Realität des Virtuellen – Virtualität des Realen

Rezension von Katja Mruck

Nicola Döring:

Sozialpsychologie des Internet.

Die Bedeutung des Internet für Kommunikationsprozesse, Identitäten, soziale Beziehungen und Gruppen.

Göttingen: Hogrefe 1999.

516 Seiten, ISBN 3–8017–1255–9, DM 69,00 / ÖS 504, 00 / SFr 60, 00

Abstract: Nicola Döring führt in ihrer Sozialpsychologie des Internet fundiert und gut nachvollziehbar in das „Netz der Netze“, seine Dienste und in deren Nutzung durch unterschiedliche Gruppen ein. Relevante Erhebungsmethoden werden ebenso vorgestellt wie der derzeitige Stand der sozialpsychologischen Modellbildung zur computervermittelten Kommunikation und wie wesentliche Befunde zu den Themenfeldern Identität, interpersonale Beziehungen und soziale Gruppen.

Nicola Döring verbindet mit ihrer bei Hogrefe veröffentlichten Dissertation das anspruchsvolle Ziel, „das Internet aus sozialpsychologischer Perspektive zu konturieren“, d. h. Prozesse der Identitätskonstruktion, der interpersonalen Kommunikation und der sozialen Gruppenbildung im Internet so vorzustellen und zu diskutieren, dass die in vielen Studien zum Netz vorfindbare „Vagheit durch differenzierte Beschreibung, theoretische Analyse und empirische Befunde“ (S. 13) ersetzt werden kann.

Ich möchte vorausschicken, dass sie dieses selbst gesetzte Ziel erfüllt und dass dieses wichtige Buch m. E. mit Recht einer der wenigen deutschsprachigen „Klassiker“ zur Sozialpsychologie des Internet werden kann. „Klassiker“ und „Internet“ scheinen auf den ersten Blick schwer vereinbar: Während ersteres einen dauerhaften und sehr grundlegenden Wert für ein bestimmtes (Wissenschafts-)Feld unbedingt voraussetzt, ist für dieses konkrete Feld „Internet“ ja charakteristisch, dass es sich

a) um eine vergleichsweise junge Errungenschaft handelt, mit deren Nutzung

b) von Beginn an gravierende Umbrüche einher gegangen sind und weiter einher gehen werden; Umbrüche, die auch die Produktion, Distribution und Konsumtion von (wissenschaftlichem) Wissen betreffen, und dies

c) mit einer so enormen Geschwindigkeit, dass Untersuchungen über das Internet eine sehr geringe Halbwertzeit haben – die meisten Ergebnisse sind bereits bei ihrer Veröffentlichung überholt (Vgl. Eisend 1999).

Diese Entwicklungsgeschwindigkeit wird auch Nicola Dörings Buch treffen: Einige Web-Adressen dürften schon zum Zeitpunkt der Publikation nicht mehr existiert haben, neue Dienste, neue Nutzer/-innengruppen und neue Nutzungsmerkmale werden entstehen. Aber: Nicola Döring ist es gelungen, systematisch und versiert zwei wesentliche Bereiche – Internet und Sozialpsychologie: den verfügbaren Fundus an Erhebungsmethoden, an Theorien und den Stand des empirischen Wissens zur Sozialpsychologie des Internet – so aufzubereiten und miteinander zu verbinden, dass neue Auflagen, die es sicher geben wird, zwar neue Befunde usw. enthalten werden, die Struktur und Erzählweise des Buches wird aber sicher für viele Jahre nicht überholt und für viele neue Leser/-innen hilfreich und wegweisend sein.

Nach einem kurzen „Aufriss zur Geschichte, zu den Diensten und zu der gesellschaftlichen Bedeutung des Internet“ (Kap.1) präzisiert Döring die Nutzung der wichtigsten Netz-Kommunikationsdienste entlang eines zentralen Merkmals, nämlich der „Zeitversetztheit der Kommunikation“ bzw. der Verwendung asynchroner Medien (Email, Mailinglisten, Newsgroups, WWW-Seiten; Kap. 2) und der „Zeitgleichheit der Kommunikation“ bzw. der Verwendung synchroner Medien (Chat, MUDs, ICD, Internet-Telefonie und -Konferenzen; Kap. 3). Hier werden Leser/-innen in das ABC des Internet eingeführt, ohne dass die Autorin bei der Darstellung ihren „roten Faden“, die soziale Nutzung des Internet, aus den Augen verlieren würde: Es geht eben nicht nur um Internet-Essentials wie „Typen von Mails“ oder „MUDs“, um „Emoticons“, „Flaming“, „Netiquette“ usw., sondern immer auch darum, was dies für die Kommunikation bzw. für Internet-Nutzung unter einer sozialpsychologischen Perspektive – den bisherigen Stand der Technik und Praxis und unseres Wissens hierüber vorausgesetzt– bedeutet.

