Über die wissenschaftlich begründete Normierung von Menschen. Sozialwissenschaftliche Grundlagenforschung zum Identitätsdiskurs

Rezension von Katja Strobel

Ingrid Jungwirth:

Zum Identitätsdiskurs in den Sozialwissenschaften.

Eine postkolonial und queer informierte Kritik an George H. Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman.

Bielefeld: transcript Verlag 2007.

407 Seiten, ISBN 978–3–89942–571–0, € 33,80

Abstract: Identitätsdiskurse in den Sozialwissenschaften sowie in sozialen Bewegungen werden auf die Machtverhältnisse hin untersucht, die sie stabilisieren oder in Frage stellen. Breiten Raum nimmt die kritische Rekonstruktion der Entstehung der Rede von ‚Identität‘ im Kontext der Rede vom ‚autonomen Subjekt‘ ein; deren ernüchterndes Ergebnis lautet, dass beide als wissenschaftliche Begründung gesellschaftlicher Normen dienen. Auch Ansätze und Bewegungen, die die gesellschaftlichen Verhältnisse, z. B. in Bezug auf Nation oder Geschlechterverhältnisse, kritisieren, bleiben oft den normierenden Kategorien verhaftet. Insgesamt eine sehr gründliche, reflektierte und strukturierte Studie, die die Hintergründe der hochaktuellen Identitätsdebatten re- und dekonstruiert.

Ausgangspunkte

Für Auffassungen von modernen Gesellschaften und Subjektivitäten ist feministische wie antirassistische Kritik am Menschen als ‚autonomes Subjekt‘ nicht mehr weg zu denken. Ingrid Jungwirth liefert mit ihrer wissenschaftshistorischen Untersuchung zum Identitätsbegriff einen wichtigen Beitrag zu einem Verständnis von Subjektivität, das den Anspruch auf ‚Unschuldigkeit‘ aufgibt und die Gewordenheit von Begriffen und die darin verwobenen Herrschaftsverhältnisse reflektiert.

Sie nimmt eine epistemologische Diskursanalyse vor, die Wissenstheorie und Wissenspolitik umfasst: Unterscheidungen von Begriff und Geschichte, Text und Kontext werden grundsätzlich in Frage gestellt.

Die Autorin geht von den Fakten aus, dass einerseits die Rede von Identität im Alltag, in der Kulturproduktion, in Politik und Wissenschaft explosionsartig zunimmt und andererseits der Identitätsbegriff als deskriptive und analytische Kategorie hinterfragt wird, beispielsweise durch poststrukturalistische Autor/-innen wie Edward Saïd und Judith Butler, aber auch im Kontext von sozialen Bewegungen, die sich in ihrer Kritik auf die Möglichkeitsbedingungen der Rede von Identität beziehen.

Jungwirth legt den Schwerpunkt ihrer Analyse auf die historische Hervorbringung des Identitätsbegriffs. Die Bedingungen für die Diskursivierung des Konzepts Identität werden rekonstruiert, indem sozialwissenschaftliche Problematisierungen von Identität diskursanalytisch untersucht werden. Zentral sind dabei die Arbeiten von George Herbert Mead, Erik H. Erikson und Erving Goffman, die den sozialwissenschaftlichen Diskurs zu „Identität“ und „Selbst“ entscheidend geprägt haben. Sie stehen für die ‚Wissenschaftlichkeit‘ des Begriffs und waren dadurch entscheidend an seiner Verbreitung beteiligt.

Außer Texten der drei genannten Autoren werden auch nicht-sozialtheoretische Texte, die für die Institutionalisierung sozialwissenschaftlicher Disziplinen von Bedeutung sind, analysiert.

