Perspektive, erläutert Vorzüge, aber auch Grenzen einzelner Modelle und resümiert abschließend Themen- und Forschungsfelder einer feministischen Literaturtheorie: Text- und Autorbegriff, Kanonfragen, Literaturgeschichtsschreibung.

Die Erträge eines seit 25 Jahren entwickelten Forschungsgebiets im Bereich theoretisch-methodischer und systematisch-literaturgeschichtlicher Arbeiten, aber auch im Bereich von Editionen, Werkmonographien und Biographien von Autorinnen konnten gewiß nicht im Detail entfaltet werden, wohl aber sind sie in eine ebenso lehrreiche wie gut lesbare forschungsgeschichtliche Überblicksdarstellung eingeflossen.

URN urn:nbn:de:0114-qn011135

Prof. Dr. Irmela von der Lühe

Seminar für Deutsche Philologie der Universität Göttingen, Jacob-Grimm-Haus, 37073 Göttingen

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