„Haben Sie heute schon einen Film von einer Frau gesehen?“ Ein Berlinale-Bericht

Maria Marchetta

Das Forum für den Monat Mai bietet Ihnen einen Bericht über die diesjährige BERLINALE von Maria Marchetta, einer langjährigen Berlinale-Beobachterin, die auch in diesem Jahr zahlreiche Stunden vor allem in Kinos zubrachte, die sich dem INTERNAIONALEN FORUM widmeten. In ihrer persönlichen BERLINALE 2001 begegneten ihr depressive männliche Helden, leblose Frauen und Mörderinnen, überraschende wie wundervolle Bilder, aber auch ärgerliche Tendenzen.

Die Akkreditierung

Für all jene, die sich beruflich oder semiprofessionell mit Film und Kino beschäftigen, beginnt die alljährlich im Februar in Berlin stattfindende Berlinale schon im November des Vorjahres. Dann nämlich gilt es nicht nur die für die verschiedenen Sparten geltenden Termine für die Beantragung der Akkreditierungsunterlagen nicht zu verpassen. Das Plastikkärtchen, das nach einem alljährlich wechselnden Schlüssel freien Zugang zu den meisten Filmen sichert, ist unter den Filmschaffenden, KinomacherInnen und journalistisch tätigen Profis und LiebhaberInnen heiss begehrt. Viel zu schnell kommt der November, Hektik setzt ein, auf den letzten Drücker werden die Anträge persönlich noch im Filmhaus am Potsdamer Platz abgegeben. Mein Antrag kam zu spät, und ich sah mich schon Stunden in der Schlange verbringen, um immer wieder neu eine Karte zu erstehen.

Dann, eines Nachts, endlich, im Traum, überreichte mir Ulrich Gregor die ersehnte Plastikkarte. Beinahe hätte ich ihn nicht erkannt, den langjährigen Leiter des internationalen Forum des jungen Films, erschien er mir doch in der Gestalt Woody Allens. Zwar überreichte er mir die Akkreditierung, teilte mir aber gleichzeitig mit, dass die Plätze für sämtliche Vorstellungen längst ausverkauft seien. Nun weiß ich nicht, ob es an meinem enttäuschten und traurigen Blick lag, aber Woody Allen (alias Ulrich Gregor) kennzeichnete mit Tesakrepp ein Viereck auf dem Boden seines Kinos und beschriftete es mit: „Reserviert für Maria Marchetta“. Meine Berlinale war gerettet. Wenn Ulrich Gregor aussah wie Woody Allens, dann musste alles gut gehen.

Anfang Februar

Es ist warm und sonnig, zu schön fast für diese Jahreszeit. Berlin empfängt die FilmfreundInnen mit einladender Geste, als stünde es in diesen frühen Februartagen im Wettstreit mit dem Kinoereignis. Dagegen flüchten in den aktuellen Berlinfilmen fast ausschliesslich depressive Figuren durch die Stadt. Doch davon später.

Die Berlinale, eines der wenigen grossen A-Filmfestivals, das ein Publikum- wie ein Kritiker-Festival ist, fand zum zweiten Mal in Berlins Mitte, am Potsdamer Platz statt und wartete, ganz dem Anspruch der neuen Lokalität gemäss, mit noch mehr Filmen und Vorführungen auf als im Vorjahr. Die Berlinale 2001 dürfte sich historisch als eine Zäsur erweisen, ist sie doch die Abschiedsveranstaltung der beiden langjährigen Festivalleiter: De Hadeln leitete 20 Jahre lang den Wettbewerb und das offizielle Programm. Ulrich Gregor machte mit seinem kompromisslosen, auf eine innovative Filmsprache bestehenden Autorenbegriff in seinen 30 Leitungsjahren das Forum zu dem, was es seinem Anspruch nach sein will und tatsächlich auch ist: Ein internationales Forum des Jungen Films. Die 52. Filmfestspiele Berlin im kommenden Jahr unter neuer und jüngerer Leitung versprechen Neues. Doch bleiben wir bei dieser kürzlich zu Ende gegangenen 51. Berlinale 2001.