Ausgangspunkt für die Diskursanalyse sind feministische, postkoloniale und queer-theoretische Ansätze, die Kritik am Gebrauch des Identitätsbegriffs formulieren. Dabei stellt postkoloniale Kritik den Bezug zwischen Kolonialismus als Herrschaftsverhältnis und europäischer Geschichte –bzw. der Geschichte sogenannter „westlicher“ Industrieländer – heraus, indem europäischer Kolonialismus als Bedingung für die Entstehung der „Moderne“ aufgezeigt wird. Ansätze der Queer-Theorie und -Politik, auf die Jungwirth sich bezieht, entstanden v. a. in den USA in der Auseinandersetzung um Homosexualität als unhinterfragter Normalisierung. Kritik an Lesben- und Schwulen- sowie an den Frauenbewegungen wird in diesen Ansätzen verbunden – generell richten sie sich gegen essentialisierende Wirkungen von Identitätspolitiken und gegen Ausgrenzungen und Ausschlussmechanismen. Gegensätze wie männlich/ weiblich, homosexuell/ heterosexuell sowie Rassenkonstruktionen werden zurückgewiesen und ihre gegenseitige Abhängigkeit aufgezeigt.

In der Untersuchung werden die Arbeiten von Mead, Erikson und Goffman daraufhin befragt, wie der rekonstruierte Diskurs in ihnen hervorgebracht wird, „indem untersucht wird, ob und auf welche Weise die problematisierten Gegensätze auch diese Texte organisieren und strukturieren.“ (S. 69) Ziel der Arbeit ist es, aus der Perspektive von postkolonialer und queer-politischer Kritik zu zeigen, „dass Gesellschaftlichkeit und gesellschaftliches Handeln in westlichen (Post-)Industrienationen durch Gegensätze wie u. a. männlich/ weiblich, hetero/ homo, modern/ vormodern, Weiß/ Schwarz oder Weiß/ nicht-Weiß konstituiert werden, die im Rahmen dieser Ansätze problematisiert werden.“ (S. 11) Wichtig ist dabei auch die gegenseitige Bedingtheit postkolonialer und queer-politischer Ansätze.

Konzeption

Jungwirth schlägt einen großen Bogen von den „Historische[n] Voraussetzungen für die Entstehung des sozialwissenschaftlichen Identitätsbegriffs“ (Kapitel 3) über das „Selbst als Spiegel der Gesellschaft“ (Kapitel 4), „‚Identität‘ versus Krise: Zur Entstehung sozialwissenschaftlicher Identitätsmodelle“ (Kapitel 5), „Die Infragestellung vorherrschender Normen, oder: Anspruch auf den Status des Menschen“ (Kapitel 6) bis zu „Rollen und Darstellungen“ (Kapitel 7). Die Arbeit ist sehr übersichtlich gegliedert, was bei einem 400 Seiten umfassenden Werk nicht zu unterschätzen ist. Die Autorin formuliert Erkenntnisvoraussetzungen, -wege und -schritte sehr deutlich. Das vierte und sechste Kapitel sind jeweils mit einem Resümee versehen, und Kapitel 8 fasst die Ergebnisse insgesamt zusammen. Auch wenn dadurch einiges wiederholt wird, ist dies zum Verständnis sehr hilfreich, auch da die Sprache gerade der einführenden Kapitel für Nicht-Sozialwissenschaftler/-innen eher schwere Kost darstellt.

Entstehung der Rede von „Identität“

Jungwirth geht davon aus, dass die Diskursivierung von ‚Identität‘ erst ab Mitte des 20. Jahrhunderts u. a. in den Sozialwissenschaften stattgefunden hat. Sie begründet dies durch bestimmte historische Ereignisse wie die Festigung von Definitionen nationaler Identitäten nach den zwei Weltkriegen, der damit korrespondierenden Definition von Flüchtlingen aufgrund von ‚nationaler Herkunft‘ durch die UNO und das Aufgreifen von Identitätsdefinitionen in sozialen Bewegungen.

