Ein (erneuter) Versuch, modernen Ungleichheitsstrukturen auf die Spur zu kommen

Rezension von Irene Dölling

Katrin Schäfgen:

Die Verdopplung der Ungleichheit.

Sozialstruktur und Geschlechterverhältnisse in der Bundesrepublik und in der DDR.

Opladen: Leske+Budrich 2000.

254 Seiten, ISBN 3–8100–2753–7, DM 58,00 / ÖS 423,00 / SFr 52,50

Abstract: Die Verschränkung zweier Ungleichheitsstrukturen – der „klassischen“ Sozialstruktur und der Struktur der Geschlechterverhältnisse – ist für die Autorin eine Ursache dafür, dass seit Einführung der Marktwirtschaft ostdeutsche Frauen massiv vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Aufbauend auf Grundannahmen über die Entstehung moderner Ungleichheitsstrukturen vergleicht Schäfgen die Entwicklung von Sozialstruktur und Geschlechterverhältnissen der BRD und der DDR, die sie beide als moderne Gesellschaften versteht – leider nicht gesellschafts- bzw. modernetheoretisch begründet. Dies hat Konsequenzen: Zwar bestätigt das empirische Material das Vorhandensein „klassischer“ wie auch qua Geschlecht erzeugter Ungleichheiten in beiden deutschen Staaten, aber Schäfgens Vergleich liefert leider keine Differenzierung zwischen den Ausprägungen der Moderne in BRD und DDR. Um die „doppelte Ungleichheit“ in die Analyse einbeziehen zu können, entwickelt Schäfgen das „Modell der doppelten Vertikalität“. Im Kern dieses Modells werden die durch „Geschlecht“ produzierten Ungleichheiten in deren vertikaler Dimension verortet. Fraglich ist, ob Schäfgens Modell theoretischen und methodischen Gewinn bringt: Kann die Substantialisierung von Konzepten wie „Klasse“ oder „Geschlecht“ wirklich der prozessualen Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheit auf die Spur kommen?

Seit der Einführung der Marktwirtschaft in den neuen Bundesländern ist zu beobachten, dass ostdeutsche Frauen massiv vom Arbeitsmarkt verdrängt werden. Nach den Ursachen hierfür fragt Katrin Schäfgen. Sie konzentriert sich dabei auf eine Ursache, die sie als Verschränkung zweier Ungleichheitsstrukturen in modernen Gesellschaften fasst: der „‚klassische[n]‘ Sozialstruktur und [der] Struktur der Geschlechterverhältnisse“ (S. 14). Diese „‚Doppelstruktur‘ sozialer Ungleichheit“, so ihre These, „hat sich in beiden deutschen Staaten ähnlich entwickelt“ (ebd.), was sich wiederum aus gemeinsamen historischen Wurzeln erkläre: der Herausbildung moderner Gesellschaftsstrukturen aus feudalen Verhältnissen. Während für die (alte) Bundesrepublik „Geschlecht“ als ungleichheiterzeugender Faktor untersucht wurde und es in Westeuropa eine ausdifferenzierte Debatte darüber gibt, wie die „Doppelstruktur“ sozialer Ungleichheit (gender and class) konzeptionell so gefasst werden kann, dass sowohl die Geschlechtsblindheit „klassischer“ Ungleichheitstheorien als auch sozialstrukturelle Verkürzungen in feministischen Theorien überwunden werden können, konstatiert Schäfgen für die DDR eine doppelte Leerstelle: Weder habe es in der DDR eine angemessene soziologische Analyse und theoretische Reflektion der Sozialstruktur gegeben noch habe Frauenforschung „Geschlecht“ als ungleichheiterzeugenden Faktor untersucht. Schäfgen möchte mit ihrer Arbeit diese Forschungslücke schließen. Die historische Rekonstruktion der Entstehung der „Doppelstruktur“ als Merkmal moderner Gesellschaften zum einen und der konkreten Gestalt dieser doppelten Ungleichheitsstrukturen in beiden deutschen Staaten zum anderen verbindet Katrin Schäfgen mit einer Auseinandersetzung mit theoretischen Ansätzen sowie einem „eigenen Modell der Analyse der ‚doppelten Ungleichheit‘, das für sich reklamiert, die Verschränkung beider Strukturen adäquat abzubilden und zugleich flexibel genug ist, den unterschiedlichen Ausprägungen der ‚doppelten Ungleichheit‘ in beiden deutschen Staaten gerecht zu werden“ (S. 16).