Von den rund 250 an den Festspielen gezeigten Filmen waren ganze 58 Filme von Frauen – dies entspricht einem Prozentsatz von knapp 23%. Unter den 50 von mir gesehenen Filmen waren 18 von Frauen. Anlässlich des internationalen Frauentages am 8. März war in verschiedenen Zeitungen von der Langeweile zu lesen, welche die seit Jahren herunter gebetete, immer gleiche Aufzählung der Ungleichberechtigung der Geschlechter auslöse.

Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass Frauen vor allem überdurchschnittlich stark an der Produktionen von Kurz- (von insgesamt 33 Kurzfilmen sind 13 von Frauen, entspricht 40%) und Dokumentarfilmen (von ca. 45 Dokumentarfilmen wurden 12 von Frauen gedreht, entspricht 26%) beteiligt sind. Aber auch, dass der Verband der Filmarbeiterinnen ihr alljährlich zur Berlinale erstelltes grossformatiges Plakat „HABEN SIE HEUTE SCHON EINEN FILM VON EINER FRAU GESEHEN?“ in den letzten Jahren auf ein kleines Faltblatt reduzieren musste. Dass auch hinter diesen beiden Tatsachen immer noch ein ökonomisches Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern herrscht, sei hier bemerkt, aber nicht weiter ausgeführt und begründet. Ein solches unzeitgemässes feministisches Unterfangen könnte, wie die Tageszeitungen zu berichten wussten, Sie, liebe Leserinnen und Leser, unangemessen langweilen.

Prämissen

Bevor ich zur Besprechung der Filme komme, umreisse ich den theoretischen Rahmen, innerhalb dessen ich mich den Filmen subjektiv nähere. Ich gehe von drei Voraussetzungen aus:

Die Tendenzen

Die Geisteslage unserer Zeit, wie sie mir aus den Filmen, die ich gesehen habe, entgegentrat, erinnerte mich an die schon in der Antike unterschiedenen zwei Welterfahrungen:

So schienen mir die Menschen einerseits dargestellt als einer Schicksalsmacht unterworfen. Die Filme dieser Tendenz konstatieren die Gegebenheiten ohne die Möglichkeit, auf diese verändernd eingreifen zu können. Sie zeichnen die Welt in einer emotionalen Kälte, in der der Bindungskitt, wenn nicht aufgebraucht, so doch auf ein Minimum reduziert scheint. Diese Filme begleiten depressive Figuren, die noch nicht eimal mehr gegen die von ihnen empfundene (oder auch nicht empfundene) Sinnlosigkeit kämpfen mögen.

Andererseits schienen mir überrepräsentativ viele Filme vertreten, in denen sich Menschen meditierend oder kämpfend über das Schicksal erheben und die Gegebenheiten nicht als unveränderbar hinnehmen.

Ja, das schien mir die Berlinale des „guten Menschen“. Dass dieser „gute Mensch“ vornehmlich männlich war, will ich wenigstens vermerkt haben.

Die Filme

Wissenschaftsjustiz und Widerstand

In der Mitte dieser beiden Tendenzen stehen zwei Filme aus der Schweiz. Einerseits BLUE END von Kaspar Kasics, und andererseits DO IT von Sabine Gisiger und Marcel Zwingli. Während ersterer sich mit der Verstrickung von Justiz und Medizin in den USA unserer Tage auseinandersetzt, beschäftigt sich letzterer mit einer Gruppe von Menschen, die in den 70er Jahren in der Schweiz eine terroristische Zelle bildeten.

