Die vergessenen Frauen des Bundestags

Rezension von Vera Urban

Regine Marquardt:

Das Ja zur Politik: Frauen im Deutschen Bundestag 1949–1961.

Ausgewählte Biographien.

Opladen: Leske+Budrich 1999.

340 Seiten, ISBN 3–8100–2274–8, DM 58,00 / € 29,65/ ÖS 423,00/ SFr 44,50

Abstract: Die Autorin Regine Marquardt hat sich die Aufgabe gestellt, „den politischen Werdegang, die Wirkung, das Selbstverständnis und die Bedeutung von Politikerinnen aus der Anfangszeit der neu gegründeten Bundesrepublik“ darzustellen und zu analysieren (S. 13). Nach einer knappen Darstellung der politischen Charakteristika des ausgewählten Zeitrahmens der ersten drei Legislaturperioden des Deutschen Bundestages (1949–1961) und der Geschlechterverhältnisse dieses Zeitraums stellt sie in ihrem Band den Werdegang von sieben Parlamentarierinnen vor. Der Schwerpunkt ihrer Darstellung liegt auf frauenpolitischen Aspekten des Wirkens der Politikerinnen.

Bei den untersuchten Politikerinnen handelt es sich um Maria Ansorge (1880–1955) SPD, Helene Weber (1881–1962) CDU, Louise Schröder (1887–1957) SPD, Elisabeth Schwarzhaupt (1901–1987) CDU, Marta Schanzenbach (1907–1997) SPD, Käte Strobel (1907–1996) SPD und Margot Kalinke (1907–1981) CDU. Die biografische Studie behandelt demnach Parlamentarierinnen, die zur Zeit der Bundesrepublik den zwei großen Volksparteien angehört haben.

Die Quellenbasis des Bandes besteht aus zeitgenössischen Dokumenten und Archivmaterialien, teilweise auch aus Interviews mit den Politikerinnen selbst (Schanzenbach und Strobel) oder auch Familienangehörigen (den Enkeltöchtern von Maria Ansorge). Regine Marquardt hat in verschiedenen Archiven und Pressestellen geforscht, wobei man allerdings den Eindruck gewinnt, dass die Bündelung der Materialfülle sich sehr schwierig gestaltet hat.

Sie beginnt Forschungslücken zu schließen, in dem sie beispielsweise das Leben und Wirken von Strobel und Kalinke bearbeitet, zwei bislang stark vernachlässigte politische Persönlichkeiten der Nachkriegszeit der Bundesrepublik. Wichtig ist hierbei auch die Erforschung der Aktivitäten der weiblichen Bundestagsangehörigen zur Zeit des Nationalsozialismus, da diese Periode bislang selten behandelt und auch in offiziellen Veröffentlichungen des Bundestages ausgespart wird. Beispielsweise kann Regine Marquardt durch mit den Enkelinnen Ansorges geführte Interviews und durch die Untersuchung von Archivmaterial neue Erkenntnisse zum Leben der SPD-Politikerin Ansorge im „Dritten Reich“ liefern. Vor allem geben ihre Interviews mit Schanzenbach Aufschluß über Existenz und Wirken dieser Parlamentarierin während der NS-Zeit.

Die Quellen- und Literaturlage zu Leben und Wirken der sieben Bundestagsabgeordneten ist problematisch. Eigenständigen Biografien existieren lediglich über Schröder und Schwarzhaupt. In der Regel beschränkt sich die Literatur zu den im Band aufgeführten Politikerinnen auf Artikel, bei einigen fehlt sie fast gänzlich (so bei Schanzenbach und Strobel, obwohl Letztere ein Ministeramt innehatte). Regine Marquardt versucht die Lücke durch ausgiebige Recherche und so weit möglich durch eigene Interviews zu schließen.

Vor allem in den letzten zehn Jahren hat die Forschung zu der Rolle von Frauen in der Politik verstärkt eingesetzt. Allerdings geht der Trend zur Erforschung von Kommunal- und Landespolitik, so dass Regina Marquardts Biografienforschung einen wichtigen Einblick in die bundespolitische Ebene gewährt.

Die Autorin geht durchaus kritisch mit den von ihr benutzten Quellen um.

Sie weist auf die Schwierigkeiten der Oral History in Bezug auf die in ihrer Selbstdarstellung routinierten Politikerinnen hin und differenziert deren Aussagen zu ihrer politischen Tätigkeit. Sie zeigt auf, daß die Selbstdarstellungen der Frauen zu verschiedenen Zeiten variieren und sich an verschiedene Zielgruppen richten kann.

Die wechselweise Auflistung der Biografien nach der Parteizugehörigkeit zu den beiden großen Volksparteien SPD und CDU wirkt etwas ungünstig. Es hätte sich eine Gliederung nach den zwei großen Volksparteien angeboten, so daß man keine genaue chronologische Gliederung sondern eine thematische gehabt hätte, bei der man einfacher zusätzliche Rückschlüsse über die Eigenart der Parteizugehörigkeit für die Politikerinnen ziehen könnte.

Die Ordnungskriterien für die Einzelbiographien sind Herkunft und soziales Milieu, Ausbildung und Beruf und die Tätigkeit in politischen Gremeien und Ämtern sowie Privatleben und eine Gesamtwertung der Parlamentarierinnen und ihrer Wirkung. Trotz der durch die Behandlung von sieben Lebenswegen notwendigen Knappheit geben sie ein recht umfassendes Bild des politischen Werdeganges der Politikerinnen.

