Frauen- und Geschlechterforschung in Mathematik und Naturwissenschaften.

Rezension von Margarete Maurer und Stephanie Schmoliner

Helene Götschel, Hans Daduna (Hg.):

PerspektivenWechsel.

Frauen- und Geschlechterforschung zu Mathematik und Naturwissenschaften.

Mössingen-Talheim: Talheimer Verlag 2001.

223 Seiten, ISBN 3–89376–040–7, DM 39,00 / Sfr 39.00

Abstract: Der Band präsentiert Vorträge einer Ringvorlesung an der Universität Hamburg im Jahr 1998/99. Die sämtlich aus den Naturwissenschaften oder der Mathematik kommenden Autorinnen geben von unterschiedlichen Perspektiven her Einblick in die Möglichkeiten und Ergebnisse der feministische Analyse ihrer jeweiligen Fachgebiete.

Der Band entstand aus einer zweisemestrigen Ringvorlesung des „Allgemeinen Vorlesungswesens“ an der Universität Hamburg über „Frauen und Geschlechterforschung zu Mathematik und Naturwissenschaften“. Damit sollte dieser interdisziplinäre Arbeitsbereich „sowohl einer universitären als auch einer außeruniversitären Öffentlichkeit“ vorgestellt werden. Ziel der Veranstaltung war es, einen „Einblick zu geben in ein Forschungsgebiet, das inzwischen international etabliert, aber an deutschen Universitäten wenig eingebunden ist“ (S. 7). Die Autorinnen stellen ihre Thesen und Ergebnisse aus damals in der BRD gleichwohl bereits laufenden Dissertationsvorhaben und Forschungsprojekten möglichst allgemeinverständlich dar, so dass diese sowohl für interessierte Laien als auch für Angehörige anderer Disziplinen nachvollziehbar werden und sie zu eigenen Forschungen anregen können. Die Themen wurden von den Herausgeber/-innen, der Physikerin (und gleichzeitig Historikerin) Helene Götschel und dem Mathematikprofessor Hans Daduna, so ausgewählt, dass möglichst verschiedenartige methodische Zugänge und Ansätze vorgestellt werden konnten. Auf diese Weise werden wesentliche Ausschnitte feministischer Forschung zu Mathematik und Naturwissenschaften präsentiert. Die inhaltliche Fokussierung liegt dabei auf der Frage nach der „Abspaltung“, „welche aus dem Denken in Dichotomien wie Natur – Kultur, Körper – Geist, Irrationalität – Rationalität, Passivität – Aktivität, Frau – Mann resultiert.“ (S. 15).

Die neun Einzelbeiträge wurden zu vier Gruppen zusammengestellt, um auf diese Weise zentrale Fragestellungen besser sichtbar werden zu lassen. In der Bezeichnung dieser Themengruppen folgen die Herausgeber/-innen einigen Grundlinien der feministischen Auseinandersetzung mit Naturwissenschaften, wie sie in den letzten zwanzig Jahre von kritischen Naturwissenschaftlerinnen entwickelt wurden: „Theorie und Geschichte“, „Frauen in der Wissenschaft“, „Das Geschlecht der Biologie“ und „Physikalisch-chemische Analysen“. Sie verbinden damit eine disziplinäre Strukturierung des Bandes (Biologie einerseits, chemisch-physikalische Wissenschaften und Mathematik andererseits) mit einer Dreier-Matrix, welche eine der „Mütter“ des Forschungsfeldes „Gender and Science“, die Biophysikerin Evelyn Fox Keller, einmal zum Zwecke seiner Systematisierung entwickelt hat: erstens die historische und soziologische Untersuchung von „Frauen in der Wissenschaft“ hinsichtlich der Barrieren und Karrieren von Frauen als Mitgliedern einer strukturellen „Minderheit“ in einem männlich dominierten Feld (Women in Science), zweitens die naturwissenschaftliche Behandlung und Generierung eines dualistisch gefassten „Geschlechtsunterschiedes“ bzw. der Kategorie „Geschlecht“, insbesondere in den biomedizinischen Wissenschaften (Science of Gender), und drittens die Frage nach der geschlechtsspezifischen Prägung der vermeintlich „neutralen“ mathematischen-naturwissenschaftlichen Disziplinen selbst, d. h. nach dem Anteil „der Geschlechterordnung zur Definition der Naturwissenschaften und ihrer Methoden“ (S. 14) (Gender of Science).

