Feministische Rechtswissenschaft in Deutschland

Rezension von Susanne Baer

Jutta Schumann:

Faktische Gleichberechtigung.

Die Grundgesetzerweiterung des Art. 3 II S. 2.

Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang Verlag 1997.

167 Seiten, ISBN 3–631–31819–7,DM 69,00 / sFr 56,00 / öS 467,00

Ines Kalisch:

Die Entwicklung des Verbots der mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sozialrecht.

Grundlagen, Analyse und exemplarische Anwendung auf Gesetze im Rentenrecht.

Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang Verlag 1999.

231 Seiten, ISBN 3–631–33975–5, DM 79,00 / sFr. 64,00 / öS 533,00

Abstract: Die Frage nach gleichen Rechten und nach dem, was genau geschlechtsbezogene Benachteiligung im und durch eventuell auch neutral klingendes Recht ausmacht, ist auf der Grundlage des 1994 eingefügten verfassungsrechtlichen Gleichstellungsgebotes in Art. 3 Abs. 2 S. 2 Grundgesetzes neu zu beantworten. Die Bücher von Ines Kalisch und Jutta Schumann leisten dazu Beiträge, die auch den Fortschritt feministischer Rechtswissenschaft in Deutschland dokumentieren.

In Deutschland waren Beiträge zur Geschlechterforschung im Recht lange nur in englischer Sprache und selten in Fachpublikationen oder Fachverlagen der Rechtswissenschaft zu finden. Jutta Limbach, Heide Pfarr Marion Eckertz-Höfer begannen damit, eine Reihe der Schriften zur Gleichstellung der Frau herauszugeben (im NOMOS-Verlag). Inzwischen erscheinen entsprechende Arbeiten auch in Reihen anderer Verlage. Hier sollen zwei Bücher vorgestellt werden, die sich mit Fragen der geschlechtsbezogenen Diskriminierung im und durch Recht auseinandersetzen. Das eine ist in der Reihe internationalrechtlicher Studien, die Eibe Riedel betreut, erschienen, das andere in der Reihe zum Recht der Arbeit und der sozialen Sicherheit, herausgegeben von Wolfgang Däubler, Hagen Lichtenberg, Ursula Rust als Bremer Professorin für das Recht der Geschlechterbeziehungen, und Roderich Wahsner (beide Reihen im Lang Verlag).

Jutta Schumann behandelt in ihrer Dissertation das Recht der faktischen Gleichberechtigung. Sie tut dies anläßlich der Ergänzung des Gleichheitssatzes im Grundgesetz um die Formel, daß der Staat die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern zu fördern habe und auf die Beseitigung bestehender Nachteile hinwirken müsse (Art. 3 Absatz 2 Satz 2 GG). Ines Kalisch befaßt sich dann in ihrer Arbeit mit einem der Fälle, die anhand dieses neuen verfassungsrechtlichen Maßstabes beurteilt werden können; ihr geht es um die Diskriminierung wegen des Geschlechts im Sozialrecht.

Differenzen

Schumann eröffnet ihre Untersuchung mit einem Überblick zu den in der Rechtswissenschaft vertretenen Auffassungen zur Gleichstellung der Geschlechter. Während es Stimmen gibt, die weiter von biologischer Verschiedenheit und in deren Folge von „natürlicher Rollenverteilung“ künden, votieren andere deutlich für ein verwirklichtes Gleichstellungsrecht, was sich dann auch in der Grundgesetzänderung von 1994 niederschlug. Die Debatte, die diesem frauenpolitischen Erfolg vorausging, wird von Schumann nachgezeichnet. Spiegelbildlich dazu wird auch auf zwei Aspekte verwiesen, die als meist hintergründige, oft nur behauptete Folien der Rechtsentwicklung anzusehen sind. Zum einen zeigt Schumann die tatsächliche soziale Situation von Frauen und Männern auf, die in der Unterschiedlichkeit zwischen DDR und damaliger Bundesrepublik zu beleuchten ist. Zum anderen skizziert sie die Rechtslage, die diese soziale Situation mit prägte, konzentriert sich dabei aber – in vertretbarer Fokussierung – auf die Rechtslage im Westen. So bietet ihre Arbeit jedenfalls nicht nur den rechtshistorischen Rückblick, sondern auch die zusammenfassende Analyse der Rechts- und Lebenssituation von Frauen und Männern zum Zeitpunkt der Verfassungsrevision; damit orientiert sich Schumann methodisch an den Vorgaben, die die feministische Rechtswissenschaft insgesamt prägen.

