Bettina Heintz:
Die Innenwelt der Mathematik.
Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin. Ästhetik und Naturwissenschaften, Bildende Wissenschaften – Zivilisierung der Kulturen.
Wien: Springer 2000.
318 Seiten, ISBN 1430–5321, DM 69,00 / SFr 63,00 / ÖS 504,00 / € 35,28
Abstract: Die wissenschaftliche Disziplin Mathematik ist mit dem Nimbus des Objektiven und Entpersonalisierten versehen und scheint einer soziologischen Analyse nicht zugängig. Bettina Heintz fragt ausgehend von einer konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie nach Gründen der epistemischen Besonderheit der Mathematik. Durch eine Verschiebung des Fokus vom Wissen auf das Handeln der Mathematiker und Mathematikerinnen gelingt es ihr, neue Einsichten in den Prozeß der Entstehung mathematischen Wissens zu gewinnen.
Das Verhältnis der Geschlechterforschung zur Mathematik ist eine Gemengelage von erfolgreicher historischer Frauenforschung, wenn es um die Personen geht, die diese Wissenschaft betreiben, und von schweigender bis deutlich ablehnender Distanziertheit innerhalb feministischer Theoriedebatten. Einzig Käthe Trettin hatte 1991 in ihrem Buch Die Logik und das Schweigen erste Schritte einer kritisch-feministischen Auseinandersetzung mit der Logik unternommen. Sie diagnostiziert, dass der Konflikt der Geschlechter in eigentümlicher Weise mit der Faszination am Formalen der Logik korrespondiert. Lässt sich das Schweigen der „männergemachten“ Logik als Anti-Faszinations-Programm feststellen, so kehrt „die ‚männliche‘ Anti-Faszinations-Strategie […] als ‚weibliche‘ Faszinationswahrnehmung“ zurück (Trettin 1991, S. 32) und zeigt sich in der Ablehnung der „Männer-Logik“, des Formalen, innerhalb der feministischen Theorie. Trettin konstatiert: „Wir haben also zwei geschlechtsspezifische Abwehrbewegungen in der Faszinationsgeschichte der Logik. Die eine schweigt, die andere zeigt.“ ( Trettin 1991, S. 33) Es gelang Trettin, mit diesem faszinationsanalytischen Ansatz eine Methodologie des kritischen Befragens der Logik zu entwickeln, die die feministische Reflexion mit einschließt, ohne dabei ihren Gegenstand auf die soziale Geschlechtsidentität seiner Produzenten zurückzuführen. (Vgl. Koreuber 1994)
Trettins Arbeit ist aus philosophischer Perspektive und bezogen auf ein auch der Philosophie zuzuordnendes Teilgebiet der Mathematik geschrieben; ihr methodischer Ansatz ist kaum in eine Debatte um soziologische oder wissenschaftstheoretische Zugänge zur Mathematik aufgenommen worden. Wie verhält es sich nun mit der Kategorie Geschlecht bezogen auf die Mathematik, und dies aus einer wissenschaftshistorischen oder wissenschaftssoziologischen Perspektive?
Mit dem 2000 erschienenen Buch Die Innenwelt der Mathematik – Zur Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin hat die Soziologin und Geschlechterforscherin Bettina Heintz eine umfangreiche Studie zur Mathematik vorgelegt. Der Titel weckt hohe Erwartungen, soll es, mit dem schönen Begriff Innenwelt gefaßt, doch tatsächlich um Mathematik gehen und nicht um Institutionengeschichte, Biographieforschung u. ä. Forschungsansätze, die in schöner Regelmäßigkeit einen eleganten Bogen um die „Kultur und Praxis“ Wissenschaft selbst machen. Heintz‘ theoretischer Hintergrund ist die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie, die keinen Zweifel daran hat, „daß sich ihr Programm auch auf die Mathematik übertragen läßt, der empirische Test dafür steht bislang aber noch aus.“ (S. 9) Mit ihren Untersuchungen nimmt Heintz die etwas provokatorische Bemerkung Bruno Latours auf, „niemand habe bislang den Mut gehabt ‚The Holy of Holies‘ zu betreten, um dort zu tun, was er und andere für die Naturwissenschaften geleistet hätten, nämlich vor Ort zu untersuchen, wie mathematisches Wissen konkret entsteht.“ (S. 9)