In BLUE END geht es um das Zusammenspiel von Systemen, in denen das Menschliche keine Rolle spielt. Insofern beurteilt Kasics seinen Fall – ein zum Tode verurteilter Mann wird nach seiner Hinrichtung für ein Anatomieatlasprojekt zum digitalisierten invisible man – nicht als ein Komplott, sondern führt uns an diesem das Zusammenspiel des Funktionalen vor. Der Wissenschaftler Dr. Spitzer erläutert schnell und erhaben über jeden Zweifel sein grossartiges Anatomieprojekt: Der 1993 hingerichtete Joseph Paul Jernigan wird, eingegossen in einer blauen Gelatine, tiefgefroren, in vier Teile zersägt, millimeterweise abgehobelt und Schicht für Schicht digitalisiert. Dieser besessene Wissenschaftler antwortet auf die Frage, ob er nicht mehr über Jernigan hätte wissen wollen, ja, selbstverständlich, Röntgenbilder oder gar Ultraschallaufnahmen von ihm als Embryo hätte er gerne gehabt, ja, doch, natürlich. Nicht nur den Regisseur, auch mich hat hier das kalte Entsetzen gepackt. Dr. Spitzer verkörpert jenen Charakter, der sich aktiv ergeben in sein Schicksal einpasst, „wir sind nur kurz auf der Erde, um alles erreichen zu können“. Dagegen vertritt der hagere, grossgewachsene Mann, der sich mit sonorer Stimme an die Verurteilung und Hinrichtung seines Bruders erinnert, die Gruppe jener, die sich meditativ schweigend dem Schicksal widersetzen. Nicht laut oder kämpfend, sondern nahezu passiv und mit wenigen Worten weist er das Schicksal zurück: „Warum durften wir ihn nicht noch einmal berühren?“ Es spricht auch für Kasics, wenn er von des Bruders gezeichneten Gesichtes auf einen weiten Wolkenhimmel schneidet, als dieser wort- und gefühlskarge Mann zu weinen beginnt.

In DO IT erzählt Daniele von Arb lachend und mit einem distanzierten Verständnis für sein früheres Engagement die Geschichte seiner revolutionären Zelle.

In den 70er Jahren stahl eine Handvoll 16jähriger Jungs Munition und Waffen aus den Arsenalen der Schweizer Armee und unterstützten mit ihrer Beute die revolutionären KämpferInnen in Spanien, Italien, Deutschland und Palästina. Daniele, der heute eine Praxis für mediale Zukunftsberatung betreibt, erzählt von dem anarchistischen Verständnis seiner Gruppe, die sich auch nicht mit einer Diktatur des Proletariats anfreunden konnten und davon, wie verbittert sie die RAF Leute empfunden hätten. Er erzählt aber auch, dass sie die Welt von Unterdrückung befreien wollten. 16jährige Jungs! In der Rückschau entlockt dieses Engagement dem einstigen Kämpfer, der für seine revolutionäre Gesinnung und deren Taten mehrere Jahre im Knast gesessen hat sowie mehreren internationalen Haftbefehlen ausgesetzt war, ein nicht endend wollendes, schallendes und ansteckendes Lachen. Ein Lachen, das verständnisvoll über sich selbst lacht, an dessen Ende aber ein behauptendes „immerhin“ steht. Daniele von Arb verkörpert zwei Arten des sich dem Schicksal Widersetzenden. Damals – „Wir gaben das Beste, was wir hatten, unseren Traum“ – jener, der sich aktiv der Ungerechtigkeit entgegenstellt und heute jener, der weiss, dass jeder äusseren Motivation eine innere Triebfeder innewohnt, der das politisch über Umstände definierte Glück zugunsten eines inneren Glücks zurückweist. (Mir schiene es lohnend, ausführlicher über den inneren, möglicherweise notwendigen Zusammenhang zwischen Militanz und Spiritualität nachzudenken.) Formal besticht DO IT auch durch die einmontierten originalen Super 8-Aufnahmen aus den 70er Jahren, welche eigens für diesen Film aus einem Versteck ausgegraben worden sind.

Solidarität und Suche

Am ausdrücklichsten widerspiegelt sich die Position des guten Menschen, der sich dem Schicksal aktiv widersetzt, in den Filmen THE OPTIMISTS – THE STORY OF THE RESCUE OF THE JEWS OF BULGARIA von Jacky Comforty und EISLIMONADE FÜR HONG LI von Dietmar Ratsch. In einer informativen, aber dennoch äusserst persönlichen Weise lässt Jacky Comforty aus tausenden verschiedenen Fundstücken ein beeindruckendes und bildgewaltiges Mosaik der 30er und 40er Jahre Bulgariens erstehen. Er, der sein Leben dem Umstand verdankt, dass die Mehrheit der bulgarischen Juden (ca. 49.000) durch ihre christlichen und muslimischen Landsleute gerettet wurden, zeichnet sensibel die Geschichte und die Geisteslage, die zu dieser Rettung geführt hat, nach. 12 Jahre lang haben Comforty und seine Frau Fotos archiviert, Dokumente recherchiert, Zeitzeugen interviewt und das gefundene Material filmisch aufbereitet.

