Lateinamerika oder -amerikas?

Rezension von Ana Belén García Timón

Stephanie Schütze, Martha Zapata Galindo (Hg.):

Transkulturalität und Geschlechterverhältnisse.

Neue Perspektiven auf kulturelle Dynamiken in den Amerikas.

Berlin: edition tranvía 2007.

195 Seiten, ISBN 978–3–938944–07–3, € 17,80

Abstract: Anhand interdisziplinärer und empirischer Studien wird Lateinamerika als Bühne für die Entwicklung transkultureller Phänomene präsentiert. Geschlechterverhältnisse in unterschiedlichen Kontexten stehen im Mittelpunkt der Untersuchung. Begriffe wie Macht, Rasse oder Raum werden mit dem Ziel, weg von der bisherigen Vorstellung von homogenen kulturellen Einheiten zu kommen, revidiert.

Im vorliegenden Sammelband, der als vierten Band in der Reihe „Fragmentierte Moderne in Lateinamerika“ der edition transvía im Verlag Walter Frey erschienen ist, versuchen die Herausgeberinnen Stephanie Schütze und Martha Zapata Galindo den Begriff Transkulturalität aus einer dynamischen und geschlechtsspezifischen Perspektive zu beschreiben. Dadurch distanzieren sich die Autorinnen von statischen Kulturkonzepten der Anthropologie, in denen Strukturalismus oder Strukturfunktionalismus sowie die Geschlechterforschung Transkulturalität als „binäres System“ behandeln. Mestizaje (Mestizentum), Hybridität oder Heterogenität sind Begriffe, die in den vergangenen Jahrzehnten in der Forschung über Lateinamerika immer wieder verwendet wurden; diese werden trotz aller Probleme, sie zu definieren, auch von den Autorinnen dieses Buches übernommen. Neu entstandene und sich verflechtende Räume führen jedoch zunehmend zu einem Wegfall geschlechtsspezifischer Grenzen.

Interdisziplinäre Untersuchungen in ständiger Bewegung

Die acht interdisziplinären, auf empirischen Untersuchungen sowie literarischen Analysen basierenden Beiträge des Bandes erfassen Themen, die sich zeitlich gesehen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart erstrecken: von geschlechtsspezifischen, ethnischen und sozialen Positionen im Peru des 16. Jahrhunderts bis zum alltäglichen jineterismo ((sexuelle) Beziehungen zu Touristen) im heutigen Kuba. Geographisch und unter einer nationalzentrierten Sicht gesehen, wird Mittelamerika (einschließlich Mexiko) am häufigsten porträtiert. Betrachtet werden migrierende Frauen, die sich von Guatemala nach Mexiko, innerhalb Mexikos und von Mexiko in die USA bewegen. Kuba tritt mit der Persönlichkeit von Julio Antonio Mella und mit dem Geschäft der Prostitution auf. Ethnologische Untersuchungen in Bolivien und historische Erfahrungen von Frauen in Peru konstituieren den südamerikanischen Raum. Kanada schließlich gilt als Treffpunkt für die latinas aus dem ganzen Kontinent.

Andrea Blumtritt beschäftigt sich mit der Pluralisierung von Geschlechterrollen in der Partnerschaft von Angehörigen des indigenen Volks der Aymara, die in die bolivianische Stadt El Alto migriert sind. Das Ehepaar auf Basis einer bäuerlichen Wirtschaft, das von der Forschung als typisch für die Aymara-Tradition erachtet wird, wird durch drei Fallbeispiele in Frage gestellt. Die porträtierten Paare zeigen, dass die pareja (Ehepaar) als soziale Kategorie in der ländlichen Aymara-Kultur sich in der städtischen Kultur nicht auflöst, sondern nur anders qualifiziert. Die Produktionsrollen werden anders verteilt als in der dörflichen Gemeinschaft. Darüber hinaus entstehen zum Teil asymmetrische Beziehungen.

Die Arbeit von Karoline Noack ist eine Darstellung über die Zusammensetzung der Stadt Trujillo im Peru des 16. und 17. Jahrhunderts. Sie zeigt z. B. anhand von Grafiken, dass die „india“ (indianischen) Frauen sich für weiße Männer interessieren, um damit ihre persönliche ökonomische Situation zu verbessern und nicht um das bis jetzt in der Forschung immer wieder verteidigte „Weißwerden“ zu erreichen. Die Autorin plädiert daher für eine Revision der bisherigen Literatur über das Thema der Zusammensetzung der Städte in der Kolonialzeit.

