Ein nicht-erwerbszentrierter Blick auf die Geschlechterverhältnisse in der DDR und Ostdeutschland

Rezension von Sylka Scholz

Susanne Stolt:

Zwischen Arbeit und Liebe.

Eine empirische Studie zum Wandel der Geschlechterbeziehungen in Ostdeutschland nach der Wende.

Kassel: Kassel University Press 2000.

291 Seiten, ISBN 3–933146–39–9, DM 98,00 / € 50,10 (Buch), DM 68,00 / € 34,76 (CD-ROM), DM 30,00 / € 15,33 (PDF-Download)

Abstract: Im Mittelpunkt des Buches von Susanne Stolt steht die Frage nach alltäglichen Geschlechterbeziehungen in Ostdeutschland nach der Wende und der individuellen Suche nach Anerkennung von Männern und Frauen. Theoretisch stützt Stolt sich dabei v.a. auf den psychoanalytisch geprägten Ansatz von Jessica Benjamin mit der Fokussierung auf das Anerkennungsproblem und empirisch auf qualitative Interviews von Frauen und Ehepaaren. Sie distanziert sich von „erwerbszentrierten Perspektiven“, die die Dominanz des Erwerbssystems und die Abwertung von Fürsorgearbeit fortschreiben und damit die in die Erwerbssphäre eingeschriebene männliche Herrschaft reproduzieren.

Die Widerständigkeit der Empirie

In der Einleitung ihres Buches legt Susanne Stolt ausführlich dar, wie sich im Prozess der Forschung das Anliegen ihrer Untersuchung veränderte von der Frage nach dem Wandel im Leben und Alltag ostdeutscher Frauen seit der Wende und den damit verbundenen Brüchen und Kontinuitäten hin zu den alltäglichen Geschlechterbeziehungen und der individuellen Suche nach Anerkennung. Diese Modifikation resultierte aus der Auseinandersetzungen mit den von ihr erhobenen Interviews: Im Gegensatz zu ihren Erwartungen waren zum einen die Folgen der Wende hinsichtlich der Veränderungen im Erwerbsbereich weniger eindeutig als vermutet, zum anderen hatten alle Frauen eine starke Familienorientierung.

Um nun die Interviews angemessen interpretieren zu können, musste die Autorin ihre „erwerbszentrierte“ (S. 9) Perspektive aufgeben. Darunter versteht sie die in weiten Teilen der Frauenforschung verbreitete Ansicht, dass die gleichberechtigte Teilhabe der Frauen an der Erwerbssphäre die Voraussetzung für deren Emanzipation und weitergehend für den Abbau der Geschlechterhierarchie ist. Ausgehend von dieser Sichtweise, so ihr Argument, kann die in allen Interviews vorgefundene Familienorientierung der Frauen nur als rückständig und traditionell interpretiert werden.

Die Arbeit am empirischen Material führte Susanne Stolt zu einer weitreichenden Kritik der Frauenpolitik der DDR sowie der vorliegenden Analysen zum Geschlechterverhältnis in der DDR und zu der Frage nach den Bedingung der Reproduktion männlicher Herrschaft. Im ersten Teil des Buches formuliert sie ausgehend von den genannten Analysen „neue Ansatzpunkte für eine Analyse der Geschlechterverhältnisse in der DDR“, die „über die Arbeit hinaus“ (S. 15) gehen. Diesem sehr umfangreichen Teil folgt im zweiten die Darstellung der theoretisch-methodischen Anlage der Studie und die Auswertung der 15 Interviews, davon 12 mit Frauen und drei mit Männern. Im Mittelpunkt der Auswertung stehen die Interviews mit drei Ehepaaren.

Die Reproduktion männlicher Herrschaft in der DDR

Als Ursache für Geschlechterhierarchie und -ungleichheit in der DDR gilt in den Analysen von u. a. Hildegard M. Nickel, Irene Dölling, Ursula Beer und Jutta Chalupsky die Aufrechterhaltung und permanente Reproduktion der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung: Zwar wurden die Frauen in der DDR in das Erwerbssystem integriert, blieben jedoch, wenn auch mit umfangreichen Unterstützungen durch den Staat, für die Familienarbeit verantwortlich. Im Mittelpunkt der meisten Arbeiten steht die Verschlechterung der Erwerbssituation ostdeutscher Frauen nach der Wende und der daraus resultierende Verlust an Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit. Dieser „Verlustdiskurs“ (S. 270) und die „erwerbszentrierte Perspektive“ der jeweiligen Autorinnen, so die Kritik von Susanne Stolt, hat den Blick auf eine weitreichende Analyse der männlichen Herrschaft in der DDR versperrt, weil auf diese Weise die Dominanz des Erwerbssystems und die Abwertung von Fürsorgearbeit fortgeschrieben wird.

