Transsexuelles Empfinden im Spannungsfeld von Geschlecht und Identität

Rezension von Petra Ruers

Uwe Hartmann, Hinnerk Becker:

Störungen der Geschlechtsidentität.

Ursachen, Verlauf, Therapie.

Wien u.a.: Springer-Verlag 2006.

256 Seiten, ISBN 978–3–211–83745–0, € 31,95

Abstract: Die von Hartmann und Becker vorgelegte Arbeit basiert auf den Daten einer prospektiv angelegten Studie über Personen, die aufgrund von Problemen mit ihrer geschlechtlichen Identität die psychiatrische Poliklinik der Abteilung Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) aufgesucht haben. Somit ist die Blickrichtung klinisch orientiert, ohne dass dabei jedoch die begrifflichen, historischen und soziokulturellen Aspekte vernachlässigt werden, die für das Verständnis des Phänomens Transsexualität relevant sind.

Nicht zuletzt durch die Aufmerksamkeit, die den Erscheinungsbildern gestörter geschlechtlicher Identität sowohl von Fachleuten als auch von Laien entgegengebracht wird – und die der (geringen)Vorkommenshäufigkeit keineswegs entspricht – hat sich eine durchlässigere Sichtweise von Geschlechtsidentität durchgesetzt. Die Ausgestaltung von geschlechtlicher Identität ist, auch unter dem Einfluss konstruktivistisch beeinflusster Denkrichtungen, zu einer individuell zu bewältigenden Aufgabe geworden, wobei die durch das biologische Geschlecht vorgegebenen Faktoren an Einfluss verlieren. Als Kehrseite der Freiheit, Geschlechtsidentität nicht mehr als die unverrückbare Grundgewissheit, männlich oder weiblich zu sein, zu interpretieren, ist jedoch nach Hartmann und Becker „eine gestiegene Anzahl von Personen festzustellen, die an dieser Aufgabe scheitern“ (S. 2).

Die soziokulturelle Bedeutung von Geschlechtsidentitätsstörungen

Geschlechtsidentität ist mehr ist als die Gewissheit, einen männlichen oder weiblichen Körper zu haben. Das subjektive Empfinden, dem einen oder anderen Geschlecht anzugehören, wird „in einer dichten Folge von Interaktionen und psychosozialen Entwicklungsprozessen ‚konstruiert‘“ (S. 5), wobei die Identität als Mann oder Frau einer lebenslangen Bestätigung und Selbstvergewisserung bedarf, es sich also letztendlich stets um eine „individuelle Geschichte der Geschlechtlichkeit“ (ebd.) handelt. Transsexualität radikalisiert diese Betrachtungsweise, indem sie statt der biologischen Gegebenheiten das subjektive Erleben der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt. Diese Emanzipation vom biologischen Geschlecht ist vielfach als „progressives Moment der Geschlechtsidentitätstörungen“ (ebd.) begrüßt worden. Dabei wurde jedoch übersehen, dass diese gerade auf das transsexuelle Empfinden nicht zutrifft, da sich in diesem Fall das Streben der Menschen darauf richtet, ihren „falschen“ Körper hinter sich zu lassen und ihren „richtigen“ Körper zu bekommen.

Theorien zur Verursachung von Geschlechtsidentitätsstörungen

Bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein maß die Psychiatrie Geschlechtsidentitätsstörungen eine eher geringe Bedeutung bei, da die Problembilder nicht mit einer entsprechenden psychiatrischen Symptomatologie in Verbindung gebracht wurden. Es wurde versucht, Transsexualismus als schwerste Störung der Geschlechtsidentität auf die verschiedensten Ursachen zurückzuführen, u. a. „als Resultat einer Virusinfektion, einer hormonellen Abnormität […] oder als Ergebnis einer besonderen Symbiose im Rahmen eines nicht-konflikthaften Prozesses“ (S. 55). Coates (1990) hingegen zeigt die „mehrdimensionale Bedingheit dieser Störungen“ (S. 56) auf: „Nur wenn eine Anzahl bio-psychischer Entwicklungsfaktoren während einer kritischen und begrenzten Entwicklungsperiode in auffälliger Weise miteinander agieren, kann es danach zur Ausbildung einer Geschlechtsidentitätsstörung kommen.“ (ebd.) Aber auch wenn die Autoren auf Coates‘ Modell zur Ontogenese von Geschlechtsidentitätsstörungen im Knabenalter als „überzeugendes Beispiel für einen integrativen Ansatz“ (ebd.) verweisen, bleibt die Pathogenese der Geschlechtsidentitätsstörungen insgesamt nach wie vor ungeklärt.

