Queer-Feministische Übersetzungsarbeit

Rezension von Melanie Plößer

Melanie Groß, Gabriele Winker (Hg.):

Queer- | Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse.

Münster: Unrast Verlag 2007.

192 Seiten, ISBN 978–389771–302–4, € 14,00

Abstract: Wie können queer-feministische Erkenntnisse für die kritische Analyse neoliberaler Ungleichheitsverhältnisse fruchtbar gemacht werden? Auf diese Frage gibt der von Melanie Groß und Gabriele Winker herausgegebene Band Queer- | Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse überzeugende Antworten. Die im Rahmen eines Seminars an der Technischen Universität Hamburg-Harburg unter Leitung der Herausgeberinnen erarbeiteten Beiträge stellen am Beispiel des Themas „Reproduktionsarbeit“ und mit Bezug auf Möglichkeiten politischer Aktionsformen die kritisch-praktischen Potentiale queer-feministischer Theorien heraus.

Notwendige feministische Transferprozesse

Nach wie vor sehen sich queere und postfeministische Positionen dem Vorwurf ausgesetzt, für die Analyse von Ungleichheitsverhältnissen untauglich zu sein und Fragen nach politisch-praktischen Handlungsmöglichkeiten unbeantwortet zu lassen. Die Beiträge in dem von Melanie Groß und Gabriele Winker herausgegebenen und im Unrast-Verlag erschienenen Band Queer- | Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse zielen darauf ab, den Graben zwischen queer-feministischer Theorie und politischer Praxis zu überwinden und „Übersetzungsprozesse voranzubringen“ (S. 8). Queer-feministische Erkenntnisse, so die Intention der beiden Herausgeberinnen, sollen an sozio-ökonomische Themen gekoppelt werden, um die mit den fortschreitenden neoliberalen Entwicklungen einhergehenden Ungleichheiten und Ausschlüsse sichtbar zu machen sowie Impulse für die Praxis zu geben. Die Transferarbeit vollzieht sich in zwei zentralen Themenfeldern. Zum einen wird der Bereich der Reproduktionsarbeit einer (post-)feministischen Analyse unterzogen, zum anderen werden queer-feministische Denkweisen als Folie herangezogen, um politische Aktionsformen neu zu interpretieren und zu entwickeln bzw. weiterzuentwickeln.

Fokus Reproduktionsarbeit

Die drei im ersten Teil unter dem Titel „Fokus Reproduktionsarbeit“ versammelten Beiträge gehen der Frage nach, inwieweit neoliberale Entwicklungen zu veränderten Reproduktionsverhältnissen geführt haben und welche Konsequenzen diese Veränderungen für Familienmodelle und Lebensformenpolitiken nach sich ziehen. So macht Gabriele Winker in ihrem Beitrag „Traditionelle Geschlechterordnung unter neoliberalem Druck. Veränderte Verwertungs- und Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft“ mit Rekurs auf Marx‘ Arbeitswerttheorie deutlich, wie in der patriarchalen Arbeitsteilung „Geschlecht“ zur Steigerung des Mehrwerts eingesetzt wird und primär Frauen Reproduktionstätigkeiten zugeordnet werden. Vor diesem Hintergrund diskutiert die Autorin zentrale Entwicklungslinien neoliberaler Arbeitsmarktpolitik und beschreibt deren Auswirkungen auf aktuelle Geschlechterordnungen und Familienformen. Die dabei von ihr konstatierten Veränderungen von Familienmodellen verlangen nach neuen feministischen Forderungen, so nach der staatlichen Bereitstellung qualitativ hochwertiger Bildungs- und Sozialleistungen, der Eingrenzung der Erwerbsarbeit, einer Aufwertung personennaher Dienstleistungen und nach Absicherung grundlegender Bedürfnisse von Menschen.