Im Mittelpunkt des Buches steht die Frage, wie mathematisches Wissen gewonnen und von der mathematischen Gemeinschaft als gesichertes Wissen akzeptiert wird. Doch zunächst ist zu klären, warum sich Wissenschaftssoziologie so schwer mit einer Soziologie der Mathematik tut. Kapitel 1 führt in diese Problematik ein: Eine der Ursachen für die Schwierigkeit im Umgang mit Mathematik ist sicherlich die geradezu apodiktische Position Karl Mannheims, des Begründers der Wissenssoziologie: Der „Wissenstypus nach dem Paradigma 2 x 2 = 4“ sei „eine Wahrheit-an-sich-Sphäre, die vom historischen Subjekt völlig losgelöst ist.“ (Mannheim 1931, S. 251) Ein Satz, der einem Denkverbot gleich kam und der über Jahrzehnte den soziologischen Umgang mit der als a priori angenommenen Wissenschaft Mathematik gestaltete. Heintz formuliert vier Basispostulate einer solchen Auffassung von Mathematik, an denen sich eine konstruktivistische Untersuchung abzuarbeiten hat: Mathematisches Wissen ist ein Wissen a priori. Es ist sicheres Wissen, anders als das mit Unsicherheit behaftete Wissen empirischer Wissenschaften. Seine Validierungsbasis ist nicht die Empirie, sondern der Beweis. Seine Referenzobjekte haben keinen physikalischen Charakter (vgl. S. 8). Fleck hat gewissermaßen dagegen gesetzt: „Nun begehen alle diese soziologisch und humanistisch gebildeten Denker – so fördernd ihre Gedanken sind – einen charakteristischen Fehler: sie haben all zu großen Respekt, eine Art religiöser Hochachtung vor naturwissenschaftlichen Tatsachen.“ (Fleck 1935, S. 65)
Dennoch muß sich auch die in der Folge Flecks stehende wissenschaftssoziologische Analyse mit den epistemischen Besonderheiten der Mathematik beschäftigen, die Heintz mit den Begriffen „Kohärenz“ und „Konsens“ zu fassen sucht. Unter der Kohärenz ist die kognitive Einheit der Mathematik gemeint, die Beobachtung, dass trotz einer enormen Spezialisierung die Mathematik ein zusammenhängendes Ganzes bildet. Konsens benennt die Fähigkeit, einen Dissens mit Sicherheit und auf rationale Weise zu entscheiden, den Mangel an interpretativer Flexibilität mathematischer Texte und die klare Auffassung darüber, ob es sich um Mathematik oder etwas anderes handelt. Mit beiden Begriffen sind Problemstellungen benannt, denen sich eine als empirische Epistemologie verstehende, konstruktivistische Wissenschaftssoziologie zu stellen hat, die dies bisher aber kaum und in nur unzureichender und unbefriedigender Weise getan hat.
Ähnliches gilt im übrigen auch für die Mathematikphilosophie, wie Heintz im zweiten Kapitel in einer sehr umfangreichen und instruktiven Erörterung von aus philosophischer und wissenschaftstheoretischer Sicht formulierten Fragen und Antworten ausführt, insbesondere bezogen auf den von Mathematikern geführten metamathematischen Disput zur Grundlagenkrise der Mathematik. Die mathematische Antwort auf diese Krise war pragmatisch, wie Mehrtens es in seinem Buch Moderne Sprache Mathematik gezeigt hat, auf das Heintz sich bezieht (Mehrtens 1990): Es wurde Mathematik betrieben, auch wenn die philosophischen Antworten auf die philosophischen Fragen nach der Sicherheit des mathematischen Wissens nicht gegeben werden konnten. Mit dieser „Lösung“ ist zugleich eine Antwort auf die Frage nach den Möglichkeiten einer soziologischen Perspektive gegeben. Es gilt, „die Kultur und Praxis einer beweisenden Disziplin“ zu untersuchen.
In Kapitel drei gibt Heintz einen Überblick über die aktuellen Diskussionen innerhalb der konstruktivistischen Wissenschaftssoziologie und stellt die wichtigsten Konzepte und Methoden vor, die in ihrer Untersuchung Verwendung finden. Zentral ist dabei der Ansatz, Wissenschaft als Handeln zu begreifen, der es ermöglichen wird, die „Kultur und Praxis“ der Akteure in den Blick zu nehmen. „Was aber ist ‚wirkliche‘ Mathematik und woraus besteht die Arbeit des ‚realen‘ Mathematikers? […] Wer etwas über die Innenwelt der Mathematik erfahren will, muß sich folglich dorthin begeben.“ (S. 139) In diesen Überlegungen ist auch die Frage nach Geschlecht angelegt: „Sobald wissenschaftliche Beobachtungen zum Gegenstand von Kommunikationsprozessen werden, ist das Ergebnis ein emergentes Phänomen […]. Es ist genau diese emergente Qualität von Kommunikationsprozessen, die für das Soziale im Wissenschaftlichen eine Art ‚Einfallstor‘ darstellt […]. Das ‚gute Argument‘ allein scheint jedenfalls nicht auszureichen, um eine Kontroverse für sich zu entscheiden. Vielmehr spielen auch wissenschaftliches Ansehen, Geschlechtszugehörigkeit, Nationalität […] eine wesentliche Rolle für den Verlauf und den Ausgang einer wissenschaftlichen Kontroverse.“ (S. 107 f.)
