Diktatur der Seele

Rezension von Angelika Ebrecht

Ingrid Kerz-Rühling, Thomas Plänkers (Hg.):

Sozialistische Diktatur und psychische Folgen.

Psychoanalytisch-psychologische Untersuchungen in Ostdeutschland und Tschechien.

Tübingen: edition diskord 2000.

218 Seiten, ISBN 3–89295–686–3, DM 32,00 / SFr 32,00 / ÖS 234,00

Abstract: Der Aufsatzband stellt überwiegend empirische Untersuchungen vor, in denen die psychischen Wirkungen totalitärer Einflussnahme ehemals sozialistischer Staaten auf ihre Bürger untersucht werden. Einige dieser Aufsätze versuchen, die dargestellten Phänomene mit Hilfe psychoanalytischer Begriffe zu erklären (wie etwa mit dem Begriff des totalitären Objekts). Für die Frauen- und Geschlechterforschung bietet dieses Buch nur indirekte Denkanstöße.

Das implizite Versprechen, das der Obertitel des vorliegenden Sammelbandes enthält, nämlich die psychischen Folgen sozialistischer Diktatur zu untersuchen und zu erklären, löst nur etwa die Hälfte der Beiträge ein. Der Erkenntnisgewinn der anderen bleibt hingegen eher oberflächlich und plakativ. Sie befassen sich eben nicht mit den „psychischen Auswirkungen der staatlichen Einflußnahme auf die elterliche Erziehung, das schulische Bildungssystem und die Arbeitssituation in Betrieben“ und versuchen auch nicht wirklich, „Folgen der Überwachung“ wie etwa „das Auftreten von Krankheitsphänomenen besser zu verstehen“ (S. 8). Denn sie vernachlässigen jene Qualität, die die Psychoanalyse gegenüber anderen sozialwissenschaftlichen Methoden und Theorien auszeichnet: differenzierte Aussagen nicht nur über das Was, sondern gerade auch über das Wie von Konflikten und Konfliktlösungen treffen zu können. Und eben diese so wichtige wie faszinierende Qualität geht bei der hier präsentierten Art, komplexe Zusammenhänge auf einfache empirische Fragetechniken zu reduzieren, oftmals verloren. Eine derartige Perspektive erfasst gerade nicht eine irgendwie geartete Objektivität, sondern verzerrt, vereinfacht und entleert die so komplexe wie widersprüchliche subjektive psychische Realität.

Wenn etwa Ulrich Bahrke, Ronald Wittwar und Henrike Wolf bei ihrer Untersuchung über den Einfluss ideologisch-sozialer Faktoren auf die Entstehung psychotherapiebedürftiger Erkrankungen in der ehemaligen DDR (S. 13–35) vermuten, „daß das psychosomatische Erkrankungsrisiko bei Lehrern“ von ihrer „Rolle als Ideologievermittler mitbestimmt wurde“ (S. 15), so stellen sie weder die Frage, wie eine soziale Rolle psychisch verankert ist noch welchen Einfluss diese Rolle auf psychische Konflikte haben kann. Und der Versuch, die Angaben aus den Krankenakten mit Hilfe des ICD-10 und 1994/95 durchgeführter Interviews nachträglich diagnostisch zu verschlüsseln, lässt sowohl das aktuelle als auch das damalige Übertragungsgeschehen außer Acht. Wenn gar „vom Vorhandensein eines ideologischen Konfliktfeldes“ immer dann ausgegangen wird, „wenn in der Fokusdiagnose eine Auslöse- oder Konfliktsituation auf politisch-ideologischem Gebiet beschrieben wurde“ (S. 20), tritt die Psychodynamik vollends hinter der äußeren Realität zurück. Somit ist das Ergebnis der Studie, dass für Pädagogen wie für Nicht-Pädagogen „ideologie- und systembedingte Belastungsmomente psychodynamisch weniger relevant als beispielsweise Partnerschafts- oder Berufskonflikte“ waren (S. 32), psychodynamisch wenig aussagekräftig.

Spannender ist Ingrid Kerz-Rühlings, Thomas Plänkers und René Fischers Text über die psychische Verarbeitung der politischen Wende von 1989 (S. 37–90). Einleitend stellen sie dar, dass und warum in den totalitären Gesellschaften des ehemaligen Ostblocks Lehrer wie Kinder kaum die Möglichkeit hatten, „politische Indoktrinierung“ und staatliche Herrschaft über die Innenwelt kritisch zu reflektieren (S. 39). Sie fragen nach den psychischen Abwehr- und Bewältigungsmechanismen der Anpassungsforderungen und beschreiben diese Mechanismen als „Aufspaltung“ in eine „doppelte“, eine parteikonforme und eine private Identität, als Festhalten an einem „präautonomen Überich“ (S. 45 f.). Das zeige sich etwa in persekutorischen Strafängsten sowie in Versuchen, einen „homogenen Gruppenraum zu schaffen“ (S. 59 f.). Allerdings erklären die Autoren nicht hinlänglich differenziert, wie sich erwachsene und kulturell verankerte „Abhängigkeiten von äußeren Autoritäten“ in totalitären Gesellschaften von den frühkindlichen oder gar von den demokratischen Formen der Abhängigkeit und Autorität unterscheiden (S.61 ff.). Hier erscheint es eher als hilfloser Versuch, mit Donald W. Winnicott schlicht von einer nicht hinreichend entwickelten Fähigkeit zum Alleinsein auszugehen. Denn die tritt ja ebenfalls in vielen anderen (pathologischen wie nicht-pathologischen) Erscheinungsformen auf. Auch trifft es nicht zu, dass etwa Zivilcourage und politischer Widerstand erst wenig untersucht sind. Vernachlässigt werden etwa die Studien zum demokratischen Charakter von Alex Inkeles, Harold D. Lasswell, Gesine Schwan u. a. oder die Arbeiten zum moralischen Charakter von Roger Money-Kyrle.

