Ein idyllisches Modell menschlicher Sexualität

Rezension von Monika Gsell

Ilka Quindeau:

Verführung und Begehren.

Eine psychoanalytische Sexualtheorie nach Freud.

Stuttgart: Klett-Cotta 2008.

320 Seiten, ISBN 978–3–608–94486–0, € 34,00

Abstract: Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau präsentiert in ihrer Monographie das Modell einer „geschlechtsübergreifenden menschlichen Sexualität“ (S. 299). Dieses Modell versteht sie als Gegenentwurf zu bisherigen Theorien, denen zufolge die Entwicklung von Geschlechtsidentität durch Abgrenzung von andersgeschlechtlichen Aspekten und durch deren Abwertung entsteht. Sie beansprucht mit ihrem Modell, Geschlecht als gesellschaftliche Ordnungsstruktur in Frage zu stellen und damit zu einem entspannteren Geschlechterverhältnis beizutragen.

Die Psychoanalyse hat es schwer mit den Gender Studies: Entweder sie nähert sich dem Diskurs der Gender-Theorien an und tut so, als ob sie ein organischer Teil davon sein könnte, übernimmt tapfer die Auffassung einer gesellschaftlichen Konstruktion von Geschlecht und hält alle psychischen Probleme mit dem Geschlecht mittels einer Veränderung der Gesellschaft für lösbar. Oder aber die Psychoanalyse bleibt sich treu und fragt nach unbewussten Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit, wie sie klinisch fassbar werden in Träumen, Phantasien und im Übertragungsgeschehen – und untersucht, was diese Konstruktionen uns über die Bedeutung der Geschlechtsdifferenz für psychisches Leid verraten. In diesem Fall wird die Psychoanalyse von den Gender Studies entweder gar nicht zur Kenntnis genommen oder aber (oft zu Unrecht) als biologistisch abgekanzelt. Die Psychoanalytikerin und Soziologin Ilka Quindeau ist sich der Ansprüche beider Seiten bewusst: Gegen den an Freud & Co adressierten Biologismus-Vorwurf wappnet sie sich mit dem Konzept einer sozialen Genese der Sexualität, betont aber gleichzeitig die Bedeutung der unbewussten Phantasien für das Verständnis der menschlichen Psyche.

Der soziale Ursprung der Sexualität

Der theoretische Ausgangspunkt der Studie ist die „Allgemeine Verführungstheorie“ von Jean Laplanche. Deren zentrales Theorem besteht in der Annahme, dass die Sexualität des Kindes sich durch den – liebevollen, pflegenden – Kontakt mit den Bezugspersonen entwickelt. Triebe, so Quindeau, entstehen in der Beziehung zwischen dem Kind und einem Erwachsenen, sind also nicht endogen-biologisch angelegt, sondern lebensgeschichtlich erworben. Auch die erogenen Zonen entstehen unabhängig von der Anatomie, nämlich als Spuren der Erinnerung an frühere Befriedigungen – wie denn Erregung und sexuelles Erleben generell mehr von unbewussten Phantasien und Erinnerungen bestimmt sind als durch die Anatomie.

„Aufhebung“ der Geschlechtsdifferenz in der Sexualität

Die Geschlechtsdifferenz wird Quindeau zufolge erst in der infantil-genitalen Phase der psychosexuellen Entwicklung bedeutsam. Die zentrale Aufgabe dieser Phase bestehe für das Kind „in der Auseinandersetzung mit seinen bisexuellen Omnipotenzphantasien, der fraglosen Überzeugung, beide Geschlechter sein zu können, und der Notwendigkeit, den Verlust, die reale Begrenzung auf ein Geschlecht zu verarbeiten“ (S. 293f.). Die „strukturbildende Funktion“ (S. 295) der ödipalen Phase – welche ungefähr zeitgleich mit der infantil-genitalen Phase einsetzt – ziele „auf Anerkennung der Begrenztheit des Geschlechts“ (ebd.). Während der Mainstream psychoanalytischer Theorie sich mit dieser Anerkennung von Verlust und Begrenztheit abfindet und darin das Kernstück der Entstehung von Geschlechtsidentität erkennt, geht Quindeau einen Schritt weiter: Ihrer klinischen Erfahrung nach können insbesondere Männer nur dann vollständige sexuelle Befriedigung erlangen, wenn es ihnen gelingt, die weiblichen Anteile in ihre männliche Identität zu integrieren. Aus diesem Grund schlägt sie ein Modell „geschlechtsübergreifender menschlicher Sexualität“ vor. Diesem Modell zufolge werden die im Verlaufe der ödipalen Entwicklung aufgegebenen „andersgeschlechtlichen Identifikationen“ in der Pubertät wieder integriert. Männliche und weibliche Sexualität – so die Folgerung der Autorin – sind gar nicht so unterschiedlich wie bisher angenommen, denn sowohl der phallische als auch der rezeptive Lustmodus stehen (dank dieser Integration) beiden Geschlechtern zur Verfügung.