All die guten Menschen, die in THE OPTIMISTS – benannt nach der ersten, 1937 gegründeten Jazzband in Bulgarien – zu Wort kommen, beantworten die Grundfrage des Regisseurs, „Welches sind die Bedingungen, dass das Gute das Böse überwiegt?“, mit ihrer schlichten, selbstverständlichen, aber betörenden Menschlichkeit. Freunde waren wahre Freunde – sei es der Patriarch und Bischof Kiril, eine muslimische ehemalige Nachbarin einer jüdischen Familie, ein geretteter bulgarischer Jude oder ein christlicher Bäcker. Sie alle vereint ihre Überzeugung, „als menschliches Wesen ist man verpflichtet zu helfen“ und „Bulgare zu sein bedeutet Mensch zu sein". Sie alle lehnten sich gegen den vom Staate verordneten Antisemitismus auf und retteten durch ihre Menschlichkeit ihre jüdischen Nachbarn und Freunde. Bei Comfortys Film habe ich vielleicht den schönsten Satz dieser Berlinale gehört: „Jeder Lehrer muss erwecken und zur Liebe anregen“.

Thomas Billhardt, zwar kein Lehrer, sondern ein Fotograf, den wir in EISLIMONADE FÜR HONG LI bei seinem erneuten Aufenthalt in Vietnam begleiten, ist auch so ein erweckender, zur Liebe anregender und von Liebe angeregter guter Mensch.

Zur Zeit des Vietnamkrieges hielt sich Thomas Billhardt als Kriegsberichterstatter der DDR mehrere Male in Vietnam auf. Seine damals weltweit veröffentlichten Fotos wurden schnell zum Symbol gegen diesen Krieg, ja gegen Krieg überhaupt. Berühmt gewordene Fotos wie jenes der jungen schüchternen Soldatin Nguyen Anh oder jenes toten Kindes, das bei einem Bombenangriff getötet worden war, oder eben das Bild der Brigadearbeiterin Hong Li haben der Regisseur Dietmar Ratsch und Thomas Billhardt zum Anlass genommen, im heutigen Vietnam nach den fotografierten Menschen von damals zu suchen. Für diese Begegnung des heutigen mit dem damaligen Vietnam wurden grossformatige Abzüge von Billhardts Vietnamkriegsbildern auf Rikschas durch Hanoi gefahren und am Hoan-Kiem-See mitten in Hanoi ausgestellt. Vielleicht gerade deshalb, weil in Vietnam Ausstellungen im Freien noch immer verboten sind (der location scout hatte in Vietnam die Bilderhängung als Kulisse für einen Spielfilm angemeldet), stiessen diese Fotos auf grosses Interesse und regten zu vielen Gesprächen vor Ort an. Der Film dokumentiert die zwar meist ergebnislos gebliebene, aber spannende Suche nach den Menschen auf den Fotos.

Gefängnis und Begegnung

Von zwei unterschiedlichen Formen von Gefängnissen wissen Helga Reidemeister in GOTTESZELL und Karin Jurschick in DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN zu berichten.

In GOTTESZELL, benannt nach dem Frauengefängnis in Baden Württemberg, porträtiert Helga Reidemeister einfühlsam vier der inhaftierten Frauen. Schon mit dem Vorspannzitat aus Margerita Duras Die englische Geliebte – „niemand kann sagen, das werde ich nie tun“ – macht die Regisseurin ihre Blickrichtung klar. Es ist ihr gelungen, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen, und sie wird diesem durchaus gerecht. Ich habe selten soviel Reflektiertheit der eigenen Person und der eigenen Vergangenheit gesehen, wie bei diesen Frauen. Reidemeister geht es nie um die Tat, den spektakulären Fall, sondern um die jeweilige Frau, die mit ihrer Tat leben muss. Auch wenn Reidemeister den Frauenknast tendenziell als einen Ort der Läuterung deutet, beschönigt sie nichts. Sie macht das Fehlen von Aggressionstherapieplätzen für Frauen ebenso deutlich, wie sie die Vorgeschichte, die die Frauen zu Täterinnen hat werden lassen, thematisiert. Dass die meisten der Frauen Opfer von sexuellem Missbrauch waren, ehe sie an diesen Tätern ihre Taten begingen, und dass die meisten dieser Täter ungeschoren davon kamen, macht das Ungenügen unserer Rechtssprechung deutlich. GOTTESZELL lebt nicht zuletzt auch von den schönen und intensiven Bildern, die der Kamerafrau Sophie Maintigneux zu verdanken sind.