Danach werden in Kap. 4 die „Internet-Population und ihre Nutzungsmuster“ skizziert. Wie eingangs erwähnt: Die Zahlen zur Sozialdemographie des Internet waren vermutlich schon veraltet, als das Buch seine ersten Leser/-innen gefunden hat, und diesen veralteten Zahlen hier und heute neue gegenüberzustellen, wäre für Leser/-innen dieser Besprechung einigermaßen witzlos, da ebenfalls von sehr geringer Haltbarkeit. Wer sich für jeweils aktuelle Zahlen und Umfragen interessiert, sei stattdessen für den deutschsprachigen Raum auf http://www.online-forschung.deerneuert (auch mit Hinweisen auf internationale Studien und deren Befunde). Eine ebenfalls wertvolle Sammlung von Reinhold Grether zu Netzliteratur, Netzkunst und Netzwissenschaft finden interessierte Leser/-innen unter http://www.netzwissenschaft.de.

Selbstredend ändern sich mit dem Veralten der Sozialdemographie auch die Nutzungsanteile und -muster für unterschiedliche Teilpopulationen, die Döring – bezogen etwa auf Geschlecht, Alter, Ethnizität – kurz diskutiert. Teilweise erschreckend wenig scheint sich allerdings auch in Zeiten des Internet an einigen geschlechtstypischen Verhaltensweisen zu ändern: „Eine soziale Hürde stellt für Frauen nicht nur ihre antizipierte Minderheitenrolle im Netz dar, sondern auch die Vorstellung, dass Internet-Nutzung besondere technische Kompetenz oder gar Technikbegeisterung erfordere, die gemäß traditionellen Geschlechterstereotypen Frauen in geringerem Maße als Männern zugeschrieben oder zugetraut wird“ (S. 143 f.; Hervorhebung im Text). Interessant ist nun Döring zufolge, dass online der nämliche „Androzentrismus der akademischen wie journalistischen Internet-Behandlung“ (S. 144) fortdauert, der schon offline dazu verholfen hat, dass Frauen seltener als Expert/-inn/en akzeptiert und gefragt sind (allerdings dürfte dieser Androzentrismus – was das Netz angeht – durch die Möglichkeit des Gender Swapping [Bruckman 1993, siehe auch Döring S. 291ff. ] ein wenig unsicherer werden …). Dass Frauen entgegen diesen androzentrischen Denkweisen und Praktiken eine sehr wichtige Rolle als Pionierinnen des Internet zukommt (seltsam: mein Rechtschreibeprogramm kennt nur Pioniere, keine Pionierinnen), hat Nicola Döring an anderer Stelle dokumentiert (siehe http://www.nicoladoering.de/women.htm). Die Sozialpsychologie des Internet ist – was die Handhabung der weiblichen Form angeht – leise konsequent: Bacons „Von uns selbst aber schweigen wir“ hatte in den Wissenschaften das Unkenntlichmachen der 1. Person Singular zur Folge bzw. deren Metamorphose zu dem Pluralis majestatis objektiver Erkenntnis oder in eine selbstverständlich männliche Schreibweise. Fortschrittlichere geben zumindest in einer Fußnote zu erkennen, dass sie um die Existenz eines zweiten Geschlechts wissen, aber „aus Platz-“ oder „Einfachheits-/Lesbarkeitsgründen“ auf die weibliche Form verzichten. (Wieso nicht auf die männliche?) Nicola Döring scheinen diese schlechten Kompromisse fern, und so ist selbstverständlich von Nutzerinnen und Nutzern, von Lesern und Leserinnen usw. die Rede. Und ebenso selbstverständlich ist die Geschlechterfrage keine, die nur auf ein paar Seiten als eine – neben anderen – relevante „Variable“ abgehandelt wird: wie die Frage nach der sozialen Verfasstheit des Internet durchzieht die Geschlechtsspezifik kommunikativer Internet-Nutzung (ebenfalls leise) das gesamte Buch.

Kap. 5 befasst sich schließlich mit „netzbezogenen Datenerhebungsmethoden“ zur Untersuchung computervermittelter Kommunikation. Diskutiert werden hier Beobachtung, mündliche Befragung, schriftliche Befragung und das Experiment sowie mit Internet-Untersuchungen einhergehende ethische Probleme. Dies ist vielleicht der einzige Punkt, an dem ich selbst als qualitative Sozialwissenschaftlerin einen impliziten Traditionalismus der Döringschen Erzählweise zurückweisen – oder zumindest kritisch nennen – möchte: Das „Qualitative“ – orientiert an Alltagssprache und Alltagshandeln von Menschen zu einer Zeit und an einem Ort und skeptisch gegen deren Quantifizierung (vgl. Mruck & Mey 2000) – ist in denjenigen Teilen der Sozialwissenschaften, die sich an naturwissenschaftlicher „Exaktheit“ orientieren und den Begriff der Erfahrung auf den einer „Naturempirie“ (Bonß 1982) reduzieren, zwar idealiter als komplementär, aber de facto (etwa in der Anlage von Untersuchungen) nur als „Vorspiel“ für die „eigentliche“ Wissenschaft und ihre quantifizierenden Verfahren akzeptiert. Es ist ein wenig von diesem vermeintlichen Unter-/Überordnungs- und Zuarbeitsverhältnis spürbar, wenn Döring schreibt: „Es bleibt zukünftigen Untersuchungen überlassen, die Verbreitung der einzelnen explorativ untersuchten Phänomene exakt zu quantifizieren und die beschriebenen Wirkungszusammenhänge experimentell zu prüfen.“ (S. 14)