Anhand einer Interpretation von „Erzählungen der Rückkehr“ versucht Stefanie Kron die Entwicklung der politischen Rolle der Retornadas (Rückkehrerinnen) im Guatemala der 1990er Jahre nachzuzeichnen. Mit dem Hintergrund der imagined communities von Benedict Anderson wird El Retorno (die Rückkehr) als Gegenerzählung zum Konzept von Nation dargestellt. Die Kategorie Geschlecht hat eine zentrale Funktion in der Konstruktion der Erzählung. Die indigenen Frauen, viele davon Mütter, werden als soziale Alternative zu traditionellen Identitätsstrategien innerhalb der Nation präsentiert.

Die Analyse von zwei Texten, „Muertos incómodos“ von Subcomandante Marcos und Ignacio Taibo sowie „Cosecha de Mujeres“ von Dana Washington, ist Thema des Beitrags von Marisa Belausteguigoitia. Sie gibt einen Überblick über die Frauenrepräsentationen im mexikanischen Grenzgebiet. Beide Werke porträtieren das Konstrukt von transnationalen Subjekten, in diesem Fall Frauen, sowohl an der Südgrenze als auch an der Grenze zu den USA. Transnational meint in diesem Fall den Raum zwischen Öffentlichkeit und Untergrund, in dem die Frauen als intermitente Subjekte auftreten; das heißt, es geht um Frauen, die nur gelegentlich in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.

Transkulturalität in der Literatur ist auch in der Arbeit von Barbara Dröscher als Analysekategorie entscheidend. In den Romanen erscheinen Frauen, die in das Konzept „in-between“ von Homi Bhabha passen. Mittelamerikanische Erzählerinnen „bearbeiten in ihren Texten verschiedene Transkulturalitätskonzepte, wie das der ‚ciudad letrada‘, der ‚Mestizaje‘, der ‚kulturellen Antropophagie‘ und der ‚Kulturellen Übersetzung‘“ (S. 132). Dadurch werden Machtbeziehungen in den Werken herausgestellt.

Transkulturelle Praktiken innerhalb der „offiziellen“ multikulturellen Politik Kanadas und die Re-definition von Konzepten wie Demokratie, Gerechtigkeit oder Macht sind die Aufgabe der feministischen Zeitschrift Aquelarre. Jessica Gevers versteht die Zeitschrift als „Intervention in kanadische und transkontinentale Debatten zur Politik der sogenannten „kulturellen Differenz“ und zu Identitätspolitiken“ (S. 136). Die latinas, die Autorinnen der Zeitschrift, bilden mit ihren Beiträgen einen „dritten Raum“ im Sinne von Bhabha und tragen dazu bei, kulturelle Symbole wie sozio-politische Organisationen neu zu bewerten.

Christine Hatzky beschäftigt sich mit der Figur von Julio Antonio Mella und versucht nachzuweisen, dass Mella wegen seiner politischen Überzeugung von der Kommunistischen Partei Kubas, kurz nach ihrer Gründung, ausgeschlossen wurde. Das Exil in Mexiko sowie die irische Herkunft seiner Mutter bestimmen die Transkulturalität in seiner Biographie mit.

Kuba ist auch der geographische Mittelpunkt der Analyse von Ingrid Kummels. „Jineterismo“, hier vor allem Prostitution, wird als soziales Phänomen der individuellen Integration in den aktuellen globalen Markt betrachtet. Geschlechterbeziehungen werden in den Kontext des internationalen Sextourismus eingebettet.

Fazit

Ziel des Buches war es, „den Zusammenhang von Transkulturalität und Geschlechterverhältnissen anhand von interdisziplinären Untersuchungen“ (S. 7) zu diskutieren. Dies ist den Autorinnen unter sehr verschiedenen Herangehensweisen gelungen. Der Band re-definiert das Konzept von Raum als physischen Ort und plädiert für einen neuen „ Zwischenbereich“, in dem sich die Verflechtungen verorten. Interessant ist deswegen die ständige Präsenz von Homi Bhabhas Theorien, die sich auf den Kontext lateinamerikanischer Realitäten beziehen lassen. Es wird auch gezeigt, dass Machtbeziehungen durch die Geschichte hindurch wirksam bleiben; sie passen sich nur an den neuen Kontext an. Es handelt sich schließlich um eine Sammlung von Realitäten im dauernden Wandel.

URN urn:nbn:de:0114-qn092129

Ana Belén García Timón

Universität Leipzig, Zentrum für Höhere Studien/Geschichte

E-Mail: garcia@uni-leipzig.de

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