Zusammenfassende Teilergebnisse ihrer biografischen Studie präsentiert Regine Marquardt in einer kurzen Auswertung, die dem Biografieteil voran gestellt ist. Bei aller Vorsicht gegenüber einer Verallgemeinerung der dargestellten Lebensläufe der Parlamentarierinnen (vgl. S. 14) wertet sie deren politische Tätigkeit in dem Kapitel „Aktivitäten und Erfolge der weiblichen Bundestagsangehörigen“ aus.

Als erstes widmet sie sich der Frage nach den gemeinsamen Tätigkeiten der Bundestagsangehörigen und stellt fest, dass diese sich (in Form interfraktioneller Anträge) nur in zwei Aktivitäten über die Parteigrenzen zusammenfanden. Dies geschah in der Anstrengung der Diskussion um ein Verbot von Kriegsspielzeug in der ersten und einem Antrag auf Neufassung des Lebensmittelgesetzes in der zweiten Wahlperiode (vgl. S. 31–33). Auch in Bezug auf den im Parlamentarischen Rat diskutierten Gleichberechtigungsartikel des Grundgesetzes zeigt die Autorin Dissonanzen zwischen den weiblichen Ratsmitgliedern auf (vgl. S. 34, 87–94) und räumt so mit der Vorstellung der „Großen Koalition der Frauen“ (Rita Süssmuth) auf. Dies wird noch durch die Feststellung untermauert, dass die Frauen sich auch in „genuin zur Frauenpolitik gehörenden Fragen“ an ihrer Parteilinie orientierten, auch wenn darauf hingewiesen wird, dass in frauen- und familienpolitischen Angelegenheiten die Meinungen der Parlamentarierinnen weniger weit als die der männlichen Kollegen auseinanderlagen (vgl. S. 34, 36). Ein weiterer Aspekt des Wirkens der ersten bundesrepublikanischen Parlamentarierinnen ist laut Regine Marquardt die Wegbereitung zu mehr Geschlechterdemokratie in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Dazu gehörte das Anwachsen des Frauenanteils in der bundesrepublikanischen Politik und das Übernehmen wichtiger politischer Ämter auf Partei- und Ministerialebene bis hin zu europapolitischen Aktivitäten (vgl. S. 35–36). Interessant ist die Interpretation Regine Marquardts, dass die Politikerinnen in der Regel in der Sozialpolitik ihren Schwerpunkt fanden. Sie sieht dies als wenigstens teilweise durch die frauenpolitischen Erfahrungen der Abgeordneten in der bürgerlichen, kirchlichen und proletarischen Frauenbewegung begründet.

Die Rolle der Politikerinnen in der Nachkriegszeit für den Demokratisierungsprozeß in Politik und Gesellschaft wird betont (vgl. S. 37). In diesem Zusammenhang ist auch auf das Bewusstsein der Frauen davon hinzuweisen, dass sie in der Politik als sogenannte „Alibifrauen“ gebraucht und eingesetzt wurden (vgl. z. B. S. 177). Dies ist ein in der Literatur bis heute regelmäßig konstatiertes Problem der Anerkennung von Politikerinnen in ihrem beruflichen Umfeld und in der Gesellschaft.

Problematisch ist an diesem Biografienband der „frauenpolitische Aspekt“. Marquardt benennt als ein zentrales Ergebnis ihrer Studie, „daß es bei den parteipolitisch gebundenen Frauen einen Erfahrungsstrang neben der Parteipolitik gibt, der ‚frauenpolitisch‘ genannt werden könnte“ (S. 14). Eine Konzentration auf diese Fragestellung ist natürlich berechtigt, die Monografie wird aber dadurch thematisch eingeschränkt. Es entsteht der Eindruck, dass die Politikerinnen sich vorrangig auf Frauenpolitik spezialisiert hätten, was – auch wenn ihr Arbeitsschwerpunkt auf der Sozialpolitik gelegen hat – nicht so pauschal der Fall gewesen ist. Schließlich spricht die Autorin selbst von einem Strang neben der Parteipolitik. Eine breitere Darstellung der politischen Aktivitäten der Parlamentarierinnen in nicht frauenspezifischen Bereichen, insbesondere in der Parteipolitik (auch wenn es sich nur um Nuancen der festgestellten Parteitreue handeln sollte) wäre wünschenswert gewesen, um das ganze Spektrum des Wirkens der Frauen in den ersten drei Legislaturperioden des Deutschen Bundestages begreiflich zu machen. Dies hätte geholfen, die übliche Einordnung von weiblichen Abgeordneten in die Nische Frauenangelegenheiten zu relativieren.Diese Schwerpunktsetzung der Autorin ist selbstverständlich legitim und interessant. Sie lässt aber erwarten, dass der Kreis der Leserinnen und Leser sich von selbst begrenzt – ein Manko mit dem die Geschlechterforschung immer zu kämpfen hat.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Regine Marquardt ein wichtiges Buch mit vielen neuen und gebündelten Informationen über maßgebliche Akteurinnen der Politik der ersten drei Legislaturperioden des Parlaments der Bundesrepublik vorgelegt hat. Das Werk hebt die Tätigkeit der vorgestellten sieben Politikerinnen aus der Vergessenheit oder der Verdrängung hervor. Der Biografienband gibt einen spannenden Einblick in das Wirken und in die Unterschiedlichkeit der ersten Politikerinnen der Bundesrepublik und enthält eine Vielzahl von Literaturhinweisen. Er zeigt, wie viel noch geforscht werden muss, um diesen Frauen und ihren Kolleginnen gerecht zu werden und ihnen einen angemessenen Platz in der politischen Geschichte zuzuweisen.

URN urn:nbn:de:0114-qn023045

Vera Urban, M.A.

Humboldt Universität Berlin

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