Die Frage nach Identität wird im Rahmen des Topos „autonomes Subjekt“ entwickelt, dessen Herstellungsmodi in der Arbeit untersucht werden. Die Autorin erörtert die heute vorherrschenden Identitätsmodelle im Zusammenhang mit dem Begriff des „Nationalcharakters“ sowie in Verbindung damit die Begriffe „gender role“ und „Jugend“ – und zwar im Kontext der Debatte um die Differenz zwischen pränataler Veranlagung und nachgeburtlicher Prägung. Charakteristisch dafür ist der Übergang von Vererbungslehren hin zu Theorien, in denen Unterschiede in Geschlecht und Nation als erlernt thematisiert wurden. Dadurch stand die Möglichkeit im Raum, Persönlichkeit, Charakter und Identität wissenschaftlich zu untersuchen. Allerdings zeigt die Analyse, dass „mit dem Entwurf von Identitätsmodellen die Herstellung gesellschaftlich vorherrschender Normen als wissenschaftlich begründeten und begründbaren Normen stattfand.“ (S. 365)

Zur Infragestellung vorherrschender Normen

Mit dieser sozialwissenschaftlichen Thematisierung von ‚Identität‘, so die überzeugende These Jungwirths, wurden gesellschaftlich vorherrschende Normen in wissenschaftlich begründete umdefiniert: „Das ‚autonome Subjekt‘ wird durch die Übereinstimmung einer sozialen Akteurin oder eines sozialen Akteurs mit den Anforderungen allgemein anerkannter Normen hergestellt, indem sowohl die betreffende Norm als auch die Unterwerfung unter diese unsichtbar wird.“ (S. 305)

Aus politischer und sozial-ökonomischer Perspektive hat dies bedeutende Konsequenzen. Die Autorin stellt die These auf, „dass auf der Schwelle der Wissenschaftlichkeit des sozialwissenschaftlichen Diskurses vom ‚autonomen Subjekt‘ soziale Differenzen als integrierte Differenzen hervorgebracht werden, indem sie in die Form von Identitätsmodellen und Personenkategorien gebracht werden.“ (S. 305 f.) In der Rede von Identität wandelt sich soziale Ungleichheit in einen Unterschied der Identitätsentwicklung, woraus sich schließen lässt, dass die Rede von Identität hierarchisch strukturierend ist.

Dekolonisation und soziale Bewegungen in westlichen Industrienationen ermöglichten nach Jungwirth die Problematisierung von Normen in ihrer Machtförmigkeit. Die Rede von Identität als Effekt von Normalisierung zeigt sich z. B. in problematischer Weise im Gebot von Selbstbefragung und Selbstentwurf, „das sozialen AkteurInnen unter einem Regime der Normalisierung auferlegt wird, um sie an einer instrumentellen Vernunft auszurichten.“ (S. 363) Daraus folgt für die Theoriebildung die These, „dass auch die sozialwissenschaftliche Rede von Identität zur Reproduktion dieser Norm der Selbstbefragung und des Selbstentwurfs beiträgt, indem sie sie als wissenschaftlich begründet hervorbringt.“ (S. 363)

Politische Strategien

Als politische Möglichkeiten zur Veränderung nennt Jungwirth aus der Sicht von queer-politischen und feministischen Ansätzen Strategien der Denormalisierung und Enthierarchisierung, z. B. ein „Degradierungsverbot“. Auf diese Weise könnte den Anforderungen nach Flexibilisierung und Individualisierung mit politischen Formen begegnet werden, die dem neuen Modus der Hierarchisierung durch Normalisierung standhalten. Leider führt sie diesen Vorschlag nicht konkreter aus.

Des Weiteren plädiert Jungwirth in ihrer Schlussbemerkung für präzise Fragestellungen, z. B. zu gesellschaftlicher Verteilung von Arbeit und politischer Organisierung, die ihrer Ansicht nach weiter führen als Debatten über Existenz und Ursprungserzählungen – und damit als die Fortsetzung der von ihr in ihrer Fragwürdigkeit ‚entlarvten‘ Identitätsdebatte. Dem ist unbedingt zuzustimmen. Um diese Aufgabe anzugehen, Fragen von Normalisierung in Zusammenhang mit den genannten dringenden politischen und ökonomischen Fragestellungen zu bearbeiten, bietet die Arbeit eine hervorragende Grundlage.

URN urn:nbn:de:0114-qn091331

Katja Strobel

Institut für Theologie und Politik, Homepage: http://www.itpol.de

E-Mail: strobel@itpol.de

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