Liebe ohne Leiden?

Rezension von Stefan Müller

Hans-Joachim Busch, Angelika Ebrecht (Hg.):

Liebe im Kapitalismus.

Gießen: Psychosozial-Verlag 2008.

240 Seiten, ISBN 978–3–89806–847–5, € 24,90

Abstract: Im vorliegenden Sammelband werden unterschiedliche Zugänge und Herangehensweisen zum Thema ‚Liebe im Kapitalismus‘ nebeneinandergestellt. Die Idee der Liebe innerhalb der ‚Logik des Kapitalismus‘ soll genauer untersucht werden. Dafür werden Erfahrungen und Reflexionen aus Kunst, Literatur, Philosophie und Psychoanalyse sowie aus Datenerhebungen und Interviews herangezogen und analysiert. Die Beiträge gruppieren sich zumeist allerdings stärker um das Themenfeld der Liebe. Veränderungen der kapitalistischen Logik nachzuzeichnen, wird in den Ausführungen kaum angestrebt.

In den insgesamt zehn Beiträgen im Sammelband wird von verschiedenen Perspektiven ausgehend versucht zu analysieren, wie sich ‚Liebe‘ in ihrer modernen Form entwickelt hat. Zwischen Verwertungs- und Machtinteressen und der reinen Beziehung werden die emanzipatorischen und die einschränkenden Momente der modernen Liebe in den Blick genommen. Philosophische Überlegungen finden sich neben psychoanalytischen; klassische Familienkonstellationen werden ebenso betrachtet wie WG-Wohnformen oder Kommunen; Kunst und Literatur geben über das Thema genau so Auskunft wie die Analyse eines Interviews. In den beiden Eingangsbeiträgen wird die Entstehung dessen, was heute unter romantischer Liebe verstanden wird, in die Umbruchsituation vom 19. zum 20. Jahrhundert eingeordnet. In der Auseinandersetzung mit Frauenbildern in der Kunst, insbesondere in der Malerei, legt Hans-Jürgen Döpp in „Jahrhundert-Dämmerung“ dar, wie dichotome Gegenüberstellungen (beispielsweise Geist versus Geschlecht) die Emanzipation nachhaltig behinderten. Gänzlich andere kulturindustrielle Produkte zieht Angelika Ebrecht für ihre Analyse heran. Sie zeigt an Heinrich Manns Roman Professor Unrat und Josef von Sternbergs Film Der blaue Engel, dass in diesen nicht nur die Geschlechterordnung gehörig durcheinandergebracht wurde, sondern auch das Ideal der reinen, romantischen Liebe obsolet erschien (vgl. S. 50).

Let’s talk about sex…

Die Beiträge des Sammelbandes erscheinen dann am stärksten, wenn konsequent das herrschende asymmetrische Geschlechterverhältnis zwischen den Momenten der Repression und der (stets verstellten, aber durchaus möglichen) Emanzipation herausgearbeitet wird – zudem unter Rückgriff auf empirische Erhebungen. Insbesondere der Beitrag von Silja Matthiesen bewegt sich in diesem Rahmen. Sie stellt kurz und knapp Ergebnisse der Studie Beziehungsbiographien im sozialen Wandel (vgl. S. 77 f.) vor und erarbeitet damit eine faktenorientierte Perspektive, die die „sozialen, familiären und gesundheitspolitischen Umstände“ und die „sexuellen Spielräume in Deutschland“ (ebd.) offenlegt. In der Untersuchung der sozialen Organisation von Liebe und Sexualität in den letzten 40 Jahren gelangt sie zu dem Schluss, dass „die Vielfalt des sexuellen Verhaltens weit hinter ihren Möglichkeiten zurück[bleibt]. Weder sind in der heterosexuellen Welt die sexuellen Praktiken stark diversifiziert, noch haben sich (neo)sexuelle Organisationsformen weit verbreitet – im ‚supermarket of possibilities‘ […] wählen die meisten heterosexuellen Männer und Frauen nicht das Neue, sondern das Bekannte.“ (S. 88; Hervorhebung im Original)