Zum Zwecke ethnographischer Feldforschung hat sich Heintz von März bis Juni 1994 im Max-Planck-Institut für Mathematik, einer der führenden internationalen Mathematikforschungseinrichtungen aufgehalten. Zwar wurde mit den sogenannten Laborstudien (etwa von Latour 1979 und Knorr Cetina 1983) bereits ethnographisch in der Wissenschaftsforschung gearbeitet, aber diese Untersuchungen blieben auf die empirischen Wissenschaften beschränkt. Sich der Mathematik, dem Entstehen von Mathematik, ihrer Validierung und Verbreitung in dieser Weise zu nähern, ist völlig neu, eine Herausforderung oder, wie Heintz formuliert, ein „instruktiver Testfall“ für die konstruktivistische Perspektive. Denn Mathematik bietet für die ethnographischen Verfahren der direkten Beobachtung eine besondere Schwierigkeit, da es, anders als in den empirischen Wissenschaften, um ein gewissermaßen geistiges Handeln – Heintz prägt im dritten Kapitel den Begriff des Denkhandelns – geht, das sich, so scheint es zunächst, dem Sehen und Hören entzieht. Doch ist die mathematische Praxis, und dies ist bereits ein Ergebnis von Heintz‘ Untersuchungen, entgegen gängiger Vorstellungen äußerst kommunikativ und das Max-Planck-Institut in seiner Arbeitsstruktur bewusst so angelegt, dass Kommunikation und die Entstehung informeller Arbeitszusammenhänge gefördert werden. Heintz verfügt über reiches Material, und allein die unverblümten Äußerungen von Mathematikern und Mathematikerinnen über ihr Handeln und Tun zu lesen, bringt Freude. Die Kapitel vier, fünf und sechs basieren auf diesem Material, und es gelingt Heintz, spannende und mit gängigen Vorstellungen brechende Erkenntnisse über die Produktion mathematischer Tatsachen zu gewinnen. Sie unterscheidet, den Erörterungen in Kapitel drei folgend, zwischen „context of discovery“, „context of validation“ und „context of persuasion“ (S. 120). Mit diesen analytischen Trennungen gelingt es ihr, vereinfacht ausgedrückt, zu zeigen, dass die Gewinnung mathematischer Ideen von experimentellem bzw. quasi-empirischem Charakter ist, der Validierungsprozeß wesentlich ein Prozess der Kommunikation ist und dass Aufschreiben und Beweisen auch Kommunikationsformen sind.
Die von Heintz in den vorhergehenden wissenschaftssoziologischen Überlegungen angelegte, wenn auch nicht explizierte Frage nach der Bedeutung von Geschlecht findet in den ethnographischen Studien keinen Widerhall. Offen bleibt, warum. In Kapitel sieben plädiert Heintz für eine Soziologie der Mathematik: „Eine soziologische Perspektive ist dort legitim und angebracht, wo es um die Rekonstruktion des Entwicklungsweges geht, der zu jener epistemischen Struktur führte, die für die moderne Mathematik typisch und mit ihrer Kohärenz und argumentativen Rationalität einzigartig ist. Auch wenn die konstruktivistische Wissenschaftssoziologie im Falle der modernen Mathematik auf eine Grenze stößt, verhilft die Soziologie doch besser zu verstehen, wie es dazu kam und weshalb dies so ist.“ (S. 275) Verhilft sie auch dazu, zu erklären, warum und ob überhaupt die Frage nach Geschlecht auf Grenzen stößt? Erklärt sich die Unterschiedlichkeit der Ergebnisse Trettins und Heintz‘ aus ihrer unterschiedlichen disziplinären und methodischen Perspektiven? Die Frage nach dem Verhältnis von Mathematik und Geschlechterforschung bleibt weiter offen.
Fleck, Ludwik: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. (1935) Frankfurt am Main: Suhrkamp 1980.
Koreuber, Mechthild : Mathematik oder Feminismus. In: Schellhowe, Heidi, Ulrike Erb (Hg.): Feministische Perspektiven auf Informatik und Mathematik: Mitteilungen? Mittelungen Nr. 233, Universität Hamburg: 1994.
Mannheim, Karl : Wissenssoziologie. In: Ders.: Ideologie und Utopie (1931). Frankfurt am Main: Klostermann 1969.
Mehrtens, Herbert: Moderne – Sprache – Mathematik. Eine Geschichte des Streits um die Grundlagen der Disziplin und des Subjekts formaler Systeme, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990.
Trettin, Käthe: Die Logik und das Schweigen. Zur antiken und modernen Epistemotechnik. Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1991.
URN urn:nbn:de:0114-qn022088
Mechthild Koreuber, Dipl. Math.
Frauenbeauftragte der Freien Universität Berlin
E-Mail: mechthild@koreuber.de
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