Keine Gleichheit ohne neue Maßstäbe

Schumann verweist in der juristischen Analyse nicht nur auf die Regelungen des internationalen Rechts, die sich mit der Gleichstellung befassen, sondern kommt in ihrer Bewertung der Gesetzeslage von 1994 (die sich von der heutigen nicht allzu gravierend unterscheidet) zu bemerkenswerten (und für die rechtspolitische Diskussion nicht untypischen) Schlüssen: Gleichstellung sei nicht erreichbar, solange sie sich am Hergebrachten orientiere. Bisheriges Recht fixiere sich auf gleiche Chancen im Hinblick darauf, das Vorhandene zu erreichen. Da dieses aber nicht endlos teilbar sei, könnten Frauen und Männer auch nie im Ergebnis gleichgestellt werden. Daher könne „die Zufriedenheit aller, unabhängig vom Geschlecht, nach heutigen Maßstäben nicht erreicht werden“ (S. 55). Vielmehr bedürfe es eines Umdenkens: „ Arbeit“ müsse neu definiert werden, soziale Sicherung müsse eigenständig erfolgen, und „Lebens- und Erziehungserfahrung“ müßten höher bewertet werden. Es dürfe nicht um Angleichung gehen, sondern um „Begegnung von Frauen und Männern auf einem andersartigen Wertniveau“ (S. 57). Was aber folgt daraus?

Regeln für die Interpretation

Was historisch den verfassungsrechtlichen Fortschritt inspirierte, muß sich nach dessen Verankerung im Text des Art. 3 GG nicht zwingend auch in der sozialen Praxis auswirken. Allzu oft ist gerade mit rechtlichen Mitteln gegen Diskriminierung die Erfahrung gemacht worden, daß Neuerungen zugunsten von Frauen oder (anderen) Minderheiten in der Praxis nicht umgesetzt wurden. Schumann versucht in ihrer Arbeit, die Neuregelung des Grundgesetzes zu mobilisieren, indem sie sie interpretiert und damit Hinweise gibt, wie sie sich allgemein und speziell auf das Frauenförderrrecht auswirken sollte.

Schumanns eigene Interpretation von Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG weist einen vorsichtig optimistischen Weg. Zunächst handele es sich zwar nur um eine Staatszielbestimmung, nicht aber um ein individuelles, einklagbares Grundrecht. Doch sei diese Bestimmung derart exponiert, daß sie Beachtung finden müsse (S. 86). Auch diene eine solche Regel zur verfassungsrechtlichen Rechtfertigung zahlreicher Maßnahmen zur Frauenförderung, wobei Schumann die „sanften“ Instrumente neben den Quoten und influenzierenden Anreizsystemen behandelt. Soweit reichen die positiven Effekte. Daneben bleiben Zweifel, ob das hilft. Zum einen ist es der Politik überlassen, nun auch rechtlich im Sinne der Gleichstellung zu handeln; gezwungen werden kann sie nach Schumann dazu nicht. Zum anderen muß die Gesellschaft derartige Bestrebungen tragen. Zwar sieht Schumann eine weitere Sensibilisierung, mehr öffentlichen Druck und eine wachsende Ernsthaftigkeit; Art. 3 Abs. 2 S. 2 GG habe insofern eine mittelbare, „symbolische“, aber jedenfalls nicht zu vernachlässigende Wirkung. Doch gewonnen ist allein damit noch nichts.

Schumann hat mit ihrer Arbeit eine differenzierte Interpretation des Art. 3 II 2 GG vorgelegt, die schon ob der juristisch „sauberen“ Begründung Anstöße liefern wird. Aus anderen Perspektiven feministischer Rechtswissenschaft könnte sich ein anderer Ertrag ergeben, denn eine dort geforderte grundlegende Revision des Gleichheitsdenkens würde eventuell auch zu anderen Anwendungsbereichen und Ergebnissen verfassungsrechtlicher Garantien führen. Im Rahmen der juristisch akzeptierten Auslegungstopoi ist Schumanns Arbeit allerdings ein wichtiger, sensibilisierender Schritt nach vorn.