Männliche Herrschaft, so Susanne Stolts Ausgangsthese, reproduziert sich durch die strukturelle und kulturelle Dominanz der Erwerbssphäre, in die sie immer schon eingeschrieben ist. Schlüssig zeigt die Autorin wie sich diese Dominanz in modernen Gesellschaften herausgebildet hat und wie männliche Herrschaft durch z. B. den „Normalarbeitstag“ und „Normalarbeitsbiographie“ institutionalisiert wurde. Persönliche Herrschaft hat sich in eine strukturelle transformiert und ist deshalb auch so schwierig als solche zu erkennen.

Auch die DDR als moderne Gesellschaft hielt an der Dominanz der Erwerbssphäre fest und hat sie durch zwei Aspekte wesentlich verstärkt: ideologisch durch die „sozialistische Arbeitsutopie“ (S. 93), welche davon ausgeht, dass Selbständigkeit und Emanzipation der Individuen nur durch Erwerbsarbeit zu erlangen seien und strukturell durch ihre Funktionsweise als „Arbeitsgesellschaft“.

Neben diesem eher strukturtheoretischen Ansatz greift Susanne Stolt zur Erklärung männlicher Herrschaft auf die Anerkennungstheorie bzw. interaktionistische Theorie von Jessica Benjamin zurück. Benjamin geht davon aus, dass die Individuierung des Menschen nur durch eine „paradoxe Anerkennung“ (S. 67) möglich sei: Autonomie könne der Mensch nur durch Bindung und damit Abhängigkeit erlangen. In modernen Gesellschaften seien Autonomie und Bindung geschlechtsspezifisch polarisiert und in ein hierarchisches Verhältnis gesetzt worden, was bei den Individuen zu „fehlgelaufenen Anerkennungsbeziehungen“ (S. 72) führe, die Ausgangspunkt von Herrschaft seien.

Diese „fehlgelaufenen Anerkennungsbeziehungen“ resultieren aus der „kulturellen Organisation von Elternschaft“ (S. 73), in der die Mutter die erste Bezugsperson für Jungen und Mädchen ist. Ausführlich stellt Stolt den notwendigen Differenzierungsprozess von der Mutter dar, wie ihn Benjamin in ihrem psychonanalytischen Ansatz formulierte. Resultat dieses „falschen“ (S. 72) Differenzierungsprozesses ist die Orientierung der Mädchen auf Bindung und Familie und der Jungen auf Autonomie und Erwerbsarbeit. Darüber hinaus (re-)produziert er die gesellschaftliche Abwertung von „weiblichen“ Bindungen und Fürsorge und die Idealisierung „männlicher“ Autonomie. Dieser Sozialisationsprozess hängt weniger von den realen Müttern und Vätern ab, sondern ist eher als ein „kulturell-symbolischer Prozeß“ (S. 81) zu verstehen.

Von Benjamins Polarisierungsthese ausgehend zeigt Susanne Stolt, wie die instrumentelle Vernunft bzw. formale Rationalität zum vorherrschenden Prinzip in allen Lebensbereichen moderner Gesellschaften wird und so die Abwertung und Marginalisierung von Fürsorge und Bindungen bedingt. Diese instrumentelle Vernunft liegt nicht nur der „Arbeitsutopie“ (S. 95) von Karl Marx zu Grunde, sondern auch der „sozialistischen Arbeitsutopie“ der DDR, die damit „Ausdruck männlicher Hegemonie (ist) wie das Ideal der individuellen Autonomie und der freien Wirtschaft“ (S. 93). Obwohl ich diese Analyse sehr überzeugend finde, ist mir ihre Herleitung aus der Polarisierungsthese nicht schlüssig. Dies gilt eben so für den fehlgeleiteten Differenzierungsprozess, der als ein kulturell-symbolischer deklariert, aber nicht genügend fundiert wird.