Elmar Brählers, Jörg Schumachers und Martin Eismanns (S. 91–118) Versuch, das erinnerte elterliche Erziehungsverhalten in Ost und West zu vergleichen und zur aktuellen Befindlichkeit in Beziehung zu setzen, kommt gegen die bekannten Thesen von Christian Pfeiffer zu dem Schluss, „daß sich die familiäre Erziehung in Ost und Westdeutschland auch vor der Wiedervereinigung insgesamt stärker ähnelte als unterschied“ (S. 93). Immerhin habe es auch in der ehemaligen DDR „seit Beginn der 80er Jahre einen Wandel der familialen Lebensformen mit einer stärkeren Pluralisierung der Lebenslagen und eine Hinwendung zu […] Werten wie Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung, Individualität und materiellem Wohlstand gegeben.“ (S. 92) In diesem Text fehlt nun freilich weitgehend der Blick auf die innerpsychischen Verarbeitungsmechanismen der äußeren Konflikte.

Völlig fehlt er dann in dem Aufsatz von Francesca Weil über soziale Verhaltensmuster und ihre Veränderungen im Arbeitsalltag 1970–1997 (S.141–163). Es ist nicht klar, warum dieser Text überhaupt in den Band aufgenommen wurde, zumal er thematisch aus dem Rahmen fällt und einen geradezu sträflich nachlässigen Umgang mit der Sprache betreibt: „Mit den kulminierenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten […] nahmen ‚Beziehungsstrukturen‘ im privaten Bereich wie in der betrieblichen Sphäre immens zu. Dadurch veränderten sich die sozialen Beziehungen, sie wurden immer mehr von materiellen Werten dominiert.“ (S. 156) Der Autorin scheint jeglicher Begriff von unbewussten Konflikten zu fehlen, wenn sie aufgrund von Interviews meint behaupten zu können, es sei in den ostdeutschen Betrieben über Jahre „fast immer harmonisch und kollegial“ zugegangen (S. 160).

Die Erhebung von Erdmuthe Fikentscher und Tom Alexander Konzag über Persönlichkeitsmerkmale und Familientypologie ost-westdeutscher Psychotherapiepatienten (S. 119 – 140) nimmt zwar oberflächlich gesehen auf innerpsychische Konflikte Bezug. Sie tut das aber mit Hilfe einer sehr schematischen typologischen Umsetzung der OPD-Diagnostik. Das Ergebnis, dass „die Gemeinsamkeiten gegenüber den Unterschieden“ überwiegen (S.138), erscheint auf diesem Hintergrund so wenig verwunderlich wie inhaltlich ausdifferenziert.

Anschaulich und informativ schildert Helmut Müller-Engbers (S. 165–195) anhand von Auszügen aus den Stasi-Akten die von ehemaligen DDR-Bürgern dem MfS gegenüber praktizierte Kunst der Verweigerung. Das wirksamste Mittel der Verweigerung sei die „Dekonspiration“ gewesen, aber auch andere Strategien wie etwa eine Bereitschaft vorzutäuschen, sich zu entziehen und psychische Belastungen oder moralische Gründe anzuführen, hätten sich als wirksam erwiesen. Leider unterlässt dieser Aufsatz es ganz, solche Versuche psychoanalytisch zu verstehen.

Den inhaltlichen Höhepunkt und den Abschluss des Bandes bildet ein Text des tschechischen Lehranalytikers Michael Sebek. Sebek erläutert theoretisch differenziert und doch erfahrungsnah (an zwei Fallbeispielen), was er unter dem Schicksal der totalitären Objekte versteht (S. 197–216). Totalitär nennt er archaische, präödipale verfolgende Objekte, die in allen Individuen und in jeder Gesellschaft vorhanden sind. Sie haben ihm zufolge religiöse wie auch mythologische Wurzeln im Altertum (S. 198). Indem sie auf äußere Autoritäten rückprojiziert werden, verankern sie deren Herrschaft im Inneren der Menschen. Das sei in totalitären Gesellschaften häufiger und nachhaltiger der Fall. Von den zahlreichen Bestimmungen totalitärer Objekte, die Sebek anführt, sei hier lediglich erwähnt, dass diese keine Differenz dulden und völlige Unterwerfung fordern. Wenngleich das Konzept noch viele Fragen offen lässt (etwa wie totalitäre Objekte ihren absoluten Machtanspruch einbüßen und was dann an ihre Stelle tritt), bietet es doch einen Erklärungsansatz, der zum Weiterdenken anregt.

Insgesamt sei den wohlwollend interessierten Leser/-innen anheim gegeben, ob sie sich beim Durchblättern des Bandes von den in ihm durchaus gegebenen Denkanstößen zum Kauf anregen lassen. Wer allerdings ausdrücklich an den empirischen Untersuchungen zum Thema interessiert ist, mag schon eher auf seine Kosten kommen. Nicht zuletzt bleibt anzuerkennen, dass der Band die gegenwärtig eher vernachlässigte Tradition der psychoanalytisch orientierten Politischen Psychologie aufrechterhält und weiterentwickelt.

URN urn:nbn:de:0114-qn023082

Dr. Angelika Ebrecht

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