Während Kap. 6 den bisherigen Fundus an „Theoretische[n] Modellierungen computervermittelter Kommunikation“ vorstellt – hierzu gehören Modelle der „Kanalreduktion“, von „sozialen Hinweisreizen“ und „sozialer Informationsverarbeitung“ ebenso wie Fragen einer „rationalen“ und „normativen Medienwahl“ oder das „Kulturraum-Modell“ – behandeln die folgenden Kapitel den Stand des Wissens zu den Bereichen, die eine Sozialpsychologie des Internet unmittelbar tangieren, nämlich „Identitäten und Internet“ (Kap. 7), „Soziale Beziehungen und Internet“ (Kap. 8) und „Gruppen und Internet“ (Kap. 9). Hier werden jeweils in der Sozialpsychologie eingeführte Theorien – z. B. das Eriksonsche Identitätskonzept sowie dessen postmoderne Re-Formulierung in Heiner Keupps „Patchwork-Identität“ in Kap. 7 – kurz skizziert, dann auf ihre mediale Gebundenheit hin besprochen, und schließlich wird gezeigt, wie sich Identitäten, Beziehungen und Gruppen durch die Nutzung des Internet (nicht) verändern bzw. neu bilden, und wie dies mit einer gesellschaftlichen Makroebene verbunden werden kann. Auch hier bleibt die Autorin, wenn sie vorliegende Studien und Befunde vorstellt, populären Diskursen entlang der Pole Internetphobie vs. Internetphilie fern: „Der pauschale kulturpessimistische Vorwurf des Beziehungsverlusts […] und des Flüchtens in Schein-Beziehungen […] ist ebenso zurückzuweisen wie die Annahme, dass Internet-Kommunikation generell die vorhandenen formalen und persönliche Beziehungen stabilisiert und intensiviert und das persönliche Netzwerk um neue Freundschaften und Bekanntschaften erweitert.“ (S. 367)

Die Sozialpsychologie des Internet schließt nach einer zusammenfassenden „Diskussion“ (Kap. 10) mit einem „Anhang“, in dem detaillierteres Material zu unterschiedlichen Studien (Interview, Frageboden, on- und offline) geboten wird, die die Autorin selbst durchgeführt hat. Hier wie in dem gesamten Buch bewährt sich, dass Nicola Döring sich – als Frau und auch als Frau in der Wissenschaft – ungewöhnlich früh und intensiv „dem Netz der Netze“, den Möglichkeiten und Problemen seiner Nutzung, seinen sozialpsychologischen und methodischen Implikationen, Herausforderungen und Konsequenzen zugewandt hat. Ganz offensichtlich profitiert dieses Buch und profitieren seine Leserinnen und Leser von der Expertise der Autorin und von ihrer Kompetenz, neugierig, professionell und erfreulich unideologisch in den „Facettenreichtum“ eines Feldes einzuführen, dessen Bedeutung für Identität, für interpersonale Beziehungen und für Gruppenprozesse weiter weitreichend sein wird. Zur künftigen Erkundung dieses Facettenreichtums wünsche ich mir Begleiterinnen wie Nicola Döring, die erfahren und vorsichtig genug sind, auch der Realität des Virtuellen und der Virtualität des Realen gewahr zu sein.

Literatur/Adressen

Bonß, Wolfgang: Die Einübung des Tatsachenblicks. Zur Struktur und Veränderung empirischer Sozialforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

Bruckman, Amy S.: Gender Swapping on the Internet. Proceedings of INET ‚93. Reston, VA: The Internet Society 1993. URL: ftp://ftp.cc.gatech.edu/pub/people/asb/papers/gender-swapping.txt(15/04/01).

Eisend, Martin: Das Internet als Medium der Wissenschaft. Zur Nutzung des Internet für die interne Wissenschaftskommunikation bei Sozialwissenschaftlern in Berlin. Magisterarbeit, Fachbereich Politik und Sozialwissenschaften, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Freie Universität Berlin, 1999.

Mruck, Katja unter Mitarbeit von Günter Mey: Qualitative Sozialforschung in Deutschland / Qualitative Research in Germany [54 Absätze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research [On-line Journal], 1(1) 2000. URL: http://qualitative-research.net/fqs/fqs.htm(15/04/01).

URN urn:nbn:de:0114-qn022091

Dr. Katja Mruck

Berlin, Homepage: http://userpage.fu-berlin.de/~mruck

E-Mail: mruck@zedat.fu-berlin.de

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