Offene Fragen

Quindeau nimmt an, dass sich mit diesem Modell menschlicher Sexualität eine ganze Reihe von Problemen lösen lassen: Die Polarität von Männlichkeit und Weiblichkeit könne damit überwunden werden; die Kategorie Geschlecht als gesellschaftliche Ordnungsstruktur werde in Frage gestellt; man dürfe erwarten, „dass das Geschlechterverhältnis eine neue Qualität gewinnt und sich entspannter, freier, weniger auf Abgrenzung bedacht gestaltet“ (S. 288). Allerdings wirft dieses Modell mehr Probleme auf, als es zu lösen beansprucht. Das erste große Problem ist die fehlende theoretische Begründung des Modells. Keine der für die Gender-Thematik relevanten Thesen werden mit dem theoretischen Ausgangspunkt – Laplanches Verführungstheorie – in Verbindung gesetzt oder daraus abgeleitet. Zentrale theoretische Fragen – z. B. wieso die Geschlechtsdifferenz für die Entwicklung der kindlichen Psyche eine Rolle zu spielen beginnt, woher die bisexuellen Omnipotenzphantasien kommen und aus welcher Notwendigkeit heraus das Kind seine anatomische Begrenzung anerkennen muss – werden nicht einmal gestellt. Stattdessen geht die Autorin ganz selbstverständlich davon aus, dass sich das Kind, wenn es sich mit Vater und Mutter identifiziert, automatisch mit deren anatomischem Geschlecht identifiziert und durch diese Identifikation sowohl männliche als auch weibliche Anteile in seine Identität integriert. Wieso kommt das Kind aber überhaupt dazu, seine Eltern als geschlechtlich differenzierte Wesen wahrzunehmen, wenn die Anatomie für seine psychosexuelle Entwicklung irrelevant ist? Ein weiteres Problem betrifft die fehlende Konkretisierung psychischer Prozesse: Wie soll das psychisch vonstatten gehen, die „Anerkennung eigener Begrenztheit“? Was passiert dabei mit den „andersgeschlechtlichen Aspekten“ – und wie sollen diese später, in der Pubertät, wieder integriert werden?

Welcher Nutzen für die Psychoanalyse?

Und schließlich: Was soll man mit der Frohbotschaft anfangen, mit der uns Quindeau hier beglückt? Die Psychoanalyse braucht Modelle, die zu erklären versuchen, worunter die Menschen leiden. Dass die Geschlechterdifferenz psychisch nur schwer zu verarbeiten ist und deshalb bei der menschlichen Neurosenbildung eine zentrale Rolle spielt – das war und ist unumstritten. Uneinigkeit herrscht lediglich im Verständnis der Ursachen: Wieso genau ist es für den Menschen so schwierig, mit der anatomischen Zweigeschlechtlichkeit umzugehen, wieso bedeutet es für jedes Menschenkind eine derart gewaltige narzisstische Kränkung, nicht beide Geschlechter sein und haben zu können, dass das, was einem fehlt, abgewertet werden muss oder aber so idealisiert wird, dass man bereit ist, auf das eigene zu verzichten, und sich einer Geschlechtsumwandlung unterzieht?

Je nachdem, wie man diese Fragen beantwortet, wird man einen anderen Weg finden, um diese gender troubles lindern zu helfen. Ganz sicher kein Weg ist es aber zu behaupten, dass es hier gar keine Probleme gibt. Würde man angehenden Psychoanalytiker/-innen Quindeaus „Modell einer geschlechtsübergreifenden menschlichen Sexualität“ mit auf den Weg geben, so wäre das – um eine Wendung von Freud aufzugreifen –, wie „wenn man Leute, die auf eine Polarexpedition gehen, mit Sommerkleidern und Karten der oberitalienischen Seen ausrüsten würde“ (Das Unbehagen in der Kultur, Studienausgabe Bd. IX, S. 260, FN 1).

Nützlich an diesem Buch ist der umfangreiche Forschungsüberblick zu einigen wichtigen sexual- und gendertheoretischen Positionen der Psychoanalyse. Besonders dankbar ist man für den Hinweis auf sonst eher schwer auffindbare psychoanalytische Literatur zur Transsexualität. Wundern muss man sich hingegen über das Fehlen von Jessica Benjamins Band Shadow of the Other. Intersubjectivity and Gender in Psychoanalysis (New York u. a. 1998; dt. Frankfurt a. M. und Basel 2002), in dem mehr oder weniger dasselbe Modell vorgeschlagen wird, nur heißt es dort ‚postödipale Transzendierung ödipaler Komplementarität‘ (S. 93 ff. der dt. Ausgabe).

URN urn:nbn:de:0114-qn093185

Dr. Monika Gsell

Universität Zürich/Fachbereich Gender Studies, sowie Psychoanalytikerin in eigener Praxis

E-Mail: monika.gsell@access.uzh.ch

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.