Der Beitrag von Kathrin Ganz „Neoliberale Refamilialisierung & queer-feministische Lebensformenpolitik“ widmet sich der Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen von (queeren) Lebensformenpolitiken. Mit Bezug auf Michel Foucaults Gouvernementalitätsstudien arbeitet die Autorin eine zentrale Funktion aktueller Refamilialisierungsprozesse heraus, nämlich die der privaten Absicherung sozialer Risiken – eine Funktion, die letztlich auch nicht durch die Forderungen alternativer Lebensformenpolitiken in Frage gestellt wird. Kathrin Ganz plädiert deshalb mit Bezug auf den US-amerikanischen Aufruf „Beyond Same-Sex Marriage“ für eine Lebensformenpolitik, die über die Forderung nach Anerkennung hinausgeht, indem sie sich widerständig gegenüber Logiken der Verwertbarkeit verhält und individuelle Absicherungsmöglichkeiten sowie rechtliche Gleichstellung aller denkbaren Beziehungsmuster einklagt.

Unter dem Titel „Globalisierte Hausarbeiterinnen in Deutschland“ knüpft Kathrin Englert in ihrem Beitrag an die von Gabriele Winker aufgeworfene Frage nach neoliberalen Veränderungen im Bereich der Reproduktionsarbeit an und macht deutlich, wie bestehende Geschlechterkonflikte durch die Umverteilung der Hausarbeit auf Migrantinnen gelöst bzw. auch verdeckt werden. Die illegalisierten Fürsorgetätigkeiten von Migrantinnen wie auch ihre gesellschaftliche Nichtthematisierung dienen dazu, weiterhin dringend anstehenden Fragen zur Um- und Neuverteilung von Erwerbs- und Versorgungsarbeit auszuweichen. Die beobachtbaren Phänomene feminisierter Migration im informellen Dienstleistungssektor, die Anpassungen von Arbeitskräften an neoliberale Arbeitsverhältnisse stellen sich für Englert als komplexe Verhältnisse dar, denen es durch kritische, das heißt die Kategorien „race“ und „gender“ bedenkende Analysen, durch Skandalisierung der Asymmetrie zwischen Reproduktions- und Erwerbsarbeiten wie auch durch die Legalisierung und Normalisierung von Arbeitsplätzen als Lohnarbeitsplätzen zu begegnen gelte.

Politische Aktionsformen

Mit welchen Strategien die Arbeitssituationen von Migrantinnen aktuell schon thematisiert und bearbeitet werden, erläutert Dorothee Greve in ihrem Beitrag „Migrantinnen in der Hausarbeit und feministischer Widerstand“ und führt damit gleichzeitig in den zweiten Fokus des Sammelbandes ein, in den Bereich der politischen Aktionsformen. Um angesichts der Zuspitzung geschlechtsspezifischer und ethnisierter Arbeitsteilung konkrete Handlungsperspektiven aufzeigen zu können, vergleicht die Autorin die Situation von Migrantinnen in der Haushaltsarbeit mit den von Norbert Elias als nicht starr beschriebenen Machtbalancen zwischen Etablierten und Außenseitern. Dieser Ansatz wird als Folie benutzt, um Abwehrhaltungen dominanter Positionen, aber auch widerständige Potentiale feministischer Ökonomiekritik in den Blick zu rücken. Mit Bezug auf drei politische Initiativen werden konkrete Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Migrantinnen unterbreitet, so die Forderung nach einer kritischen Analyse der Organisation von Reproduktionsarbeit, nach Beratungs- und Informationsangeboten, nach einer Verbesserungen der rechtlichen Situation und nicht zuletzt die Aufforderung zur kritischen Reflexion eigener rassistischer Abwehrmechanismen.

Wie bestehende Handlungsstrategien durch eine queer-feministische Analyse erweitert und differenziert werden können, zeigt Stefanie Bentrup in ihrem Aufsatz „Feministisches Queer-Lesen der Debatte um ein bedingungsloses Grundeinkommen“. Die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen wird von der Autorin „queer“ gelesen, das heißt nach blinden Flecken, nach Ausschlüssen und Normen durchsucht. Als Ergebnis der kritischen Lektüre zeigt sich, dass die Strategie des bedingungslosen Grundeinkommens Missstände verbessern und Gesellschaftsformen transformieren will, dass feministische Interessen dabei aber marginalisiert werden, so etwa dadurch, dass Fürsorgearbeiten in den Bereich des Privaten verlagert werden und das Ideal des autonomen, aktiven Subjekts angestrebt wird. Auch bleibe mit der Forderung eines bedingungslosen Grundeinkommens „für alle“ verschleiert, welche impliziten Ein- und Ausschlussregeln sich hinter der Bezeichnung „alle“ verbergen. Bentrup fordert deshalb die kritische Reflexion impliziter Normen in dieser Diskussion und plädiert gleichzeitig dafür, die Forderung nicht als Universallösung, sondern als eine Strategie neben anderen (antikapitalistischen, feministischen, queeren und antirassistischen) Aktionsformen zu verstehen.