Im Anfangskapitel „Ein selektiver Überblick“, mit welchem „eine Einführung in das Gebiet am Beispiel der Einzelprojekte der Autorinnen“ (S. 9) beabsichtigt ist, stellen die beiden Herausgeber/-innen den Zusammenhang und die Verbindungen zwischen den neun Arbeiten heraus. So wird darauf hingewiesen, welche Beiträge insbesondere das Thema „Geschlecht als Kategorie“ behandeln, oder welche sich generell mit Strukturdeterminanten von Naturwissenschaft befassen. Der Band erfordert intensive Lektüre: Erst „in der Konjunktion der Einzelbeiträge“ würden wesentliche Einsichten deutlich (S. 9), meinen die Herausgeber/-innen. Gemeinsam sei den Beiträgen, schreiben Helene Götschel und Hans Daduna, „dass sie insbesondere geschlechterhierarchische Strukturen in der klassischen Situation der etablierten Fachwissenschaft und im Wissenschaftsverständnis ihrer Protagonisten bestimmen und offenlegen“ (S. 15). Diese „andere“, „eben doch neue Perspektive“ erbringe „manchmal überraschende Einblicke in das, was wir als Naturwissenschaft zu denken gewohnt sind“ (S. 15). So lautet z. B. ein Ergebnis, dass „nicht nur in der Biologie, sondern auch in den harten Naturwissenschaften eine Strukturdeterminante ‚Geschlecht‘ nachgewiesen werden [kann].“ (S. 19). Von daher rechtfertigen die Herausgeber/-innen die Wahl des Titels für ihren Sammelband: Perspektivenwechsel. Diese Perspektive beinhaltet eine Blickrichtung, welche zugleich von innen heraus und von außen her die einzelnen Disziplinen betrachtet.

Zwei der Beiträge (in unterschiedlichen Kapiteln des Bandes, dies kann zunächst verwirren) befassen sich am Beispiel von Naturschutz und Biologie mit den expliziten oder impliziten Naturkonzepten der „Natur“wissenschaften und kommen zu die einzelnen Disziplinen tendenziell übergreifenden Ergebnissen: Die Limnologin Kerstin Palm versucht in ihrem Beitrag „Der Naturbegriff in der Biologie aus feministischer Sicht“, „Voraussetzungen und Konstituenten der distanzierten, kontrollierten Naturerfahrung, wie sie den in der Moderne entwickelten Naturwissenschaften eigen sind“ (S. 18), zu klären. Ihre These ist: „Durch Abspaltungen entlang geschlechtsspezifisch mitbestimmter Alternativen sind diese auf ihre heute verwendeten Methodiken und ihre formale Erkenntnisstruktur reduziert.“ (S. 18).

Anhand „der derzeitigen Diskussionen über differierende Konzepte von Naturschutz“ (S. 16) befragt die Biologin Ivana Weber unter der Überschrift „Die Schöne und das Biest?“ das Denken sowohl feministischer als auch nicht-feministischer Naturschützer/-innen ebenfalls auf möglicherweise in deren Begrifflichkeiten liegende „Abspaltungen“ hin. Wichtig ist es ihr, die Verwobenheit von Natur- und Geschlechterverhältnissen aufzuzeigen und die Widersprüche darin zu entwirren. Sie zeigt, „daß in ganz unterschiedlichen, statischen wie dynamischen Konzepten von Natur dennoch fast gleiche Abspaltungen auftreten.“ (S. 16): „Sogar Naturschützerinnen naturalisieren die Dichotomien und daraus gefolgerte Hierarchien.“ (S. 17). Ihr Fazit: „wenn Natur […] im Naturschutz [eine] aktive und widerständige Rolle[n] einnehmen soll, wird zu diskutieren sein, inwieweit bzw. ob der Begriff ‚Naturschutz‘ aufrechterhalten werden kann und soll, impliziert er doch das ‚schwache‘ Objekt, das des Beschützt-Werdens durch das ‚starke‘ Subjek bedarf, und schreibt insofern die oben kritisierten dualistischen Hierarchien auf einer weiteren bedeutungsvollen Ebene, der sprachlichen, fort.“ (S. 148)

Im Rahmen des Kapitels „Theorie und Geschichte“ untersucht Helene Götschel in einem grundlegenden und die Einleitung ergänzenden Beitrag „Vom (un)heimlichen Inhalt der Naturwissenschaften und dem ‚Geschlecht der Natur‘“ (damit spielt sie auf einen früheren grundlegenden Artikel der Physikerin Rosemarie Rübsamen an) die Veränderungen der feministischen Naturwissenschaftsforschung der 70er, 80er und 90er Jahre, von der Suche nach historischen Vorbildern bis zur postmodernen feministischen Theorie. Götschel meint, dass der frühere „Antagonismus zwischen sozialwissenschaftlich und naturwissenschaftlich orientierten Positionen“ verschwunden sei, „indem durch Zusammendenken beider Positionen und durch das Zusammenwirken der Methoden beider Bereiche die eigentlichen Fortschritte im Gebiet der Frauen- und Geschlechterforschung zu Mathematik und Naturwissenschaften erfolgten.“ (S. 22)