Ein anderes, strukturelles Gefängnis lässt Karin Jurschick in ihrem Erstlingsfilm DANACH HÄTTE ES SCHÖN SEIN MÜSSEN sichtbar werden.

Die 1959 geborene Hörfunk- und Fernsehautorin dokumentiert die eigene Familiengeschichte. In der Art und Weise, wie sie diese aber dokumentiert – „Geschichte der Frau, Geschichte des Kindes, Geschichte des Mannes“ – wird deutlich, dass sie Familiengeschichte nicht als eine Privatangelegenheit versteht. 1956 hatten sich ihre Eltern kennengelrnt – er war ein 46jähriger Maschineningenieur, sie eine halb so junge Stenotypistin. 1974 fährt die Mutter nach Bremen, eine Stadt, die sie nur zum Sterben aufsucht. In einem Hotelzimmer nimmt sie sich mit Schlaftabletten das Leben. Die Tochter besucht nach vielen Jahren zum ersten Mal wieder ihren Vater. Er wohnt noch immer in der Wohnung ihrer Kindheit. Die Kamera schafft Nähe und Distanz zugleich. Jurschick zeigt, wie Frauen durch mangelnde Anerkennung und Bevormundung der Ehemänner eintmünidgt werden und unter solchen Umständen nicht zu ihrem Eigenen finden können. Aber sie zeigt auch, wie gefangen der Mann – ein mittlerweilen über 90jähriger Greis – im gesellschaftlichen Bild von Männlichkeit war und ist. Hier verkörpert für mich Jurschicks Film den Kern eines feministischen Anliegens: Nicht der Mann ist das Problem, sondern Mann und Frau sind in einer patriarchal strukturierten Welt gefangen und beschränkte Wesen, beide bedürfen der Erlösung. Im Vater, alles andere als einem auftrumpfenden unterdrückerischen Macho, kommt die Kälte und das Lebensbehindernde einer sich objektiv dünkenden Geisteshaltung zum Greifen nahe. Er schrieb der Frau wunderschöne Briefe, doch in seinen nüchternen und technischen Beschreibungen trieb er all dem Schönen, das er auf seinen Schiffahrten sah und beschrieb, das Leben aus. Der Mann weiss, dass er nicht geliebt wurde, aber wir sehen, dass auch er zur Liebe nicht fähig war. Es ist das Verdienst der Tochter, dass sie zu einer solchen feministischen Analyse fähig war, ohne eine Anklage gegen den Vater zu führen, und dass es ihr gelang, ihre Familiengeschichte in einer zugleich persönlichen wie auch allgemeinen poetischen Filmsprache zu dokumentieren.

Glück und Trauer

Zum Höhepunkt meiner Berlinale wurden Jonas Mekas’ AS I WAS MOVING AHEAD OCCASIONALLY I SAW BRIEF GLIMPSES OF BEAUTY und KARUNAM von Jayaraaj Raja Sekram Nair. Während ich mir von Jonas Mekas den Rausch erwartet hatte, den er auch mit seinem neusten Film in mir auslösen würde, erlebte ich das tiefe Gefühl von Schönheit im indischen Beitrag völlig unerwartet.

Ulrich Gregor kündigte den Film von Jonas Mekas, der von seiner ganzen Machart her (minimalistische Technik, Material aus den 70er und 80er Jahren, Montagen, mehrheitlich schon in der Kamera) nicht mehr in unsere digitale Landschaft passt, an mit den Worten: „Vielleicht ist er ja die Rettung für uns alle“. Tosender Applaus, zumindest das Publikum, das sich auf das fast 5stündige Abenteuer einlassen wollte – mich eingeschlossen – schien sich der Rettungsbedürftigkeit bewusst. Und Mekas enttäuschte nicht. Jonas Mekas, der Emigrant aus Litauen und der Mitbegründer der Anthology Film Archives in New York, hat die ihm gemässe Form des Lebens gefunden. Mehrere Male kommentiert der Filmtagebuchschreiber mit seiner sonoren Stimme und seinem nie ganz abgeschliffenen Akzent „I am not a filmmaker, I am filming“. Autobiographisch, anekdotisch und assoziativ guckt er den Menschen dabei zu, wie sie das tun, was sie immer tun. Er teilt seine alltäglichen Freuden (z.B. seine unvergesslichen Sonntagsaufenthalte im Central Park mit Freunden) mit anderen, ohne dabei den Rahmen des Privaten zu verlassen. Mekas erschien mir in manchen Momenten geradezu als der Bewahrer eines aus der Mode gekommenen feministischen Ansatzes. Spielerisch ernst, gleichsam mit einem Augenzwinkern, blendete er mehrere Male die Texttafel (übrigens mit alter Schreibmaschine erzeugt) „This is a political film“ ein.

