Kontextualisierung von Queer Theory

Rezension von Anna Voigt

Christine M. Klapeer:

queer.contexts.

Entstehung und Rezeption von Queer Theory in den USA und Österreich.

Innsbruck: StudienVerlag 2007.

136 Seiten, ISBN 978–3–7065–4212–8, € 17,90

Abstract: Christine M. Klapeer legt in diesem Einführungsband dar, aus welchen politischen und theoretischen Kontexten heraus sich ‚queer‘ zu einem Begriff mit besonderem politischem und theoretischem Gehalt entwickelt hat. Wesentlich zielt sie dabei auf eine kritische Kontextualisierung von „queer theory“. Die Autorin geht zunächst auf das Gay Liberation Movement ein, grenzt die Queer Theory vom Poststrukturalismus, von feministischen Theorien und den Lesbian and Gay Studies ab, beleuchtet Eckpunkte queeren Denkens und zeichnet schließlich die Entwicklungen in Österreich sowohl politisch-rechtlich als auch bewegungsgeschichtlich und in der Wissenschaftslandschaft nach.

Kritische Anschlüsse

Seit den 1990er Jahre taucht der Begriff „queer“ im wissenschaftlichen Kontext in unterschiedlichen Disziplinen auf. Klapeer kontextualisiert in diesem Band diesen Begriff und fasst den derzeitigen Forschungsstand und die möglichen Perspektiven und Probleme einer Etablierung der „Queer Studies“ vor allem in Österreich zusammen. Zudem stellt sie kritische Fragen zur Weiterentwicklung der „Queer Theories“.

Im Kapitel „Kritische Anschlüsse zur poststrukturalistischen Sprachauffassung“ wird – mit Bourdieu fundiert – gefordert, die konkrete soziale Macht bei der Analyse der (Re-) Produktionsverhältnissen von Sprache mitzudenken und den Kontext der zu beachten. Die theoretischen Ansätze poststrukturalistischer Denker/-innen sollten damit nicht als Ganzes verworfen, sondern um die Frage erweitert werden, wer mit welchen Chancen in welchen sozialen und politischen Verhältnissen die Macht habe, performative Sprechakte mit Erfolg zu verwenden bzw. hegemoniale Diskurse zu installieren – wie wird von wem und wann und zu welchem Zweck gesprochen. Die Anerkennung als legitime(r) Sprecher/in erkläre sich nicht aus der Analyse diskursiver Inhalte selbst, sondern aus der Struktur der jeweiligen gesellschaftlichen Realität. Diese Kritik vor allem an Foucault, Macht sei nicht sprachimmanent und schaffe als Macht des Diskurses Realitäten, sondern Macht sei eben auch auf der Ebene konkreter Sprecher/-innen in spezifischen sozialen Situationen zu verorten, findet erfreulicherweise Eingang in diesen Band. Er ist damit sehr hilfreich für eine weitere wissenschaftliche Beschäftigung und vor allem für die notwendige transdisziplinäre Betrachtung von gesellschaftlichen Phänomenen.

AIDS

Bei der Darstellung der AIDS-Krise in den USA lässt Klapeers Beschreibung der Ausschlüsse und Herrschaftsverhältnisse in der Aufzählung von Rassismus, Sexismus und Transgenderfeindlichkeit die sozialen Folgen und materielle Konstituierung der Ungleichbehandlungen zunächst vermissen. Im späteren Verlauf geht sie allerdings darauf näher ein und warnt davor, die konkreten materiellen und politischen Ressourcen, die den Menschen vorenthalten werden, zu vernachlässigen. Die Autorin erläutert den anderen Umgang mit der AIDS-Krise im deutschsprachigen Raum sowie die Gründung der AIDS Hilfe in Österreich und führt aus, dass sich die Lesben- und Schwulenbewegung mit dem Aufbau der AIDS Hilfe eine professionalisierte Infrastruktur zur Prävention schaffte und die AIDS-Politik mitbestimmte. Sie versuchte medial, das Risiko für die Gesamtgesellschaft deutlich zu machen und eine Stigmatisierung von Schwulen und Lesben, wie sie in den USA beobachtet wurde, zu verhindern. Die AIDS Hilfe wurde, anders als in den USA, vom Gesundheitsministerium unterstützt und gefördert. Die Homosexuelle Initiative (HOSI) beeinflusste dabei die AIDS-Politik entscheidend in Richtung auf Prävention statt Ausgrenzung.

Sozialwissenschaft

Sehr gut gelingt Klapeers Zusammendenken von Theorie und Praxis: Sie zeigt übersichtlich auf, wie sich politische Bewegung(en) und Theorie gegenseitig beeinflussen und welche konkreten politischen Grundlagen die häufig als abstrakt-theoretisch bewertete „queer theory“ tatsächlich hat, und erörtert außerdem, welche politischen Folgen aus diesen Theorien hervorgehen könn(t)en. Die Verbindungen über essentialisierende Kategoriegrenzen hinweg werden hier deutlich in den Fokus gesetzt. Spannend wird es in Kapitel III („Politik und Handlungsfähigkeit im queeren Diskurs“), wenn die Autorin die Praxis der Geschlechterirritation auf ihre politische Wirksamkeit hin kritisch überprüft und queere Perspektiven auf Identität und Identitätspolitiken näher betrachtet. Ihr Rekurs „Critical queer“ macht am deutlichsten, welchen politischen und herrschaftskritischen Impetus queer theory hat, haben könnte und haben sollte: Nachdem Klapeer den queeren Fokus auf Parodie als politische Handlungsmöglichkeit kritisch beurteilt, aber auch ganz richtig das Potential, das in dieser theoretischen Konzeption steckt, betont (die Bedeutung liege gerade darin, dass Geschlecht immer und eben nicht nur bei Drag Queens und Drag Kings eine „Maskerade“ sei), fasst sie die Perspektiven auf Identität und Identitätspolitiken zusammen. Sie macht deutlich, dass eine Verschiebung der Analyse von einem sprach- und erkenntnistheoretischen Ansatz auf einen stärker sozialwissenschaftlich gestützten und damit Institutionen einbeziehenden Ansatz eine notwendige theoretische und methodische Ausweitung queerer Ausgangspunkte wäre; Ziel sei es, sowohl die Fragen nach Differenz und Ausgrenzung als auch ökonomische Bedingungen und Vergesellschaftungsformen mit in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, in welchem Verhältnis Heteronormativität zur kapitalistischen Vergesellschaftung steht und welche wechselseitige Bedingtheit zwischen Markt, Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit besteht. Queer Theory könne nur im Kontext von Inter- und Transdisziplinarität gedacht und weiterentwickelt werden.

Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit

Mit den bekanntesten Theoretiker/-innen macht Klapeer deutlich, dass die wissenschaftliche Bedeutung von Queer Theory darin liegt, zu zeigen, dass Heterosexualität als Heteronormativität und die ausschließliche Existenzmöglichkeit als „Frau“ oder als „Mann“ grundlegenden Gesellschaftskonzeptionen unterlägen und keineswegs „natürlich“ seien. Auch wenn die hegemoniale Ordnung hinsichtlich devianter Geschlechter und Sexualität nicht mehr unbedingt mit rigider Ausschließung und Verwerfung reagiere, sondern sich im Zuge neoliberaler Individualisierungstendenzen mehr Prozesse einer differenzierten sozialen/ökonomischen Integration auftäten, blieben geschlechtliche und sexuelle Normen dennoch bestehen, da Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit in Vorstellungen von Körperlichkeit, Familie, (National-)Staat etc. eingeschrieben seien und dementsprechend in unterschiedlichen staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Diskursen reproduziert würden. Kritisch zu hinterfragen ist aber, ob diese Individualisierungstendenzen so deutlich mit neoliberalen Politiken zu verknüpfen sind oder ob nicht komplexere Wechselwirkungen zwischen Menschen bestehen, die sich, miteinander in Konkurrenz stehend, dem herrschenden Wirtschaftssystem ausgesetzt sehen. Hier kommt die m. E. produktivste Fragestellung zur Sprach, die in Zukunft näher in den Blick zu nehmend ist: Wie können Diskurse machtvoll – und so ist Hegemonie auch als Begriff zu verstehen – eine Normalität erschaffen? Und welche symbolische oder auch konkrete Gewalt wird von wem wie angewendet, um Macht- und Herrschaftsstrukturen, wie Heteronormativität, aufrechtzuerhalten?

„Perverse Studien“

Der Vorschlag der Autorin bezüglich einer Übersetzung des Begriffes „queer“ ins Deutsche ist längst überfällig, da eine bloße Aneignung im Deutschen jedes radikale Potential vermissen lässt. Sehr richtig ist der Hinweis, dass ein Studienfach mit dem Namen „Perverse Studien“ oder „Sexuell Abartiges“ sicherlich im deutschsprachigen Raum andere Wirkung hätte als „queer studies“, so beinhalte der übernommene Terminus queer im deutschsprachigen Raum eben keine Verbindung zu Homosexualität oder sexueller Devianz. Es sei aber wichtig, darüber nachzudenken, ob die Sichtbarkeit der diskriminierten Lebenspraxen von Schwulen, Lesben und Transgenderpersonen nicht verloren ginge, wenn statt des Terminus „Lesbische, schwule und transgender Studien“ der Begriff „Queer Studies“ im akademischen Raum verwendet werden würde.

Ausschlüsse

Klapeer warnt in ihrer Conclusio davor, dass sich die Queer Theory einer totalisierenden Tendenz verschreibt und universalisierend alle anderen Formen der wissenschaftlichen Beschäftigung mit (Homo-)Sexualität bzw. jeden politischen Aktivismus, der sich an Identitäten orientiert, aus dem eigenen Kanon, der Ikonographie und der queeren Genealogie ausschließt. Vielmehr sollten die Queer Studies ein Ort werden, an dem auch die eigenen Ausschlüsse und Blindstellen kritisch befragt werden könnten und sollten.

Leider enthält der Band kein Glossar, jedoch ein sehr gut gegliedertes und ausführliches Inhaltsverzeichnis, so dass er auch für Einsteiger/-innen geeignet ist. Komplexe Begriffe wie Performativität oder auch Diskurs werden kontextualisiert und erklärt, wobei Kritik an den Begriffen und Auffassungen nicht ausgespart bleibt und auch mit falschen Vorstellungen aufgeräumt wird.

Der gesamte Band ist ein Plädoyer für eine Akzentuierung von Verbindungslinien zwischen queeren, feministischen und antirassistischen Ansätzen und für eine Beschäftigung mit den Herstellungsverfahren und Mechanismen von Heteronormativität und geschlechtlicher Eindeutigkeit unter den herrschenden politischen, ökonomischen und sozio-kulturellen Verhältnissen. Der Hinweis, dass auch Queer Theory eben Teil eines Wissenssystems ist und dieses keinesfalls herrschaftsfrei ist, bietet einen guten Abschluss und vor allem einen kritischen Ansatz, der in jeglicher Wissensproduktion mitbedacht werden sollte.

URN urn:nbn:de:0114-qn091361

Anna Voigt M.A.

Berlin

E-Mail: AnnaVoigt1@web.de

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