Die beiden Autorinnen des Kapitels „Frauen in der Wissenschaft“ widmen sich der Mathematik und Chemie, also zwei Disziplinen, in welchen es bislang sehr schwierig war (und noch ist), feministische Analysen und Weiterentwicklungen in Hinsicht auf die Fragestellungen des Bereiches Gender of Science zu erarbeiten. Historische Arbeiten über die Situation von Frauen in diesen Wissenschaften (Women in Science) stellen daher wichtige Vorarbeiten dar, da sie die Aufmerksamkeit für geschlechtsspezifische Aspekte in diesen Disziplinen schärfen. Die Mathematikerin Mechthild Koreuber (zusätzlich in Philosophie, Geschichte und Politikwissenschaft ausgebildet) stellt in ihrem Aufsatz „Emmy Noether, die Noetherschule und die ‚moderne‘ Algebra“ die Biographie der wahrscheinlich bekanntesten Mathematikerin Emmy Noether (1882–1935) und deren Leistung, die „Verwandlung der Mathematik“, dar. Sie behandelt die Kommunikationsstrukturen und institutionellen Verankerungen der damaligen Mathematiker, welche von Emmy Noether zu durchdringen waren in ihrem „Ringen um den Zugang von Frauen zur Wissenschaft“ (S. 19). In ähnlichem Sinne kann auch die von Mirjam Wiemeler beschriebene „Entwicklung von Frauenarbeit im Berufsfeld Chemie zwischen 1900 und 1945 gelesen werden“ (S. 20). In ihrem Beitrag „Wissenschaftshistorische Forschung über Chemikerinnen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts“ untersucht die Autorin „anhand zweier Großunternehmen typische Frauenarbeitsplätze in der Chemischen Großindustrie“. Wiemeler zeichnet nicht nur Portraits einzelner Chemikerinnen nach, sondern setzt sich kritisch mit den Rahmenbedingungen auseinander. Sie zeigt z. B. die territorialen und hierarchisierten Barrieren, die Frauen überwinden mussten. Dabei stellt sie auch die heikle Frage nach Kriegsgewinnlerinnen: „gerade zu Kriegszeiten“ (S. 20) eröffneten sich für Frauen neue berufliche Chancen und Anstellungsmöglichkeiten. Die Autorin resümiert als ihr Ergebnis über die Chemikerinnen zwischen 1900 und 1945: „Da die Berufsarbeit ein wichtiger Bestandteil der Geschlechterrollen war (und ist), beteiligten sie sich damit an der Konstruktion der Geschlechterrollen von Frauen und Männern.“ (S. 96)

Mit der Frage der naturwissenschaftlichen Konstruktion von „Geschlecht“ (Science of Gender) befassen sich die beiden Beiträge im Kapitel „Das Geschlecht der Biologie“. Bärbel Mauss beginnt mit einem Überblick zur feministischen Biologiekritik am Beispiel der feministischen Auseinandersetzung mit der Soziobiologie. Ein eigener Abschnitt ist – wie auch im weiteren Beitrag von Ivana Weber (siehe oben) – den Ansätzen Donna Haraways gewidmet, deren Theorien zunehmend auch in den Sozialwissenschaften rezipiert werden. Bärbel Mauss schlussfolgert: „So besitzt jede kritische Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften ihre Relevanz, da sie jeweils auf verschiedenen Ebenen der Wissenschaft eingreift und so den hegemonialen Diskurs der Wissenschaft verändert“ (S.120).

Dass sich gleich drei Beiträge – so die Überschrift des letzten Kapitels oder Themenblocks – mit „Physikalisch-chemischen Analysen“ befassen (dies vor allem unter Zuhilfenahme wissenschaftstheoretischer Überlegungen), ist sehr erfreulich, besteht doch aufgrund ihrer Sperrigkeit gegen feministische Ansätze gerade in diesen Fachgebieten ein gewisser Nachholbedarf. Dass hierzu auch eine Arbeit zur physischen Geographie gezählt wurde, mag zunächst verwundern, in der Tat arbeitet dieser Forschungsbereich jedoch vor allem mit physikalisch-chemischen Konzepten und Messmethoden. Die Autorinnengruppe Sybille Bauriedl, Katharina Fleischmann und Ulrike Meyer-Hanschen zeichnet die erst seit kurzem entwickelten „feministischen Ansätze in der physischen Geographie“ nach, indem sie die Ergebnisse eines Workshops (in Berlin 1997) vorstellt. Ihr Ziel war bzw. ist es vor allem, die begriffliche Dichotomie „Natur – Kultur“ aufzubrechen, die das Naturbild bzw. den Naturbezug dieses Wissenschaftsbereiches bestimmt. Vor dem Hintergrund wissenschaftstheoretischer Überlegungen verlangen die Autorinnen eine „ ‚integrierte‘ feministische Geographie“, welche humanökologische und poststrukturalistische Ansätze einbezieht (S. 162).