Klinische Aspekte von Geschlechtsidentitätsstörungen

Hartmann und Becker geben, bevor sie sich den Ergebnissen ihrer eigenen Untersuchung zuwenden, einen Überblick über die rechtlichen Rahmenbedingungen und die derzeit üblichen Behandlungsansätze; sie gehen auch ausführlich auf das differentialdiagnostische Spektrum bei Geschlechtsidentitätsstörungen ein, wobei hier die Heterogenität der betrachteten Gruppe deutlich wird sowie die Schwierigkeit, die „etwaig präsenten psychopathologischen Auffälligkeiten“ (S. 83) aus der Geschlechtsidentitätsstörung heraus zu erklären, da es in manchen Fällen plausibler scheine, „letztere im Kontext einer umfassenderen Identitätsstörung zu verstehen“ (S. 83).

Vor diesem Hintergrund wurde die eigene Untersuchung durchgeführt, bei der insbesondere herausgearbeitet werden sollte, „unter welchen Bedingungen es (am ehesten) zu einem organisierten, festgefügten Wunsch nach Geschlechtswechsel kommt und welche Merkmale für den weiteren Verlauf bedeutsam sind.“ (S. 83) Wie problematisch Geschlechtsidentitätstörungen von den Betroffenen erlebt werden, zeigen die Fallbeispiele, anhand derer die Autoren die Merkmale für die Bildung von vier Clustern erläutern (S. 150 ff.). Die Heterogenität der Gruppe von Menschen mit Geschlechtsidentitätsstörungen wurde auch bei den von Hartmann und Becker untersuchten Patienten deutlich. Aus diesem Grunde halten sie einen „längeren diagnostischen Prozess unter Einbeziehung möglichst vielfältiger anamnestischer und fremdanamnestischer Angaben sowie […] eine gründliche differentialdiagnostische Abklärung“ (S. 196) für unumgänglich. Gemeinsam mit dem Patienten solle zunächst herausgearbeitet werden, welche Aspekte seiner persönlichen Vorgeschichte zum Aufkommen des transsexuellen Empfindens geführt haben könnten. Zudem sei wesentlich, den Betroffenen über die medizinisch-therapeutischen und juristischen Gegebenheiten einer Geschlechtsumwandlungsbehandlung hinaus zu erläutern, „dass es vielmehr für das unterschiedlich getönte Leiden an der eigenen Geschlechtlichkeit, das häufig nur eine Facette einer zugrundeliegenden strukturellen Identitätsstörung darstellt, durchaus andere, jeweils individuell abgestimmte Behandlungsgänge gibt.“ (S. 197)

Transsexualität als Produkt des medizinisch-sexualwissenschaftlichen Diskurses

Da Transsexualität und Geschlechtsumwandlung „immer mehr zu einer (vermeintlichen) Lösungsschablone für vielfältige Probleme mit der eigenen Identität geworden“ (S. 199) seien, setzen sich die Autoren in ihrem abschließenden Kapitel auch kritisch mit der Entstehung und Etablierung der „Behandlungsform medizinische Geschlechtsumwandlung“ (S. 202) auseinander. Während zahlreiche Publikationen diese befürworten, weil sie davon ausgehen, dass „die Geschlechtsumwandlung bei Transsexualität ohne Alternative sei“ (S. 201), existieren auch solche, die sich kritisch mit dieser Behandlungsoption auseinandersetzen, nicht nur, weil die ansteigende Zahl derer, die einige Jahre nach der Geschlechtsumwandlung den Wunsch äußern, diese – soweit möglich – rückgängig zu machen, bedenklich stimmt. Hartmann und Becker verweisen in diesem Zusammenhang u. a. auch zustimmend auf Diederichs (1993), der die Rolle der Operateure im Hinblick auf die zunehmende Verbesserung der operativen Möglichkeiten durchleuchtet hat: „Der pathologische Narzissmus der Transsexuellen korrespondiere mit den Grandiositätssehnsüchten einiger Chirurgen, welche die Illusion hätten, aus einem transsexuellen Mann operativ eine vollendete Frau machen zu können.“ (S. 203)

Fazit

Hartmann und Becker bieten einen umfassenden und aktuellen Überblick zu den Erklärungs- und Behandlungsansätzen von Geschlechtsidentitätsstörungen und betten diese zusammen mit den Ergebnissen ihrer prospektiven Studie und den höchst aufschlussreichen Fallbeispielen in einen historischen und soziokulturellen Kontext, wobei die differenzierte Sichtweise der beiden Autoren dieses Buch besonders lesenswert macht.

URN urn:nbn:de:0114-qn091270

Petra Ruers

Ottersberg, FernUniversität Hagen, Erziehungswissenschaften

E-Mail: petra.ruers@t-online.de

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