Die Entstehung moderner Ungleichheitsstrukturen

Nachdem im 1. Kapitel einleitend Ungleichheit als Strukturproblem moderner Gesellschaften umrissen wurde, rekonstruiert Schäfgen im 2. Kapitel die Entstehung dieser Strukturen. Ohne zu reflektieren, weshalb sie diesen – im Vergleich zu anderen – den Vorzug gibt, greift sie dafür zum einen auf Konzepte zurück (Marx, Weber), die die vertikale Strukturierung moderner Gesellschaften nach übereinander gelagerten Klassen als wesentlichen Ungleichheitsfaktor verstehen, und zum anderen auf Patriarchats-Konzepte, die die Unterdrückung und Ausbeutung des weiblichen Geschlechts als eine der Klassenteilung historisch vorgängige und über die konkreten historischen Gesellschaftsformen hinweg vorfindliche, eigenständige Ungleichheitsstruktur verstehen (z. B. Gerda Lerner). Daran anschließend geht Schäfgen konzeptionell von einer doppelten, auf spezifische Weise miteinander verknüpften Ungleichheit in modernen Gesellschaften aus: Die kapitalistische Produktionsweise erzeuge nicht nur das „klassische“ Ungleichheitsverhältnis (zwischen Klassen) – die durch ihre Logik implizierte strukturelle Trennung von Produktion und Reproduktion, Erwerbssphäre und Hauswirtschaft „färbe“ auch das Patriarchat als „modernes Geschlechterverhältnis“ (S. 37) „ein“ und „verabsolutiert“ als eine zweite Ungleichheitsdimension in modernen Gesellschaften „die patriarchale Abhängigkeit von Frauen“ (ebd.).

Sozialstruktur und Geschlechterverhältnisse in BRD und DDR. Ein Vergleich

Auf diesen konzeptionellen Grundannahmen über zwei Ungleichheitsdimensionen moderner Gesellschaften basiert der im 3. Kapitel unternommene Versuch, die Entwicklung von Sozialstruktur und Geschlechterverhältnissen in ihren Gemeinsamkeiten und Unterschieden in beiden deutschen Staaten nachzuzeichnen. Zugrundegelegt wird diesem Versuch die Annahme, dass BRD wie DDR als moderne Gesellschaften zu verstehen sind. Angemessen gesellschafts- bzw. modernetheoretisch begründet wird diese These allerdings nicht – lediglich die Annahme, dass „der technische Fortschritt [!] […] als Motor und Ursache wirtschaftlicher wie gesellschaftlicher Strukturbildung fungiert und dementsprechend die je spezifische wirtschaftliche und politische Organisation dominiert“ (S. 51), bildet für Schäfgen die – den soziologischen Modernediskurs nicht annähernd wiedergebende – Vergleichsgrundlage. Die unbefriedigende theoretisch-begriffliche Arbeit bei der Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes hat Konsequenzen: Der sekundäranalytische Durchgang durch verfügbare Daten, der die Vermutung bestätigt, dass sich in beiden deutschen Staaten „klassische“ ebenso wie qua Geschlecht erzeugte Ungleichheiten finden, mündet in einen systematischen Vergleich, der viel zu undifferenziert ausfällt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den beiden Varianten der Moderne gesellschaftstheoretisch fassen und begründen zu können: „Während in der BRD das privat-patriarchale Abhängigkeitsverhältnis dominiert, ist es in der DDR der gesellschaftliche Patriarchalismus in Form des paternalistischen Staates“ (S. 117). Schäfgen spricht im weiteren denn auch eher vage als begrifflich fundiert von einer „Ähnlichkeit“ (S. 217) der Doppelstruktur sozialer Ungleichheit in beiden deutschen Staaten bzw. ebenso unbestimmt (und konzeptionell ihre Annahme kontrastierend) davon, die DDR sei eine moderne Gesellschaft gewesen. Sie behauptet, dass „traditionale […] Ungleichheitsdeterminanten“ bzw. „patriarchale Verhältnisse“ in der DDR „überdauert“ [!] haben (S. 217 bzw. 225).