Viele Fragezeichen dagegen hinterlässt der Beitrag von Volker Caysa über den „Leib der Liebe“. Einsichten wie „Sex ohne Instrumentalisierungsskrupel ist möglich, wenn man möglichst frei von moralischen Vorurteilen die Schönheit gekonnter Körperbenutzung anerkennt und man sich als freie und gleiche Personen der Freude an der Körperbenutzung hingibt, ohne sich zu vernutzen“ (S. 101) oder „Die Liebe kann sich ein Leben lang nur auf eine Person beziehen, das heißt aber nicht, dass sie sich nur auf einen sexuellen Partner bezieht“ (S. 101) verlieren sich zwischen Anmerkungen zur Biomacht und zu Körpernormalisierungsanforderungen und -wünschen. Da das Verhältnis der Moral zur Emanzipation (mindestens) ein gespaltenes ist, wird die Lösung von ‚moralischen Vorurteilen‘ kaum ausreichend Mittel zur Verfügung stellen, wenn es um die Möglichkeiten und vor allem Grenzen geschlechtsspezifischer „Körpertechnologisierung und Körperökonomisierung in der Liebe“ (S. 100) geht.

In der Beschäftigung mit Liebe im Kapitalismus ist eine nähere Auseinandersetzung mit der mittlerweile als Standardwerk zu bezeichnenden Theorie von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim (vor allem in: Das ganz normale Chaos der Liebe) kaum zu umgehen. In solch eine Auseinandersetzung begibt sich Karola Brede und zeigt auf, dass jene zwar nicht auf unreflektierte Vorannahmen wie die intakte bürgerlich-traditionelle Familie (vgl. S. 122) zurückgreifen, dass aber immanente Mehrdeutigkeiten, das Wechselverhältnis von Liebe und Hass, genauer ausbuchstabiert werden müssten. Dazu verweist sie auf die Arbeiten von Freud, die die Fragilität und Mehrdeutigkeit frühkindlicher Sozialisation im Spannungsfeld zwischen Liebe und Aggression herausarbeiten.

Katharina Liebsch stellt in „Der weibliche Liebeswunsch“ den Kontext von sozialen Bedingungen und Machtverhältnissen in den Mittelpunkt. Insbesondere die Frage, „wie das Verhältnis von Abhängigkeit und Autonomie in Liebesbeziehungen zu verstehen ist“ (S. 135), diskutiert sie einerseits vor der Folie des Wunsches nach Zweisamkeit (vgl. S. 136 f.), anderseits vor einem kaum auflösbaren Dilemma: „Viele der von der Frauenbewegung erkämpften Erfolge sind für junge Frauen heute selbstverständlich; viele feministische Forderungen bleiben ihnen daher fremd.“ (S. 144) Weitere Momente zu Familienstrukturen, elterlicher Arbeitsteilung, Liebesbeziehung und damit zum Geschlechterverhältnis heute arbeitet Anke Kerschgens in ihrer Interviewanalyse eines Forschungsgesprächs mit einem Elterpaar heraus. Was eigentlich neu, innovativ und selbstbestimmt erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung allzu oft als Reaktion auf Modernisierungsprozesse. Zudem erledigen sich die alten, überwunden geglaubten traditionellen Rollen keineswegs. „Auch wenn in neuen Deutungsmustern veränderte Geschlechterverhältnisse zum Ausdruck kommen, kann dies weder mit dem Wandel der Alltagspraxis noch dem Verschwinden alter Muster gleichgesetzt werden. Alte und neue Deutungsmuster bestehen vielmehr gleichzeitig.“ (S. 217 f.)

Love hurts

Der Beitrag von Johann August Schülein hält, was der Titel verspricht: „Kommunen und Wohngemeinschaften – die Hoffnung, den Kapitalismus durch alternative Lebensweisen abzuschaffen als Schrittmacher der Individualisierung“. Eine nicht besonders neue These, aber Schülein gelingt es, indem er – weder in einer allzu deutlichen Absetzung noch in einer Verklärung des Vergangenen – die mit diesen Wohnformen verbundenen (häufig alltäglichen) Probleme reflektiert, das ganze Spektrum zu beleuchten, das bis heute kennzeichnend bleibt: von der Zweck-WG bis zur Familienersatz-Kommune.