Silvester 1999, er sitzt allein in seinem Tonstudio, montiert die Filmrollen aus den 70er und 80er Jahren in der Reihenfolge zusammen, wie er sie im Regal vorfindet und legt einen poetischen Kommentar darüber. Er vertont Bilder, betreibt in seiner vergegenwärtigten Erinnerungen ein Kino der reinen Gegenwart und setzt sich damit für ein neues Sehen ein. In seiner Montage blitzt die velorene Zeit für Augenblicke auf und macht das Paradies wirklich. Ihm gelingt es einen Schimmer von Schönheit und Glück sichtbar zu machen. In der Diskussion wird Mekas gefragt, ob er denn daran glaube, dass Menschen so friedlich und ohne Streit miteinander leben und lieben könnten, wie er sie in seinem Film porträtiert hat. Lächelnd, wissend und langsam antwortet er: „This is a part of the fiction“. Und erst nach einer langen Pause fügt er hinzu: „But a true fiction“. Das ist Jonas Mekas, und ich denke, er könnte wirklich die Rettung für uns alle sein.

Eine der grössten Überraschungen war für mich der indische Film KARUNAM. Der Film, den ich mehr zur Überbrückung der Zeit zwischen zwei Filmen eingeschoben hatte, erwies sich als ein tiefsinnig schöner und trauriger Film über das Altwerden in Indien.

Zwei alte Menschen freuen sich auf den Besuch ihres in Amerika lebenden Sohnes. Sie bereiten alles vor für den lang ersehnten Besuch. Doch statt des Sohnes erreicht sie die Nachricht, dass er sie in diesem Jahr nicht besuchen wird. Mehr noch, angeblich aus Sorge um seine alten Eltern hat er ihnen einen Platz im Altersheim gesucht und ihr Haus bereits ohne ihr Wissen verkauft. Im unausweichlichen Abschiednehmen entdecken sie ihr Haus und ihr Anwesen noch einmal neu. Chechamma, die Mutter, trägt die für christliche Frauen in Kerala typischen, grossen goldenen Ohrringe. Diese werden üblicherweise erst den Toten wieder abgenommen. Doch im Film nimmt Chechamma die traditionellen Ringe selbst ab, als sie ihr Haus verlassen müssen. Der Vater, der sich scheinbar besser mit der Tatsache abfindet – „einem Mangobaum ist es egal, für wen er blüht“ – überlebt die Zeit im Altersheim mit seinem kalten und starren angeblich zivilisierten Tagesablauf nur kurz. Von allen verlassen begibt sich die alte Frau auf die Suche nach Trost. Nach Tagen der Obdachlosigkeit findet sie ihn in einem Heim für Kinder mit geistigen Beeinträchtigungen. Die Monsunregen-in KARUNAM regnet es fast unentwegt-prägen diesen Film und lassen die Atmosphäre noch melancholischer erscheinen. Jayaraaj Rajasekharun Nair hat in KARUNAM mit LaienschauspielerInnen gearbeitet. Eliyamma, die Darstellerin der Mutter, ist selbst obdachlos und Vavachan, der den Vater mimt, ist ein Bekannter des Regisseurs. Er stammt aus gutem Haus, wurde aber, weil er geistig leicht beeinträchtigt ist, von seiner Familie verstossen. Alle Szenen des Films wurden nur ein einziges Mal gedreht, und Jayaraaj erzählt, wie schwierig die Dreharbeiten waren: „Schliesslich gab ich es auf und musste sie einfach machen lassen.“ Ihre Art zu sprechen und sich zu bewegen war jedoch genau richtig für die Entstehung eines wunderschönen, leisen Films, einer Perle im Meer der Bilder.