Im abschließenden Teil ihrer Arbeit lässt Katrin Schäfgen Sozialstrukturtheorien und feministische Ungleichheitskonzepte Revue passieren. Klassentheorie (von Marx bis Giddens), sozialstrukturelle Konzepte von Schichtung, Status und sozialer Lage bzw. Milieutheorien einerseits, das Konzept des „weiblichen Arbeitsvermögens“, der „doppelten Vergesellschaftung“ von Frauen bzw. des geschlechtersegregierten Arbeitsmarktes andererseits werden daraufhin befragt, ob sie die Doppelstruktur sozialer Ungleichheit theoretisch-begrifflich erfassen. Schäfgen bescheinigt den Sozialstrukturtheorien wie den feministischen Theorien gleichermaßen, jeweils nur eine Dimension von Ungleichheit in den Blick zu nehmen. Diese generelle Einschätzung ist nicht neu; im Unterschied zu anderen Autor/-innen, wie Frerichs/Steinrücke, Kreckel und insbesondere Gottschall macht Katrin Schäfgen sich jedoch nicht die Mühe, einzelne Theorien auf ihre Anschlussfähigkeit an den jeweils anderen Ungleichheitsdiskurs hin zu befragen.

Das Modell der doppelten Vertikalität

Das 4. Kapitel endet mit Schäfgens eigenem Vorschlag eines „Modell[s] der doppelten Vertikalität“ (S. 218). Dieses Modell „stellt die direkte Antwort auf das Problem der ‚doppelten Ungleichheit‘, die wechselseitige Verstärkung der Ungleichheit in der ‚klassischen‘ Sozialstruktur und den Geschlechterverhältnissen dar. Dieses Modell soll deutlich machen, dass die Sozialstruktur geschlechtsgeteilt bzw. die Geschlechterstruktur sozial differenziert ist“ (S. 218). Es zeichnet sich vor allem durch zwei Merkmale aus: Erstens wird in Abgrenzung zu aktuellen Vorschlägen, „Geschlecht“ als „horizontale Ungleichheit“ in Sozialstrukturkonzepte zu integrieren, die Vertikalität der qua Geschlecht produzierten Ungleichheit betont (und verabsolutiert). Dies untermauert Schäfgen mit dem (erneuten) Hinweis darauf, dass die „Geschlechterungleichheit ein historisch sehr viel älteres Phänomen als die ‚klassische‘ Ungleichheit“ darstelle (S. 220). Zweitens wird das Modell so abstrakt gehalten, dass das „Problem der ‚Verdopplung‘ sozialer Ungleichheit, zunächst entkleidet von deren konkret-historischer Verschränkung, in den Blick genommen werden kann“ (S. 219). Diese „bewusste theoretische Offenhaltung des Modells“ (S. 220) soll ermöglichen, Theorien sozialer Differenzierung (welchen konkreten Typs auch immer) mit dem Konzept zu verknüpfen, dass eine „zweite Determinante sozialer Ungleichheit existiert, die entsprechend der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht die Klassen, Schichten, Lagen und Milieus noch einmal vertikal strukturiert“ (S. 219). Ob dieses Modell der doppelten Vertikalität gegenüber bisherigen Versuchen, „Klasse“ und „Geschlecht“ als ungleichheiterzeugende Strukturen zueinander in Beziehung zu setzen – etwa z. B. in der class-gender-debate oder in Arbeiten von Becker-Schmidt – einen theoretischen und methodischen Gewinn bringt, kann bezweifelt werden. Dieser Zweifel nährt sich weniger aus der Tatsache, dass Schäfgen ihren Vorschlag nur sehr knapp und sehr allgemein entwickelt, sondern viel grundlegender aus der Frage, ob die von Schäfgen in ihrer ganzen Arbeit präferierten substantialistischen Konzepte von „Klasse“ (einschließlich ihrer verschiedenen „Derivate“) oder „Geschlecht“ – die immer schon als gegeben setzen (d. h. hier die einfache oder doppelte vertikale Ungleichheit), was historisch-empirisch erst zu erforschen wäre – überhaupt geeignet sind, der Komplexität, Ungleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit der prozessualen Erzeugung und Reproduktion sozialer Ungleichheiten auf die Spur zu kommen.

URN urn:nbn:de:0114-qn023023

Prof. Dr. Irene Dölling

Universität Potsdam

E-Mail: doelling@rz.uni-potsdam.de

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