Emilio Modena dekonstruiert nachvollziehbar und schlüssig die innerhalb der Psychoanalyse viel diskutierte Bindungstheorie. Dieser auf John Bowlby zurückgehende Ansatz imaginiert in der Kategorie der Bindung ein ubiquitäres Moment. Der Autor zeigt im Rückgriff auf ethnopsychoanalytisch fundierte Studien die im Bindungskonzept enthaltenen metapsychologischen Verkürzungen auf, kritisiert diese als romantische Wissenschaftsproduktion und weist im Ergebnis darauf hin, dass ‚unser‘ Konzept der Bindung, auch der Liebe, ein spezifisch gesellschaftliches, höchstgradig kulturell geformtes ist. Im Kern argumentiert Modena mit der Einsicht, die Freud spätestens in Das Unbehagen in der Kultur ausformuliert hat. Vor diesem Hintergrund fasst Modena dann seine Auseinandersetzung mit der Bindungstheorie zusammen: „Arme Psychoanalyse. Ich höre, wie sich Sigmund Freud im Grabe umdreht – die Sexualität wurde durch Bindung ersetzt und die ‚Wahrheit‘ (um derentwillen er die Methode der Nachwelt empfehlen wollte) durch Sicherheit.“ (S. 170) Er versucht zudem, die Frage nach dem Zusammenhang von Liebe und Kapitalismus explizit aufzunehmen: „Im Unterschied zur Sexualität war Liebe allerdings nie ‚verfügbar‘. Sie kann nicht gekauft und gehandelt werden, weil sie nur auf der Grundlage echter Bedürfnisbefriedigung entsteht. Sie meint die Sache selbst, nicht ihren Schein, und sie geht aufs Ganze […] unabhängig vom biologischen Geschlecht.“ (S. 171)

Abgeschlossen wird der Band mit einem Beitrag von Dietmar Larcher. Zentrales und ernüchterndes Ergebnis eines Vergleichs der heutigen psychischen und sozialen Lage von binationalen Ehepaaren in Österreich mit seiner vor acht Jahren durchgeführten Studie (vgl. S. 222) ist die Einsicht, dass heute, also innerhalb eines überschaubaren und relativ kurzen Zeitrahmens, die „Ergebnisse deutlicher ungünstiger ausfallen.“ (S. 227) Zwei Faktoren kommt dabei entscheidende Bedeutung zu: rechtliche und finanzielle Hürden stellen das Fremdenrecht in Österreich vor das Familienrecht, so dass binationale Partnerschaften mit erheblichen institutionellen Ausgrenzungsmechanismen konfrontiert sind. Larcher zieht den ernüchternden Schluss, dass heute für die Studie der Titel „Die bikulturelle Liebe in Zeiten der kollektiven Regression in den Nationalismus“ (vgl. S. 227) angebracht wäre. So stellt sich in aller Deutlichkeit heraus, dass Liebe im Kapitalismus wenig mit ersterer zu tun. Wer sich bindet, entscheiden nicht nur die Verliebten – sofern sie überhaupt die Möglichkeit haben, sich kennenzulernen.

Fazit

Liebe und Kapitalismus – gibt es überhaupt sozialwissenschaftliche Bereiche, die davon abstrahieren können? Wie die Herausgeber/-innen bereits im Vorwort ankündigten, handelt es sich um einen sehr heterogenen Sammelband. Nicht ein spezifischer Untersuchungsstil wird favorisiert, sondern in der Vielzahl der unterschiedlichen Zugänge und der Vielfältigkeit der Themenkomplexe liegt seine Besonderheit. Spezifische Einzeluntersuchungen und Beobachtungen, die exemplarisch verstanden werden wollen, werden auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen dargestellt und lassen selten aufs Ganze schließen. Von der Kommunenbewegung über die britische Rezeption der Psychoanalyse zur Biopolitik ist es ein langer Weg – die Klammer bildet das große Thema der Liebe im Kapitalismus. Inhaltlich verbindet die Beiträge vor allem das Interesse am gegenwärtigen Stand der Liebe, wodurch die angekündigte Bezugnahme auf den Kapitalismus zu kurz kommt – aber erstere ist letzterem bekanntlich vorzuziehen.

URN urn:nbn:de:0114-qn093245

Stefan Müller

Frankfurt am Main

E-Mail: muellers@uni-frankfurt.de

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