Selbstmitleid und Langeweile

Zur grössten Enttäuschung wurden für mich die beiden von der Kritik mehrheitlich hoch gelobten Filme MEIN LANGSAMES LEBEN von Angela Schanelec und DER SCHÖNE TAG von Thomas Arslan. Die beiden DFFB Absolventen werden innerhalb der Filmkritik als die Hoffnungsträger des jungen deutschen Films gehandelt und ihre beiden Filme euphorisch bejubelt. Während ich die beiden ersten Filme aus Arslans Trilogie über deutsch-türkische Jugendliche in Berlin – GESCHWISTER 1997 und DEALER 1999 – mit Begeisterung gesehen hatte, blieb mir sein dritter Beitrag mehr als nur verschlossen.

Schön an den etwas über 24 Stunden, in denen wir die 21jährige Deniz begleiten, ist allein die Stadt Berlin und das Wetter. Es passiert viel an diesem einen Tag in Deniz‘ Leben. Doch, was auch immer passiert, das einen Menschen beschäftigt, bewegt, aufwühlt, verunsichert und Gefühle weckt, die Hauptdarstellerin und auch die Nebenfiguren rezitieren nuancenlos, gleichmässig desinteressiert ihre Texte. Die Figuren, leblose einschichtige Pappfiguren, schauen sich gleichsam selbst beim Sprechen zu. Mit der völlig überflüssigen und ausschliesslich pädagogisch gesetzten Geschichtslektion-eine Dozentin für Alltagsgeschichte erklärt Deniz, dass unsere Vorstellung von der Liebe eine Illusion und Erfindung des 18. Jahrunderts sei-enttäuschte und langweilte mich Arslan vollends.

Schwerer aber noch tat ich mich mit Schanelecs MEIN LANGSAMES LEBEN. Wir begleiten ein halbes Jahr lang das Leben einer jungen Frau in Berlin.

Auch in Valeries Leben passiert eigentlich viel. Eine Freundin fährt für sechs Monate nach Rom, der Vater von Valerie stirbt, sie geht eine neue Beziehung ein, sie schafft den Abschluss ihres Studiums nicht. Aber auch in Valeries Leben läuft alles seltsam unbeteiligt ab. Auf mich wirkt soviel Fremdheit, sich und seinen eigenen Empfindungen gegenüber sehr künstlich gewollt. Nun ist es gerade diese Fremdheit und Gefühlslosigkeit, die von der Kritik so hoch gelobt werden. Wieso die Kritiker aber diesen beiden Filmen attestieren, sie kämen dem Leben sehr nahe, bleibt mir nicht nachvollziehbar. Es sei Schanelecs und Arslans Verdienst, gezeigt zu haben, dass die wahren Dramen selten so dramatisch seien, und die SchauspielerInnen davon befreit zu haben, Figuren und Gefühle verkörpern zu müssen. Ich habe mir diese beiden Argumente lange von Freundinnen und FilmwissenschaftlerInnen erklären lassen. Doch schlicht, ich kann sie nicht nachvollziehen. Auch scheinen mir diese Argumente von einer rein akademischen Beschäftigung mit Film herzurühren. Wenn ich mein Leben und das von mir lieben Menschen betrachte, kann ich zumindest deutlich erkennen und spüren, dass auch die kleinen Dramen Schmerzen und Gefühle hinterlassen und keineswegs einfach nur geschehen. Mir scheint, die beiden Hoffnungsträger des deutschen Films basteln am Grossstadtmythos und an ihrer eigenen Genealogie.

Was die in der Tradition des frühen Fassbinders, Bressons und Rohmers stehende Arbeit mit den SchauspielerInnen betrifft, verstehe und teile ich ihre Kritik am Mainstreaming und am illusionären Hollywoodkino, nicht aber, dass das alleinige, zurückgenommene Rezitieren eine Befreiung für SchauspielerInnen sei. Immerhin ist es nicht selten die Opulenz und die Lust am Spiel als Spiel, die junge Menschen bewegt, die Schauspielerei zu erlernen. Die Figuren in Schanelecs und Arslans neuesten Filmen scheinen mir am ungebrochensten die Tendenz zu verkörpern, passiv das Schicksal zu akzeptieren. Vor allem MEIN LANGSAMES LEBEN empfand ich als eine langweilige und peinliche Nabelschau wohlbehüteter, dreissigjähriger Mittelstandsleute, die, wenn sie schon keine Existenzängste mehr kennen, noch nicht einmal mehr die Sinnlosigkeit ihres Lebens empfinden. Die Figuren wirken, als ob ihr Leben bereits vorbei wäre. Sie kennen keine Sehnsüchte und keine Hoffnungen mehr, alles erscheint ihnen gleichgültig und nichts von gegenwärtigem Interesse. Immerhin, Deniz sucht noch nach einer Position, die vor Enttäuschung bewahrt, darin liegt wenigstens noch Hoffnung.