(Un-)Gleichheit im Rentenrecht

Ines Kalisch hat in Bremen über einen Fall promoviert, an dem sich nun zeigen könnte, was sich Schumann verspricht. Ihr Ausgangspunkt ist das Rentenreformgesetz von 1992. Dieses untersucht sie zunächst anhand der europarechtlichen Maßstäbe der Richtlinie zum Verbot von Diskriminierung von 1976, wobei die Frage nach dem Geltungsbereich und nach der direkten Wirkung europäischer Vorgaben mangels Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber mit diskutiert werden (S. 33–95). Danach befaßt sich Kalisch dann mit dem deutschen Verfassungsrecht. Ihre Darstellung beleuchtet die Entwicklung der Rechtsprechung in den Fällen, in denen neutrale Regelungen zu nachteiligen geschlechtsbezogenen Wirkungen führen. Sie zeichnet dabei nicht nur ein Bild, das von bisherigen Darstellungen der Gleichberechtigungsdynamik im deutschen Recht abweicht, sondern zeigt auch auf, warum die Rechtsprechung faktische Benachteiligungen von Frauen unter Art. 3 Abs. 2 GG subsumieren müsse (S. 132). In der Folge entwickelt Kalisch ein Prüfungsschema, anhand dessen sich Fälle mittelbarer Diskriminierung nach Art. 3 Abs. 2 GG beurteilen ließen. Für die verfassungsrechtliche Dogmatik ist von Interesse, daß sie dabei auf eine freiheitsrechtlich strukturierte Prüfung verweist, also auf eine, die neutrale und benachteiligende Regelung feststellt, um dann nach ihrer Rechtfertigung zu fragen.

Benachteiligende Regeln sind für Kalisch solche, die ein statistisches Gefälle zwischen den Geschlechtern von mehr als 10 % verursachen; zu rechtfertigen sind sie nur, wenn sie sachgerecht sind und ein Geschlecht nicht auf unzumutbare Weise belasten (S. 152). Im rentenrechtlichen Fall, mit dem sich Kalisch am Ende der Arbeit befaßt, sind die geltenden Regelungen zur Rente bei verminderter Erwerbsfähigkeit und zur Rente wegen Berufsunfähigkeit sowohl aus europa- wie aus verfassungsrechtlicher Sicht diskriminierend und nicht zu rechtfertigen. Auch dieses Ergebnis ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer geschlechtsbezogen angemesseneren Rechtsordnung.

Verhaltener Optimismus

Beide Arbeiten vertreten ihre jeweilige Position umfassend und mit guten Gründen. Beide zeichnen sich – im Unterschied zu traditionelleren methodischen Zugriffen – dadurch aus, daß sie juristische mit sozialwissenschaftlichen Überlegungen verknüpfen. Schumann erhärtet die Behauptungen über Diskriminierung aus der Verfassungsdebatte mit Zahlen; Kalisch belegt die Nachteile für Frauen im Alter. Beide Arbeiten beziehen auch Position, was die Rechtsentwicklung angeht: Schumann präsentiert einen Vorschlag zur Auslegung; Kalisch diskutiert die Grenzen einer Neugestaltung des Rentenrechts. Das alles zeichnet geschlechtssensible Jurisprudenz aus. Was die Arbeiten voneinander unterscheidet, ist der Duktus, denn wo Schumann klassisch juristisch schreibt, wird Kalisch pointierter, auch offenkundig feministischer. Doch was sie wieder eint, ist das Ergebnis: Dem vorsichtigen Optimismus Schumanns entspricht ein „zögerliches Ja“ bei Kalisch (S. 205). Das Zögern könnte sich verringern, wenn weiter derartige Beiträge zur Rechtsentwicklung erscheinen. Beide Bücher sind jedenfalls Juristinnen und Juristen, aber auch anderen rechtspolitisch Interessierten zu empfehlen.

URN urn:nbn:de:0114-qn011029

PD Dr. Susanne Baer

Humboldt Universität zu Berlin

E-Mail: susanne-baer@rewi.hu-berlin.de

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