Auf der Basis einer qualitativen empirischen Befragung von Doktorand/-innen der Physik untersucht die Physikerin (und Doktorandin der Soziologie) Petra Lucht in ihrem Beitrag „Kaleidoskop Physik“ institutionelle Ausschlussmechanismen. Sie beleuchtet insbesondere „die Streitfrage“: „Wird das Wissenschaftsverständnis der Physik von gesellschaftlichen Bezügen – und damit möglicherweise auch von einer sozialen Kategorie wie Geschlecht – mit konstituiert oder nicht?“ (S. 169) Sie kommt unter anderem zu dem Ergebnis, dass dieses Wissenschaftsverständnis „von hierarchischen, dichotomen Kategorien geprägt ist: einem analytischen Verständnis von Physik steht die Auffassung von Forschungsprojekten als Design gegenüber, einem experimentellen Wissenschaftsverständnis ein theoretischer Zugang zur ‚wirklichen Welt‘.“ (S. 195)

Wiederum der Chemie widmet sich der den Band abschließende Beitrag von Dorit Heinsohn, „Feministische Wissenschaftsforschung in der Chemie“. Sie „zeigt am Beispiel zweier zeitlich paralleler Kontroversen“, der Kontroverse zur Energetik und der über die Einführung des Frauenstudiums in Deutschland, „wie sich ausdrücklich aus Thermodynamik und Evolutionstheorie entlehnte Argumentationsketten in die Debatte über die Zulässigkeit wissenschaftlicher Arbeit von Frauen einflechten lassen“ (S. 17). Damit wird allerdings wiederum die Schwierigkeit feministischer Analysen deutlich: Wenn paternalistisch denkende Thermodynamiker an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert Analogien aus ihren Wissenschaften entnahmen, um sich gegen das Frauenstudium auszusprechen, so macht dies zwar zumindest lose Zusammenhänge deutlich (und nicht keine, wie zumeist angenommen), aber es wäre dann weiter zu prüfen, inwieweit dies bloße Rhetorik ist oder mehr in die Tiefe gehende Analogiebildungen gemeint sind.

Der Band zeigt, dass die feministische Naturwissenschaftsforschung beachtliche Erfolge vorweisen kann, dass die Institutionalisierung dieses Gebietes jedoch gerade erst in Gang kommt und noch lange nicht durchgesetzt ist.

Zu wenig angesprochen wird unserer Meinung nach eine in den Anfängen der feministischen Auseinandersetzung stärker vertretene Richtung der Analyse, welche über die wissenschaftstheoretischen Analysen hinaus die Zielsetzungen und Verwertungszusammenhänge naturwissenschaftlichen Wissens kritisch unter die Lupe nimmt. Auch behandeln die Beiträge vorwiegend die „klassischen“ naturwissenschaftlichen Disziplinen wie Biologie, Chemie, Physik, Geographie sowie Mathematik – angewandte oder neuere Richtungen wie Landwirtschaft, Informatik, Erd- und Himmelswissenschaften, fehlen. Fünf Beiträge aus diesen Bereichen waren zwar Teil der mit diesem Band dokumentierten Ringvorlesung (siehe S. 8 f.), sie wurden jedoch bereits an anderer Stelle publiziert.

Ein Register am Ende des Bandes wäre sinnvoll gewesen, denn es würde den Leser/-innen erlauben, dieses Buch tatsächlich als „Nachschlagewerk“ zu benützen. Auch ein zusammenfassendes Literaturverzeichnis hätte manchen zur Weiterarbeit Hilfen geben können, zumal an vielen Stellen gezeigt wird, wo weitere interessante Forschungsfelder vorhanden sind. Gleichwohl ergeben die hier publizierten Aufsätze einen interessanten Einblick in damals begonnene oder laufende Forschungsprojekte und in verschiedene Möglichkeiten der Weiterführung von Ansätzen der feministischen Naturwissenschaftsforschung.

URN urn:nbn:de:0114-qn022075

Dr. Margarete Maurer

Rosa Luxemburg Institut, Wien

E-Mail: margarete.maurer@univie.ac.at

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