Leiden Frauen schöner?

Dass das Mainstreaming des Gesellschaftspolitischen mit einer künstlerischen Sprachlosigkeit einhergeht, scheint leider auch Lea Pools LOST AND DELIRIOUS, ein Ritterinnenroman mit Degen und Falken, zu bestätigen. Wenigstens schliesst sich Lea Pool nicht dem gegenwärtigen lesbisch-schwulen Kinotrend an, in denen sich die Homowelten heterokompatibel anbiedern.

In ihrem ersten englischsprachigen Film hat Lea Pool einen Roman verfilmt. Ein Drama des Verrats und der unüberwindbaren Enttäuschung, das unausweichlich in einer Tragödie enden muss. LOST AND DELIRIOUS ist mit Abstand Lea Pools konventionellster Film. Am Beispiel einer verratenen und zurückgewiesenen Liebe zwischen zwei Mädchen, interessiert sich Lea Pool nicht so sehr für die lesbische Thematik, als vielmehr für das Verhängnis, das aus Feigheit und seelischen Verletzungen unausweichlich seine Bahn nimmt. Nur indirekt wird Paulie, die unbeirrt und offen liebende Lesbe, Opfer einer homophoben Umwelt. Das Lesbische dient nur als Initialzündung, das eigentliche Thema, die tiefe Verlassenheit und der unheilbare Schmerz, der aus der Zurückweisung der Liebe herrührt, ist es, der Paulie in den Tod treibt und der Lea Pool beschäftigt. Zumindest hierin übersteigt Pool die Konvention und das im Kino Übliche. Obwohl ich enttäuscht war, dass bei Lea Pool – eingestandenermassen seit Jahren meine Lieblingsregisseurin, deren frühere Filme mich in meinem eigenen Coming Out begleitet und gestärkt hatten – immer noch und schon wieder ein lesbisches Mädchen sterben musste, sass ich Rotz und Wasser heulend im dunklen Saal des Kinos. Einsicht und Empfinden gehen eben noch längst nicht immer Hand in Hand.

Ganz allgemein lässt sich aber auch nach dieser Berlinale einmal mehr fragen, warum Frauen im Kino so oft sterben oder gedemütigt werden müssen. Und warum Frauen noch immer die beliebteste Projektionsfläche für Regisseure sind. Katja Nicodemus spricht deshalb auch von den Pubertätsfantasien und wandelnden Masturbationsvorlagen. Sie resümiert in der taz vom 13. Februar: „der Trend geht zum Weibchen, zur Leidenden“. Christiane Peitz schreibt im Tagesspiegel vom 12. Februar über die Filme der Berlinale: „dort tun Männer und Frauen fast ausschliesslich das, was sie angeblich schon immer taten. Die Männer töten (STALINGRAD; TRAFFIC; QUILLS; HANNIBAL), die Frauen sterben (STALINGRAD; QUILLS; A MA SOEUR; CHLOE)“. Welch ein Glück, dass das wirkliche Leben weitaus differenzierter und interessanter ist.

Was bleibt, ist die Hoffnung auf neue, andere Filme. Dass die Suche vorbei ist, hat Schanelec gezeigt. Dass die Suche nicht unwiderbringlich vorbei sein muss, haben andere Filme gezeigt. Filme, die sich für Minderheiten stark machen, die Aussenseiter ins Bild setzt, die Betroffene zu Wort kommen lässt, Filme, die sich gegen das Schicksal wehren, die politische, gesellschaftliche und psychische Strukturen zu durchbrechen suchen. Filme, die Hoffnung machen, Filme die wir brauchen.

URN urn:nbn:de:0114-qn021264

Maria Marchetta

E-Mail: kroma.frieda@gmx.net

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