Eine queere Analyse queerer Positionen beschreitet Christiane Wehr in ihrem Aufsatz „Queer und seine Anderen. Zu den Schwierigkeiten und Möglichkeiten queerer Bündnispolitik zwischen Pluralismusansprüchen und Dominanzeffekten“. Wehrs Anliegen ist es, Normierungen und Ausschlüsse innerhalb queerer Communitys aufzuspüren. Ihre kritische Auseinandersetzung mit queeren Positionen macht deutlich, dass queere Selbstverständnisse Gefahr laufen, den eigenen Anspruch auf fluide, vielfältige Identitäten durch die Ausschlüsse von Migrantinnen zu sichern und bestehende Dominanzkulturen zu reproduzieren. Eine Reflexion der Begrenztheit und Kontextabhängigkeit – eben auch queerer – Positionen wie auch die unablässige Infragestellung der Normen von (neuen) Repräsentationsformen wird vor diesem Hintergrund als notwendig erachtet.

Der Beitrag von Melanie Groß „Feministischer Widerstand aus post-/queer-/linksradikal-feministischer Perspektive“ zeigt abschließend die Vielfältigkeit feministischer Widerstandspraxen auf. Dass sich feministische Widerstandsformen nicht in einem „Entweder-oder-Verhältnis“ (z. B. entweder Identitätspolitik oder Bündnispolitik) entgegenstehen müssen, verdeutlicht ihre Analyse der Selbstverständnisse und Handlungsformen von feministisch aktiven Gruppen eindrucksvoll. Ihre Auswertung von Gruppendiskussionen zeigt, dass die unterschiedlichen Handlungsformen und Ziele in Abhängigkeit von drei zentralen Machtformen, nämlich „Normativität“, „Zuschreibung“ und „Wirkmächtigkeit“, zu verstehen sind, gegen die die Akteurinnen und Akteure intervenieren wollen. Diese Widerstandspraxen schließen sich gerade nicht aus, sondern können ganz im Gegenteil als produktive Gleichzeitigkeiten begriffen werden.

Fazit

Der Band Queer- | Feministische Kritiken neoliberaler Verhältnisse macht deutlich, dass ein postmodern und/oder queer informierter Feminismus weder Ungleichheitsverhältnisse aus den Augen lässt noch praxisfern ist. Ganz im Gegenteil: Der von den Herausgeberinnen intendierte Übertrag queer-feministischer Positionen befördert komplexe, weitsichtige Analysen sozialer und ökonomischer Ungleichheitsverhältnisse, im Zuge derer die vielfältigen Verbindungen unterschiedlichster Differenzkategorien berücksichtigt, blinde Flecken politischer Praxen reflektiert sowie vielschichtige Perspektiven auf Handlungssubjekte, deren Selbstverständnisse und Handlungsformen profiliert werden können. Gleichzeitig offenbart sich damit auch das ganz eigene Potential eines Transfers queer-feministischer Positionen: Es liegt nicht in dem Entwurf neuer, besserer Praxen, sondern in einem aufmerksamen, erweiternden Wi(e)derlesen bestehender Diskurse und Politiken, einem Aufspüren von verdeckten Normen und Ausschlüssen – ein unbestreitbar kritisches Potential.

URN urn:nbn:de:0114-qn091254

Prof. Dr. Melanie Plößer

Fachhochschule Kiel/Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit, Homepage: http://www.fh-kiel.de

E-Mail: melanie.ploesser@fh-kiel.de

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