Die Autorin geht davon aus, dass Emanzipation in der Erwerbssphäre nicht gelingen kann, zum einen weil männliche Herrschaft mit dieser Sphäre fest verwoben ist, zum anderen weil die Autonomie, die dort erreicht werden kann, immer prekär bleiben muss, denn sie verleugnet Bindung und Abhängigkeit. Ihre Kritik an den Emanzipationsvorstellungen der DDR zielt also über sie hinaus und richtet sich auf westliche moderne Gesellschaften insgesamt.

Die Suche nach Anerkennung

Die Auswertung der Interviews geht nun nicht der Frage nach, wie die Individuen die herausgearbeiteten Strukturen (re-)produzieren, was eigentlich Anliegen des „interpretativen Paradigmas“ (S. 104) ist, auf das sich die Autorin ausdrücklich bezieht, sondern analysiert die „je individuellen Suchbewegungen, die Ausdruck des Wunsches nach Anerkennung“ (S. 102) sind. Die Autorin geht davon aus, dass Männer und Frauen gerade wegen der „fehlgeleiteten Anerkennungsbeziehungen“ durch den frühkindlichen Differenzierungsprozess auf der Suche nach individueller Anerkennung sind.

Die Analysen der drei Ehepaare Ewald, Koch und Oswald bieten einen umfangreichen und sehr detailierten Einblick in die Veränderungen des Alltags nach der Wende; in die Probleme, die vor allem für Frauen durch die nun stärkere Polarisierung der Bereiche Beruf und Familie und den Wegfall der „sozialpolitischen Maßnahmen“ entstanden sind und in die Anstrengungen, die ausgeprägten Lebensorientierungen unter den neuen Bedingungen weiter zu verwirklichen. Zum Problem wird, so Susanne Stolt, für die einzelnen Frauen, dass sie Autonomie immer nur in der Erwerbssphäre verwirklichen können, eben weil die Fürsorgearbeit sowohl von ihren Partnern als auch von ihnen selbst nicht wirklich anerkannt und zur Quelle von Autonomie werden kann. Diese Abwertung ist für die Autorin eine Folge der auf Erwerbsarbeit verkürzten Frauenpolitik der DDR.

Die Analysen der Männerinterviews zeigen, wie die neuen Bedingungen zu einer verstärkten Orientierung auf den Beruf führen und damit die bisherigen Arrangements in den Partnerschaften belasten, in einem Fall auch zerbrechen lassen. Einher geht mit dem verstärkten beruflichen Engagement eine Verstärkung der Geschlechterhierarchie in den Partnerschaften. Dass die Männer berufsorientiert sind, ist für die Autorin entsprechend Benjamins Ansatz nicht erklärungsbedürftig. Hier liegt für mich genauso wie hinsichtlich der starken Familienorientierung der Frauen aber ein Erklärungsbedarf. Dies gilt um so mehr als eine der Frauen eine starke Berufsorientierung hat und zwei der Männer zumindest zu DDR-Zeiten sich neben dem Beruf fürsorglich um die Kinder und die Partnerin kümmerten. Diese Orientierungen müssten in ihrer Genese biografisch rekonstruiert werden.

Insgesamt bringen die Ergebnisse zu Veränderungen des Alltags und des Lebens ostdeutscher Frauen keine neuen Ergebnisse, die nicht aus anderen Studien schon bekannt wären. Die Stärke der Untersuchung liegt darin, mit der Fokussierung auf das Anerkennungsproblem sowohl von Frauen als auch von Männern die vielfältige Spannungsverhältnisse aufzeigen, die aus den strukturellen und kulturellen Verhältnissen resultieren. Leider wird durch diese Fokussierung die Frage nach der Reproduktion männlicher Herrschaft vernachlässigt. Gerade wenn sich männliche Herrschaft heute nicht mehr als persönliche Herrschaft, sondern als strukturelle und kulturell-symbolische hervorbringt, stellt sich die Frage nach ihrer Reproduktion um so mehr. Die Konstituierung männlicher Herrschaft in der DDR weit über das Maß vorliegender Analysen aufgezeigt zu haben, ist m. E. das große Verdienst der Studie.

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URN urn:nbn:de:0114-qn023115

MA Sylka Scholz

Universität Potsdam

E-Mail: scholz@rz.uni-potsdam.de

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